Happy New Ears 2019: Portrait Mathias Spahlinger (*1944), Werkstattkonzert mit dem Ensemble Modern im Foyer der Oper
Frankfurt, 12.03.2020
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| Mathias Spahlinger (Foto: Mathias Spahlinger) |
Richtiges Bewusstsein in der Musik
Enno Poppe (*1969) hat sich für diesen Abend auf eigenen Wunsch seinen Mentor und Komponistenfreund Mathias Spahlinger (*1944) ausgesucht, um dem Publikum die Musik des Grenzgängers, Philosophen, Marxisten und Dialektikers näher zubringen. Gleich ein furioser Start in das höchst emotionale Konzert mit furioso für Ensemble (1991/92).
Es beginnt mit Streichern, Harfe und Klavier. Ein punktuelles
Gegeneinander. Pizzicati im Flageolett, dann
energisches Reißen an den Saiten und Stoßbewegungen. Alles spröde, ohne
scheinbare Zusammenhänge und doch spannungsgeladen. Nach fast zehn Minuten
setzen die Bläser ein: Oboe, Saxophon, Klarinette Trompete und Fagott.
Positionswechsel der InstrumentalistInnen, Geigen und Posaune und schließlich
Piccoloflöte ergänzen das Ensemble auf vierzehn MusikerInnen. Drei Teile des
Ganzen schälen sich heraus, loten die Tiefen der Instrumente (die Bläser
spielen neben ihren Instrumenten auch die Mezzo, Bass- und Kontrabassversion)
wie die höchsten Höhen aus – bis zum heftigen Angriff auf Ohren und Sinne.
Mikrotonverschiebungen und Obertonüberblasungen in schrillen
Frequenzbereichen wie „furiante“ Rhythmus Verschiebungen gaben dem 20-minütigen Stück eine Negation des
Widerstandes gegen alles Herkömmliche und Konventionelle. Ganz im Sinne Hegels,
Spahlingers Lieblingsphilosoph, wonach das Wirken zur absoluten Freiheit „negatives
Tun“ sei. Sie sei der Furie des Verschwindens verschrieben, denn kein Tun, kein
Werk kann die allgemeine Freiheit hervorbringen. Sie ist immer der Dialektik des
Widerspruchs unterworfen.
Musik als Gegendarstellung des Bestehenden
Spahlinger bezeichnet denn auch dieses Werk als „kalte
Allgemeinheit, harte Sprödigkeit und eigensinnige Punktualität“. Es sei
„sprödestmöglich“, ohne Amalgam der einzelnen Teile. Dennoch schaffe es,
unbewusst, eine eigene Kategorie des Sinns, eine Art Gegendarstellung des
Bestehenden, herkömmlich Konventionellen. Spahlinger spricht von falschem
Bewusstsein, mit Hinweis auf Marxens Mehrwerttheorie, vom ungerechten Tausch
und der Ware Arbeitskraft, die den Mehrwert schafft, aber den Nichtbesitzern der
Produktionsmittel das falsche Bewusstsein vermittele: das des „Arbeitnehmers“ statt des „Arbeitgebers“, der er im eigentlichen Sinne ist.
Spahlinger betont unablässig, dass es ihm darauf ankomme,
durch Destruktion des Alten, der Tradition, durch die permanente Negation das
Herkömmliche sichtbar, bewusst und im Sinne des Neuen auflösbar zu machen.
Musikalisch bedeutet dies die unendliche Variation, die Destabilisierung des Formellen
und die Aufeinanderfolge des Historischen hörbar und sogar (wie in ausnahmslos ausnahmen) sichtbar zu
machen. Immer wieder verfällt Spahlinger, abweichend von den tapferen Fragen
Poppes, in philosophische und politische Ausschweifungen. So in die
Französische Revolution und ihre Zerbrechen des Alten, oder zu Georg Büchners Dantons Tod und dem Satz: „Wir sind das Volk!“ – „Hat
Volkes Wille recht, wenn es sich einen Diktator wählt“, fragt er, wobei ihm die
Tränen kommen.
Des Volkes Wille in der Musik
Spahlinger kann kaum klare Gedanken fassen. Dialektisch
gesprochen (allerdings verwendet Spahlinger diesen Begriff nicht ein einziges
Mal) kann keine Entscheidung, keine Tat von sich behaupten, richtig zu sein.
Die Negation der Negation liegt in der Natur der Dialektik, die Reflexion und
kritische Hinterfragung allen Tuns in ihrem Wesen. Von daher muss jegliche
Alternativlosigkeit in ihrem Sinne tödlich ja verheerend sein. Spahlinger
scheint das Dilemma des gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurses heftig zu
bewegen, ja seine Seele ist zutiefst bewegt. Enno Poppe ist es zu verdanken,
immer wieder auf sein musikalisches Konzept, seine musikalische Idee
zurückzukommen, was ihm allerdings nur punktuell gelingt.
Abwendung von Purismus und Stil, dafür „Signalcharakter“
Das Solowerk ausnahmslos ausnahmen für Drumset (2013)
gehört denn auch in diese Phalanx der Destruktion des Alten, der analytischen
Herauskristallisation des Herkömmlich in die Transformation eines Neuen, der
Zusammensetzung der Teile in das nie zu erreichende, aber zukunftsweisende
Ganze.
Der seit 2000 zum Ensemble Modern gehörende und seit Juli 2019 zum
festen Mitglied avancierte Perkussionist, David Haller, spielte
auf einem Drumset, das, so Spahlinger, erfolgreichste Instrument seit Anfang
des 20. Jahrhunderts, eine 24-minütige „Opposition zur Marschmusik“. Spahlinger
hat darin ausnahmslos alle Schlagfiguren verarbeitet, die ein Drummer
beherrschen sollte. Poppe sprach gar von der Schlagschule für Anfänger bis
zum Fortgeschrittenen. Tatsächlich sollte das Stück die "Drumset-Seligkeit" im
Sinne von "Interkulturalität" überwinden. Es sei „eine Absage an die stilistische
Reinheit“, meinte der Komponist, eine kritische Abwendung von Purismus und
Stil. Tatsächlich wirkte dieses Werk eher fragmentiert und in seine Teile
aufgelöst, als Zusammenhänge herzustellen.
Eine Dekonstruktion der Rhythmen, eine Auflösung der
Konventionen bis zum abschließenden, minutenlangen Wirbel auf der großen
Trommel. Eine Steigerung zwar vom Einfachen zum Komplexen, vom Leichten zum Schwierigen, nie aber in einem Guss oder in rhythmischer
Stabilität. Dafür in einer Körperlichkeit, die schwierigste Passagen ohne
sichtbare Anstrengung erscheinen ließ und dennoch die gewaltige Anstrengung von
Reflexion und Ableitung spürbar hörbar machte.
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| Ensemble Modern (Foto: Vincent Stefan) |
Musik als „Deutlichmacher von Wahrheit“
Ein spannender Werkstattabend mit allerdings großen Fragezeichen: Spahlingers Versuch der Neuen Musik
eine philosophisch-politische Dimension zu verleihen, indem sie, seiner
Definition nach, das Verhältnis der Teile zum Ganzen verändert und in neuer
Perspektive Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges reflektiert, ist
insofern nachvollziehbar, als er Neue Musik als Stachel oder als kritischer
Reflex auf das Alte, Herkömmliche, Traditionelle versteht. Falsches Bewusstsein
allerdings in prinzipiell vernunftlose Musik einbinden zu wollen, fällt schwer,
wie er auch nicht in der Lage war, musikalisch zu belegen, warum gerade seine
Musik falsches Bewusstsein sichtbar oder hörbar machen sollte. Allein es bleibt
der von ihm geforderte „Signalcharakter“, Musik als Deutlichmacher von
Wahrheit.
Wobei wir wieder bei der Philosophie landen. Wahrheit sollte
grundsätzlich Teil der Kunst selbst sein, denn jede wirkliche Kunst ist
Ausdruck der Wahrheit. Spahlingers Werk ist zumindest der Versuch, diesem
Anspruch gerecht zu werden. Nicht von ungefähr gab er furioso das Motto aus Hegels Phänomenologie des Geistes: „Kein
positives Werk noch Tat kann also die allgemeine Freiheit hervorbringen; es
bleibt nur das negative Tun; sie ist nur die Furie des Verschwindens.“
Spahlinger lebt diesen Satz in seiner Musik, die allerdings viel Material zur
Diskussion bietet.
Das Ensemble Modern verstand es unter
der bewundernswerten und faszinierenden Leitung von Enno Poppe wieder einmal überzeugend, der sperrigen, spröden,
dekonstruierten, systembrechenden und mathematisch berechnenden Musik Leben und
Zuversicht einzuhauchen, der beabsichtigten Negativität einen Tick positive Wahrheit mitzugeben. Wie auch immer das zu verstehen ist.
In eigener Sache: Übrigens mein letzter Artikel bis zum Ende der Corona-Paranoia.
Alles geschlossen, hoffentlich nicht auch die Köpfe der Mehrheiten. „Wir sind
das Volk!“ kann auch positiv interpretiert werden. Kritischer Reflex ist jetzt
besonders gefragt.




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