Le Sacre du Printemps,
zweiteiliger Ballettabend von Bryan Arias und Edward Clug nach der Musik von
Igor Strawinsky und Dmitri Savchenko-Belski, Premiere und Uraufführung am
29.02.2020 im Staatstheater Darmstadt, 05.03.2020
| Ensemble, v.l.: Kristin Bjerkestrand, Tatsuki Takada, Masayoshi Katori, Gaetano Vestris Terrana, Isidora Markovic, Rita Winder, Vanessa Shield, Aurélie Patriarca, Ramon John (Fotos. Bettina Stöß) |
Kein Skandal dafür Kunst in der Kunst
Le Sacre Du Printemps, am 29.05.1913 im neu erbauten Théâtre des Champs-Élisées in Paris uraufgeführt, ist nicht nur wegweisend für die Musik und den Tanz, sondern schafft es bis heute, nichts von seiner Aktualität eingebüßt zu haben. Zwar kann es keine Skandalstürme wie bei seiner Uraufführung, aber was die beiden Choreographen Bryan Arias und Edward Clug tänzerisch auf die Bühne des Staatstheaters Darmstadt zauberten, konnte mit der musikalischen Untermalung von Dmitri Savchenko-Belskis Computermusik und natürlich der immer noch aufwühlenden Musik Igor Strawinskys (1882-1971) mit allein fünf Paukten viel Perkussion und schmetternden Blechen durchaus ins Mark und Bein gehen.
In Anlehnung an den Uraufführungstermin am 29.05.1913, den Bryan Arias auch zum Titel seiner Choreographie
auswählte, setzte sich der in New York aufgewachsene und unter anderem in
Netherland Danse Theater ausgebildete Puerto Ricaner eigenen Aussagen zufolge
weniger mit der Musik und dem Inhalt von Sacre
auseinander, sondern vielmehr mit den Ereignissen rund um dieses weltbewegende
Werk. Was geht beim Zuschauer vor, wenn er dieses 35-minütige Stück hört und
sieht? „Mich interessiert“, sagt er in einem Gespräch mit dem Darmstädter Dramaturgen
Lucas Herrmann, „das Aufbrechen von
Wahrnehmungskonventionen, das Thematisieren von Kunst in der Kunst, das
Schaffen von neuen Perspektiven.“
Zu diesem Zweck hat er das Publikum des Staatstheaters life
auf eine riesige Leinwand im Hintergrund der Bühne projiziert. Man kann sich
selbst beobachten beim Gehen durch die Reihen und beim Platz nehmen. Mit atmosphärischen
Soundtracks, Klangflächen von Stimmengewirr, Meeresrauschen, pulsierenden
Tonkaskaden und akkordischen Donnerschlägen mit kosmischen Halleffekten gelingt
es dem Komponisten, eine enge Verflechtung zwischen den Tänzern herzustellen.
Musik und Tanz scheinen eine Einheit zu bilden, zumal sie weder rhythmische noch
motivische oder thematische Vorgaben enthält.
| Ensemble |
Nachdenken über Le Sacre du Printemps
Der Tanz der in elegantem Rot gekleideten Tänzer und TänzerInnen
ist denn auch von Improvisation geprägt: „Ich bin kein Choreograph“, sagt Arias
im selben Interview, „der den TänzerInnen Bewegungsfolgen überstülpt, vielmehr
nutze ich die Schwarmintelligenz der Gruppe.“ So bewegen sich die neun Akteure,
fünf Frauen und vier Männer, denn auch in scheinbar chaotischen
Gruppenzusammenhängen. Immer wieder löst sich eine/r oder mehrere von ihnen aus
der Gruppe zu einem Solo, Pas de Deux
oder Pas de Trois. Alles hat
spontanen Charakter ohne allerdings in Willkür zu überborden. Großartige Bewegungsintelligenz
vermischt sich mit einer hochdramatischen Musik, die, in Anlehnung an den
rituellen Stoff von Le Sacre du Printemps,
bis zur ekstatischen Apotheose, zum selbst gewollten Tod führt.
Interessant hierbei die Videoeinblendungen des Publikums,
das in einer Retro-Bewegung den Saal verlässt, bis zum Schluss lediglich eine Person
übrig bleibt, während die letzte Tänzerin auf einer riesigen Plastikplane (ursprünglich
Trennwand zwischen Publikum und TänzerInnen) ihren Geist aufgibt. Sinnbild der Vereinzelung
des Post-post-modernen Menschen? Des Sich-selbst-überlassen-Seins ohne göttlichen,
überirdischen Beistand? Der Grablegung des Individualismus und Narzissmus?
Ein durchaus bemerkenswerter Versuch, die Archaik des
Opferrituals auf die modernen Zeiten zu übertragen. Dazu ein gewaltig schönes
(Kostüm: Bregje van Balen) und
spannend inszeniertes (Bühne: Tabea
Rothfuchs), mit vielen selten gesehenen Figuren und leichtfüßiger Akrobatik
versehenes Stück, das durchaus seinem Anspruch, über den Sacre zu sinnieren und Stellung zu beziehen, gerecht werden konnte.
| Mitte: Jiyoung Lee, Ensemble (Fotos: Bettina Stöß) |
Ein grandioser Strawinsky mit viel Wasserspiel
Immer gehört die Musik von Le Sacre du Printemps zum gehobenen Anspruch eines Orchesters. Fast
nur aus Bläsern und Schlagwerk bestehend kann das Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts
mit seinen bruitistischen, rhythmisch verzwackten und fast schon atonalen Elementen
(bi- und tritonal) den Bruch mit allen Hörkonventionen noch heute sinnlich
erfahrbar machen. Vorweg sei genommen, dass das Orchester des Staatstheaters
Darmstadt unter der Leitung ihres GMD Daniel
Cohen, nach anfänglicher Unsicherheit, einen grandiosen Strawinsky zelebrierte.
Zwölf Tänzer und Tänzerinnen (sechs Frauen, sechs Männer),
schlicht in weiß gekleidet (Kostüm: Leo
Kulaš) ließen in acht Szenen
des ersten Teils, Die Anbetung der Erde,
und sechs Szenen des zweiten Teils, Das
Opfer, ein Feuerwerk der Hingabe und Empathie dieses Rituals abbrennen.
Eine in Metallic-Silber gehaltene Bühne (Bühne Marko Jepelj), anfangs eng gehalten und sukzessive bis hin zur
Öffnung ins Unendliche gehend, mit thematisch und emotional angepassten
Lichteffekten (Licht: Tomaž Premsl) und Wasser, sehr viel
Wasser von oben, erhielt diese Choreographie, die bereits 2012 im slowenischen
Maribor ihre Uraufführung und 2016 in Zürich ihre Folgeaufführung erfuhr, in
Darmstadt ihre dritte Version. „Die Essenz“, so Edward Clug im Interview mit Herrmann,
„hat sich für mich seit Maribor nicht verändert.“
Bei aller Dichte der Choreographie und dem perfektem Tanz,
konnte das Wasser als Metaphorik des Frühlingsopfers in der Bedeutung des
Lebens, der Ernte, der Reinigung und der Klarheit, die Diskrepanz von
knallharter rhythmischer Musik mit seiner kompromisslosen Expressivität und den
fließenden, dynamischen Bewegungen der Akteure nicht verdecken. Schon im ersten
Teil fällt es – optisch ein beeindruckender Anblick – von der Decke und zwingt
die TänzerInnen auf dem glitschigen Boden zu vorsichtigen, ja fließenden Bewegungen.
Absolut effektvoll sind die Gleitszenen über die Wasserfläche wie auch die technische
Bewältigung der Figuren auf diesem rutschigen Terrain. Aber die naturgemäße Anpassung
an diese Bedingungen konnte der Härte der Musik nichts entgegensetzen. Musik
und Tanz trifteten unweigerlich auseinander und nahmen der Dramatik des
Opferrituals die Schärfe.
| Ensemble |
Musik und Tanz in Diskrepanz
Der finale Opfertanz wird hier zu einem Puppenritual
verfremdet. Die Solotänzerin, das Gesicht wie ein Clown geschminkt, bewegt sich
marionettenähnlich – man könnte auch von einer Maschine sprechen – über die
Bühne. Die Gruppe versucht sich auf der Wasserfläche zu ekstatischen Ausfällen,
sie stampft und springt wild durcheinander, während die Musik schneidend in
zerbrochener Rhythmik bis zu einem verheerenden Tutti anschwillt. Gut getanzt
aber leider wenig passend zur Musik. Der Schluss, das tödliche Zusammenbrechen
des Mädchens, wird durch das Über-das-Wasser-Gleiten ihres Körpers in den Hintergrund der Bühne gelöst.
Immer schon stand die Kritik im Raum, dass das weibliche
Opfer nicht mehr zur heutigen Zeit passe.
Clug löst dieses Problem, indem er das Opfer als Auserwählte, die eine
Machtposition innehabe, uminterpretiert: Gemeint als das sich als Opfer hingeben
in selbstbewusster Entscheidung. Das ist durchaus legitim. Was bedeutet aber dann
die Marionette und das Clownsgesicht des Opfers?
Es bleibt die alte Problematik, die bereits das Publikum
Anfang des 20. Jahrhunderts auf die Palme brachte und Theodor W. Adorno in
seiner Philosophie der Neue Musik 1925
in zwei Punkten kritisierte. Einmal sei die Opferrolle Ausdruck der
Vereinzelung und verstärke die autoritären Tendenzen der Gesellschaft und
andererseits mache Strawinsky eine Musik dazu, die diese Tendenzen in sich
trage. Damit fördere sie die Regression fördere und triffte letztendlich ins Reaktionäre
ab. (Hier nimmt er auch Bezug zu den Balletten Der Feuervogel und Petruschka)
| vorne: Jorge Moro Argote, Jiyoung Lee (Opfer) |
Strawinsky ist und bleibt die Inspirationsquelle
Strawinskys Musik gehört heute zweifellos zum integralen
Bestandteil der kommerziellen Musik und Filmmusik. Seine Soundtracks sind in
abgewandelter Form häufig zu hören und selbst Dimitri Savchenko-Belski ließ
sich eignen Aussagen zufolge von der Musik Strawinsky inspirieren und
entwickelte seine musikalischen Kreationen aus dem Zusammenspiel von Musik und
Handlung von Le Sacre du Printemps.
Ein sehenswerter Doppelabend mit großartigen und
geschmeidigen TänzerInnen, einem wirklich gut aufgelegten Staatsorchester
Darmstadt unter der engagierten Leitung von Daniel Cohen, zwei sehr
interessanten Choreographien, wovon diejenige des Bryan Arias den Vorgang der
Opferung kritisch rekapitulierend durchaus neue Perspektiven erzeugen konnte,
während Edwards Clugs Choreographie in Gemeinschaft mit seinen langjährigen Mitarbeitern
zwar eine runde Performance bot, aber durch die fixe Idee des Wassers den
Gegensatz von Musik und Tanz nicht aufzulösen vermochte. Die finale
Opfersequenz ließ zudem viele Fragen offen.
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