Freitag, 13. März 2020


Happy New Ears 2019: Portrait Mathias Spahlinger (*1944), Werkstattkonzert mit dem Ensemble Modern im Foyer der Oper Frankfurt, 12.03.2020

Mathias Spahlinger (Foto: Mathias Spahlinger)

Richtiges Bewusstsein in der Musik

Enno Poppe (*1969) hat sich für diesen Abend auf eigenen Wunsch seinen Mentor und Komponistenfreund Mathias Spahlinger (*1944) ausgesucht, um dem Publikum die Musik des Grenzgängers, Philosophen, Marxisten und Dialektikers näher zubringen. Gleich ein furioser Start in das höchst emotionale Konzert mit furioso für Ensemble (1991/92).

Es beginnt mit Streichern, Harfe und Klavier. Ein punktuelles Gegeneinander. Pizzicati im Flageolett, dann  energisches Reißen an den Saiten und Stoßbewegungen. Alles spröde, ohne scheinbare Zusammenhänge und doch spannungsgeladen. Nach fast zehn Minuten setzen die Bläser ein: Oboe, Saxophon, Klarinette Trompete und Fagott. Positionswechsel der InstrumentalistInnen, Geigen und Posaune und schließlich Piccoloflöte ergänzen das Ensemble auf vierzehn MusikerInnen. Drei Teile des Ganzen schälen sich heraus, loten die Tiefen der Instrumente (die Bläser spielen neben ihren Instrumenten auch die Mezzo, Bass- und Kontrabassversion) wie die höchsten Höhen aus – bis zum heftigen Angriff auf Ohren und Sinne.

Mikrotonverschiebungen und Obertonüberblasungen in schrillen Frequenzbereichen wie „furiante“ Rhythmus Verschiebungen  gaben dem 20-minütigen Stück eine Negation des Widerstandes gegen alles Herkömmliche und Konventionelle. Ganz im Sinne Hegels, Spahlingers Lieblingsphilosoph, wonach das Wirken zur absoluten Freiheit „negatives Tun“ sei. Sie sei der Furie des Verschwindens verschrieben, denn kein Tun, kein Werk kann die allgemeine Freiheit hervorbringen. Sie ist immer der Dialektik des Widerspruchs unterworfen.

Musik als Gegendarstellung des Bestehenden

Spahlinger bezeichnet denn auch dieses Werk als „kalte Allgemeinheit, harte Sprödigkeit und eigensinnige Punktualität“. Es sei „sprödestmöglich“, ohne Amalgam der einzelnen Teile. Dennoch schaffe es, unbewusst, eine eigene Kategorie des Sinns, eine Art Gegendarstellung des Bestehenden, herkömmlich Konventionellen. Spahlinger spricht von falschem Bewusstsein, mit Hinweis auf Marxens Mehrwerttheorie, vom ungerechten Tausch und der Ware Arbeitskraft, die den Mehrwert schafft, aber den Nichtbesitzern der Produktionsmittel das falsche Bewusstsein vermittele: das des „Arbeitnehmers“ statt des „Arbeitgebers“, der er im eigentlichen Sinne ist.

Spahlinger betont unablässig, dass es ihm darauf ankomme, durch Destruktion des Alten, der Tradition, durch die permanente Negation das Herkömmliche sichtbar, bewusst und im Sinne des Neuen auflösbar zu machen. Musikalisch bedeutet dies die unendliche Variation, die Destabilisierung des Formellen und die Aufeinanderfolge des Historischen hörbar und sogar (wie in ausnahmslos ausnahmen) sichtbar zu machen. Immer wieder verfällt Spahlinger, abweichend von den tapferen Fragen Poppes, in philosophische und politische Ausschweifungen. So in die Französische Revolution und ihre Zerbrechen des Alten, oder zu Georg Büchners Dantons Tod  und dem Satz: „Wir sind das Volk!“ – „Hat Volkes Wille recht, wenn es sich einen Diktator wählt“, fragt er, wobei ihm die Tränen kommen.
 
Mathias Spahlinger (Foto: Mathias Spahlinger)

Des Volkes Wille in der Musik

Spahlinger kann kaum klare Gedanken fassen. Dialektisch gesprochen (allerdings verwendet Spahlinger diesen Begriff nicht ein einziges Mal) kann keine Entscheidung, keine Tat von sich behaupten, richtig zu sein. Die Negation der Negation liegt in der Natur der Dialektik, die Reflexion und kritische Hinterfragung allen Tuns in ihrem Wesen. Von daher muss jegliche Alternativlosigkeit in ihrem Sinne tödlich ja verheerend sein. Spahlinger scheint das Dilemma des gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurses heftig zu bewegen, ja seine Seele ist zutiefst bewegt. Enno Poppe ist es zu verdanken, immer wieder auf sein musikalisches Konzept, seine musikalische Idee zurückzukommen, was ihm allerdings nur punktuell gelingt.

Abwendung von Purismus und Stil, dafür „Signalcharakter“

Das Solowerk  ausnahmslos ausnahmen für Drumset (2013) gehört denn auch in diese Phalanx der Destruktion des Alten, der analytischen Herauskristallisation des Herkömmlich in die Transformation eines Neuen, der Zusammensetzung der Teile in das nie zu erreichende, aber zukunftsweisende Ganze. 
Der seit 2000 zum Ensemble Modern gehörende und seit Juli 2019 zum festen Mitglied avancierte Perkussionist, David Haller, spielte auf einem Drumset, das, so Spahlinger, erfolgreichste Instrument seit Anfang des 20. Jahrhunderts, eine 24-minütige „Opposition zur Marschmusik“. Spahlinger hat darin ausnahmslos alle Schlagfiguren verarbeitet, die ein Drummer beherrschen sollte. Poppe sprach gar von der Schlagschule für Anfänger bis zum Fortgeschrittenen. Tatsächlich sollte das Stück die "Drumset-Seligkeit" im Sinne von "Interkulturalität" überwinden. Es sei „eine Absage an die stilistische Reinheit“, meinte der Komponist, eine kritische Abwendung von Purismus und Stil. Tatsächlich wirkte dieses Werk eher fragmentiert und in seine Teile aufgelöst, als Zusammenhänge herzustellen.

Eine Dekonstruktion der Rhythmen, eine Auflösung der Konventionen bis zum abschließenden, minutenlangen Wirbel auf der großen Trommel. Eine Steigerung zwar vom Einfachen zum Komplexen, vom  Leichten zum Schwierigen,  nie aber in einem Guss oder in rhythmischer Stabilität. Dafür in einer Körperlichkeit, die schwierigste Passagen ohne sichtbare Anstrengung erscheinen ließ und dennoch die gewaltige Anstrengung von Reflexion und Ableitung spürbar hörbar machte.

Ensemble Modern (Foto: Vincent Stefan)

Musik als „Deutlichmacher von Wahrheit“

Ein spannender Werkstattabend mit allerdings großen Fragezeichen: Spahlingers Versuch der Neuen Musik eine philosophisch-politische Dimension zu verleihen, indem sie, seiner Definition nach, das Verhältnis der Teile zum Ganzen verändert und in neuer Perspektive Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges reflektiert, ist insofern nachvollziehbar, als er Neue Musik als Stachel oder als kritischer Reflex auf das Alte, Herkömmliche, Traditionelle versteht. Falsches Bewusstsein allerdings in prinzipiell vernunftlose Musik einbinden zu wollen, fällt schwer, wie er auch nicht in der Lage war, musikalisch zu belegen, warum gerade seine Musik falsches Bewusstsein sichtbar oder hörbar machen sollte. Allein es bleibt der von ihm geforderte „Signalcharakter“, Musik als Deutlichmacher von Wahrheit.

Wobei wir wieder bei der Philosophie landen. Wahrheit sollte grundsätzlich Teil der Kunst selbst sein, denn jede wirkliche Kunst ist Ausdruck der Wahrheit. Spahlingers Werk ist zumindest der Versuch, diesem Anspruch gerecht zu werden. Nicht von ungefähr gab er furioso das Motto aus Hegels Phänomenologie des Geistes: „Kein positives Werk noch Tat kann also die allgemeine Freiheit hervorbringen; es bleibt nur das negative Tun; sie ist nur die Furie des Verschwindens.“ Spahlinger lebt diesen Satz in seiner Musik, die allerdings viel Material zur Diskussion bietet.

Mathias Spahlinger (Foto: Mathias Spahlinger)

Das Ensemble Modern verstand es unter der bewundernswerten und faszinierenden Leitung von Enno Poppe wieder einmal überzeugend, der sperrigen, spröden, dekonstruierten, systembrechenden und mathematisch berechnenden Musik Leben und Zuversicht einzuhauchen, der beabsichtigten Negativität einen Tick positive Wahrheit mitzugeben. Wie auch immer das zu verstehen ist.


In eigener Sache: Übrigens mein letzter Artikel bis zum Ende der Corona-Paranoia. Alles geschlossen, hoffentlich nicht auch die Köpfe der Mehrheiten. „Wir sind das Volk!“ kann auch positiv interpretiert werden. Kritischer Reflex ist jetzt besonders gefragt.

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