CRESC … Biennale für
aktuelle Musik Frankfurt Rhein Main, 28.02 – 07.03.2020
Fast machines,
großes Finale der cresc … biennale 2020 im hr-Sendesaal Frankfurt, 07.03.2020
| hr-Sinfonieorchester, Baldur Brönnimann (musikalische Leitung) Fotos: hr/Ben Knabe | 
Schnelle Maschinen oder kreatives Menschenwerk
Eine Synthese zwischen Mensch und Maschine, zwischen Musik von Menschen mit echten Instrumenten und elektronisch erzeugter Musik, menschengemacht immer noch, und dennoch dem ewigen Wunsch nachhängend, einmal vollständig den Menschen ersetzen zu können. Das Schlusskonzert im sehr gut besetzten hr-Sendesaal sollte in dieser Hinsicht neue Einsichten vermitteln und bot Kompositionen vom US-Amerikaner John Adams (*1947) mit Short Ride in a fast machine (1986) und Harmonielehre (1985), sowie eine Uraufführung des Briten Matthew Herbert (*1972) mit Make, Waste bzw. Black and White, ein Auftragswerk für cresc … biennale für aktuelle Musik Frankfurt Rhein Main 2020 und Gavin Bryars´ (*1943) legendäres The Sinking of the Titanic (1969/72) in der überarbeiteten Version von 1985.
John Adams,
mittlerweile eine Legende in der Musikwelt, versteht sich definitiv nicht als
Minimalist in der Phalanx von Terry Riley, Steve Reich oder La Monte Young.
Nein, er ist ein profunder Kenner der musikalischen Tradition, hat bei Leon
Kirchner, ein Schüler Arnold Schoenbergs, studiert, und weiß die Partituren Gustav
Mahlers, Richard Strauss´, Richard Wagners sowie Claude Debussys zu schätzen. Insofern
changiert seine Musik zwischen Tonalität und Atonalität, zwischen schräg und
romantisch, lyrisch und ausdrucksstark, immer aber ist sie energetisch, vorwärts
drängend, sinfonisch und extrem farbenreich. Auch wenn sie sich weitgehend im
minimalistischen Genre aufhält, so sie doch durchsetzt mit melodischen Elementen
und harmonischen Bezügen zur europäischen Musik des späten 19. Jahrhunderts. 
| hr-Sinfonieorchester, Baldur Brönnimann (musikalische Leitung) | 
Musik, die Gefühle und Gefühltes evoziert
Short Ride in a fast
machine könnte man auch als Fanfare für das Maschinenzeitalter bezeichnen.
Ein wilder Parforceritt mit einem Automobil durch die amerikanische Prärie oder
die Bergwelt der Rocky Mountains. Nicht von ungefähr gehört diese vierminütige
Spritztour durch bizarre Landschaften, atemberaubenden Kurven und an gefährlichen
Abgründen vorbei seit ihrem Bestehen zum Publikumsliebling dieses vielseitigen
Komponisten. So auch im hr-Sendesaal, der gleich vor Begeisterung tobte. 
Der Schweizer Baldur
Brönnimann, Chefdirigent der Basler Sinfonietta, demonstrierte gleich seine
anerkannte „Machtstellung“ über das fast 100-köpfige hr-Sinfonieorchester – das
als Vorwegnahme der Uraufführung von Matthew Herberts Black and White.
Harmonielehre,
fast zur gleichen Zeit entstanden, hat starke Bezüge Arnold Schoenbergs
gleichnamigem Werk, das im Jahre 1911 den quasi wissenschaftlichen  Einstieg in die Dodekaphonie, bekannt als  Zwölftonmusik, einleitete. Nicht dass er zum Schoenberg
Anhänger avancierte ist. Adams nahm seine Erfahrung damit zum Anlass, sich über
die Tonalität und ihre Bedeutung in der Moderne auseinanderzusetzen. Harmonielehre als Ergebnis dieses
Prozesses wurde eine dreiteilige „Parodie“ so Adams selbst: „Ich ergriff und
umfasste alles von jener Harmonie, die anzurühren streng verboten war.“ Und
heraus kam ein komplex durchdachtes dreisätziges Orchesterwerk mit einer
Klangsprache der Spätromantik: Mit spannungsgeladenen Harmoniefolgen, großen solistischen
melodischen Linien  von Bratsche, Posaune,
Querflöte und Violoncello mit flirrendem Klangteppich des Orchesters, langen
Bögen und liedhaften Fortspinnungen. Vor allem der zweite Satz, eine Elegie mit
Rückbezügen auf die ewige Verwundung von König Anfortas (Richard Wagners Parsifal lässt grüßen) glänzte durch
entzückende Klangfarben, verzögernden Skalenspielen, einem furchteinflößenden
Trugschluss mit schmetternden Posaunenklängen und einem berückenden Trauermarsch,
der in einem dreifachen Pianissimo der Streicher endet. 
Angeblich soll der dritte Satz seiner Tochter „Quackie“
gewidmet sein. Atmosphärisch in höchsten Tönen beginnen Piccolo-Flöten, Harfen
und Celesta, begleitet von sechs Xylophonen, Marimbas, Glockenspielen und
Vibraphonen. Ein Arpeggienspiel der Violinen lässt diesen musikalischen Teil im
Sechsachteltakt, changierend zwischen crescendo und decrescendo, zu einem
bewegenden Steigerungslauf anwachsen. Ähnlich Maurice Ravels Bolero baut sich dieses Finale in
Lautstärke und Instrumenteneinsatz stetig auf bis das gesamte Orchester mit
Pauken, Trompeten und schmetternden Fanfaren der Posaunen in einen ekstatischen
Höhepunkt gipfeln. Fantastisch und mitreißend.
Adams kann man nicht in einen Musikstil einordnen, aber man
kann ihn durchaus als Solitär bezeichnen, dessen Musik individuellen Charakter ausstrahlt
und eines kommuniziert: Gefühle und Gefühltes. Die Maschine spielt bei ihm keine
Rolle, der Mensch steht im Mittelpunkt.
| hr-Sinfonieorchester: Uraufführung von Black and White (Matthew Herbert), links:Baldur Brönnimann, Mitglieder des Orchesters am Drucker und am Dirigentenpult (Fotos: hr/Ben Knabe) | 
Schwarz und weiß ist keine Farbe
Make, Waste, hier
als Black and White betitelt, ist ein
Auftragswerk des britischen Klangentdeckers und Klangsammlers Matthew Herbert. Das preisgekrönte Multitalent
machte bereits Furore mit seinem 10-Punkte Manifest, das darin besteht, gewisse
Sounds unbedingt zu meiden. Dazu gehört der Ausschluss von Synthesizern,
Computern,  das Sampling fremder Musik
und das Verbot elektronisch bearbeiteter Musik von herkömmlichen, „echten“ Instrumenten.
Sein Metier ist es, und darin ist er vergleichbar mit dem legendären Pierre
Schaeffer,  „alltägliche oder gefundene
Klänge in elektronische Musik zu verwandeln“.
Make, Waste, ein Stück
für Orchester (im Sendesaal 37 MusikerInnen), Drucker und Schredder behandelt
den Dialog zwischen Dirigent (Baldur
Brönnimann), MusikerInnen und „anonymen“ Drucker und geht der Frage nach,
was Autorität und Macht in der Musikkultur bedeutet.
Auf der Bühne steht ein Drucker. Der Dirigent erscheint,
entnimmt dem Drucker eine Kopie, liest und ruft zunächst einen, dann mehrere MusikerInnen
zu sich. Allgemeine Verwirrung scheint zu herrschen. Dann tritt ein Percussionist
ans Dirigentenpult und schlägt auf einem Wood-Block ein regelmäßiges Zeitmaß. Erste
unzusammenhängende Töne aus dem Orchester erklingen. Der Dirigent geistert
scheinbar hilfesuchend durch die Reihen ehe er das Kommando übernimmt. Das musikalische
Chaos beginnt sich unter seinen Händen zu ordnen. Einfachste Klangreihen im
Unisono, dann in Terzen und Skalen folgen. Ein gemeinsamer Ton, es könnte ein G
sein, eint schlussendlich alle und führt sie aus dem chaotischen kakophonen
Tongewirr heraus. Immer wieder, nicht zu vergessen, gehen einzelne
Instrumentalisten an den Drucker und entnehmen Notenkopien, auf denen das
weitere Prozedere nachzulesen ist. 
In einem zweiten Teil sind dann alle Mitglieder des
Orchesters mit Blättern versorgt. Sie rascheln damit und
entwickeln unter dem Gelächter des Publikums eine ganz neue „Musik“. Sie knäulen,
reißen, schlagen und werfen. Wedeln und schwingen wie Cheerleader kleine
Papiertanzwedel. Amüsant und witzig mit einem ernsten Hintergrund. Denn Herbert
will neben der Machtfrage auch die Ressourcenfrage in den Raum stellen. Nicht
allein die archaische Rolle des Dirigenten, sondern auch der beträchtliche Verbrauch
von Papier, Material und technischen Geräten steht zur Debatte. Inwieweit sind
wir heute von den Maschinen abhängig, ohne uns dessen darüber bewusst zu sein? 
Ein Werk very britisch: Der Komponist versteht sich auf die
Schippe zu nehmen, ohne allerdings den Ernst seines Anliegens aus den Augen zu
verlieren. Jedenfalls galt ihm, der persönlich anwesend war, der
enthusiastische Beifall des Publikums.
| links vorne: Baldur Brönnimann, rechts vorne: Matthew Herbert, Mitglieder des hr-Sinfonieorchesters | 
Eine unwirkliche Szenerie vor dem Untergang
Das Finale des Finales gehörte der sinkenden Titanic, die am
12.04.1912 nach einem Zusammenstoß mit einem gewaltigen Eisberg im Nordatlantik
sank und über tausend Menschen in den Tod riss. Augenzeugenberichten zufolge soll ein
Streichsextett den Choral Näher mein Gott
zu dir, ein Gospelsong, andere sprechen vom Jazzklassiker Autumn, stoisch bis zum endgültigen
Untergang des Schiffes gespielt haben.
Gavin Bryars, von
Hause aus Jazzmusiker mit Bezügen zu John Cage und Brian Eno, hat daraus eine
Hymne konstruiert, die diesen unglaublichen Vorgang thematisiert und die
unwirkliche Szenerie musikalisch inszeniert. 
Dazu befinden sich ein Streichquartett, ein Violoncello Trio
sowie sechs Bläser, ein Pianist und ein Elektroniker auf der Bühne. Alles
beginnt mit diversen Schiffsgeräuschen bis ein offensichtlicher Zusammenstoß den
Einsatz des Streichquartetts einleitet, merkwürdig stumpf von Perkussion,
Fagott und Tamtam untermalt. Man spielt eine Mischung aus Choral und Jazz-Song,
langsam, bedächtig, ohne Hast und ängstlicher Erwartung. Zwischendurch, während
sich die Melodie pausenlos fortsetzt, gehen drei Perkussionisten ins Publikum
und schlagen auf Wood-Blocks. Gemeint ist hier wohl ein Morsecode. Es könnte
aber auch ein Eindringen des Wassers in das Schiff bedeuten. Das Ganze
wiederholt sich drei Mal. Mal hört man eine weibliche Stimme, selbstvergessen
schwadronierend, dann wieder eine männliche Stimme, die das Ende der Titanic
und seines eigenen Lebens bespricht. 
| Schlussapplaus nach The Sinking of the Titanic (Brian Bryars), vorne: Baldur Brönnimann, Mitglieder des hr-Sinfonieorchesters (Foto: hr/Ben Knabe) | 
Ein Requiem muss nicht Trauer bedeuten
Alles in allem gleicht diese Reminiszenz eher einem Requiem
denn einer Hymne. Die gebetsmühlenartigen Wiederholungen der immer gleichen
Melodie, gefühlte hundert Mal, dehnen die fünf Minuten – so lange soll das
Ensemble gespielt haben, bis es im eindringenden Wasser versank – auf gut 40
Minuten aus. Ein Trauerspiel, das zwar die Ewigkeit des Klangs beschwor (auch
unter Wasser geht die Musik nicht aus), aber auch die Geduld des Hörers stark
strapazierte. Dennoch, die traurige Schlusskantilene der Bassklarinette und das
Verwehen der Kinderstimmen ließ vermutlich einige Tränen im Publikum rollen. 
War es nun die Trauer über das Ende dieser insgesamt doch
sehr interessanten, diskurswürdigen und vielseitigen cresc … biennale 2020 oder vielleicht doch die nachträglichen
Trauer über das Schicksal der 1495 Toten und ihrer Angehörigen? 
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