Pierre-Laurent
Aimard,
Klavierrezital im Mozart Saal der Alten Oper Frankfurt, 24.09.2020
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| Pierre-Laurent Aimard, Foto: Wonge Bergmann |
Sind wir
noch gesund?
Wem nutzt
der vorauseilende Gehorsam? Da stehen etwa achtzig Menschen auf dem Opernplatz
in zwei Meter Abstand und natürlich mit Maske und warten brav auf den Einlass
in die Alte Oper, die statt eine halbe Stunde vor Konzertbeginn jetzt
offensichtlich erst eine Viertelstunde vorher die sprichwörtlichen Tore öffnet,
während kleine und größere
Gruppen und eine Menge Passanten ohne Abstand und Alltagsmundschutz den Platz
bevölkern, oder eng am Rand des Lucae-Brunnens sitzen bzw. die Gäste im angrenzenden
Café Opernplatz dicht gedrängt an den Tischen ihren Kaffee schlürfen. Warum
diese selbst verordnete, sinnfreie Einschränkung, wenn doch zumindest auf
öffentlichen Plätzen bisher zumindest wenigstens ungestraft einhundert Menschen
zwanglos zusammenstehen dürfen? Wo ist das Land der Dichter und Denker
geblieben? Wo die Aufklärung und wo die Rationalität? Der Krankenstand wie die
Todesraten sind unter normal (Man schaue nur in die gängigen Statistiken des
RKI). Wir sind gesund!! Man könnte
schlicht verzweifeln.
Beethoven
kombiniert mit zeitgenössischen Komponisten
Aber jetzt
zum Rezital. Mit gehörigem Abstand und viel Kontrolle konnten immerhin etwa
einhundert Menschen das gut einstündige Programm von Pierre-Laurent Aimard
erleben. Aimard, bekanntlich Experte für die Klavierwerke Olivier Messiaens
(1908-1992) sowie derjenigen von Karlheinz Stockhausen (1928-2007), hatte sich
eine ganz eigenwillige und genial zusammengestellte Werkfolge ausgedacht.
Zwei der bekanntesten und meistgespielten Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven (1770-1827), nämlich die Sonaten Nr.14 cis-Moll op. 27/2 (1801), bekannt auch als Mondscheinsonate, sowie in f-Moll Nr.23 op. 57 (1804/05), die als Appassionata gehandelt wird. Beide Sonaten hatte er gerahmt mit zwei Stücken aus Messiaens Catalogue d´oiseaux (1956-1958), die von Vogelstimmen inspiriert sind, nämlich L´Alouette Lulu (Die Lerche) und La Chouette Hulotte (Der Waldkauz). Zum Abschluss wählte er das Klavierstück IX (1954/1962) von Stockhausen, ein serielles Werk aus einem Zyklus, den er zwischen 1952 und 1956 unter seriellen Vorgaben komponierte.
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| Pierre-Laurent Aimard, Foto: wienersymphoniker.at |
Die Mondscheinsonate
unter bedecktem Himmel
Schon die Lerche
führte das Publikum in eine klare, sommerliche Mondnacht. Aimard verstand es mit
technischer Brillanz und höchst differenzierten Pedalierens eine
Frühmorgenstimmung zu erzeugen, kurz vor Sonnenaufgang, in der die Lerche ihren
aufgeregten Gesang zwischen Schimpfen und Verführen entfaltet. Dann, ohne Atem
zu nehmen der Übergang zum Adagio sostenuto der Mondscheinsonate
(es erübrigt sich, dass dieser Name nicht von Beethoven stammt). Allerdings
schreibt Beethoven dazu: „Dieses ganze Stück muss sehr zart und mit Pedal
gespielt werden.“ Aimard, der übrigens alles vom Notenblatt spielte, lieferte eine
tief romantische Interpretation, der ein getragenes Allegretto folgte.
Eher schwerfällig, im Tempo schleppend und mit geringer Akzentuierung. Dann das
Presto agitato. Leider in weiten Teilen fehlerhaft und in vielen
Passagen schwimmend. Hat er diese Sonate quasi On Sight gespielt und
seit Monaten nicht mehr geübt? Man war geneigt, das zu vermuten. Schade.
Wieder ein
abrupter Übergang zu Messiaens Waldkauz, so extrem, dass man meinte,
eine Klaviersaite wäre gerissen. Glücklicherweise war dem nicht so. Vielleicht
war es auch nur der Ärger über die weitgehend misslungene Interpretation der Sonata
quasi una Fantasia, wie sie von Beethoven tituliert ist. Bekanntlich ist Messiaen der Entdecker der seriellen
Kompositionstechnik, das heißt konkret, alle Eigenschaften der Musik, wie die Tondauer, die
Tonhöhe und die Lautstärke auf Zahlen und Proportionsreihen aufzubauen. Mit dem
Waldkauz scheint er diese Technik realisiert zu haben. Kauzig schräg, mit
ungeheurer Dynamik, starkem Pedalspiel und langen Augmentationsreihen imitierte
Aimard den dunkel-heulenden Ruf des Waldkauzes. Ein wohliges Schaudern
wechselte dann zur Appassionata.
Eine Appassionata als Sturm der Seele
Hier, das
sei vorweggenommen, zeigt Aimard seine ganze pianistische Meisterschaft. Ein Allegro
assai mit perlenden Arpeggien, starken Sforzati, stechenden Repetitionen
und ausgeprägtem Vorwärtsdrang. Die Vielfalt der Aussagen dieses ersten Satzes verstand
er in der langen Coda noch einmal perfekt zu fokussieren und im abschließenden Piú
Allegro mit gewaltigen Klopfmotiven bis hin zum Diminuendo, dem
Dreitonmotiv des Leitthemas, in dreifachem Pianissimo zu beenden.
Das Andante
con moto, vom Komponisten Friedrich Silcher (1789-1860) als die „Hymne an die Nacht“
bezeichnet, ein zweiteiliges Lied mit drei Variationen, spielte Aimard mit
großer Bewegung und flottem Tempo, wenn auch mit einer Neigung zum Mechanischen.
Vor allem das geforderte Dolce geriet bei ihm eher sachlich als
gesanglich. Dann das abschließende Allegro ma non troppo. Dreizehn
punktierte Achtelakkorde leiteten ein rollendes Gewitter ein, das es in sich
hatte.
Zwar auch
hier mit kleinen, aber unbedeutenden Fehlern, arbeitete er doch das In-sich-Kreisen
dieses hochvirtuosen Finales in perfekter Manier heraus und verlieh so diesem Abschluss
eine Art finale Raserei, ohne allerdings auf Befreiung zu hoffen.
Der fast
schon apokalyptische Schlussstretta, ein Presto mit marschähnlicher
Einleitung und thematischer Auflösung des Hauptthemas, folgte unmittelbar
Stockhausens Klavierstück Nr. IX.
Serialität
und der Avantgardismus Beethovens ergänzen sich
Gefühlte
zweihundert Mal schlug Aimard einen vierstimmigen Akkord, C-G-Gis-Cis, an, der
vom dreifachen Forte bis zum vierfachen Piano diminuierte. Das
Stück kontrastiert mit einer langsam anschwellenden chromatischen Skala, bei
der jeder Ton eine andere Dauer hat. Hierbei bestimmen Fibonacci Reihen sowie
Additionsreihen die Kompositionsweise. Aimard verstand es, die Spröde dieser
Komposition zum Leben zu erwecken und ihr einen Hauch von Vogelgesang mit
flirrenden Tontrauben zu verleihen. Hier spürte man die engen Bezüge zwischen
beiden Komponisten, denn Stockhausen lernte bei Messiaen das serielle Komponieren,
das er später genial weiterentwickelte.
Ein
gemischtes Rezital also mit Höhen und Tiefen. Dennoch zeigte sich Pierre-Laurent
Aimard als ein wunderbarer, einzigartiger Pianist mit angenehm menschlichen Eigenschaften,
die sich gerade in Krisenzeiten eher für Sympathiepunkte eignen und seiner
herausragenden pianistischen Sonderstellung keinen Faden abreißen.


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