Freitag, 25. September 2020

 

Pierre-Laurent Aimard, Klavierrezital im Mozart Saal der Alten Oper Frankfurt, 24.09.2020

 

Pierre-Laurent Aimard, Foto: Wonge Bergmann

Sind wir noch gesund?

Wem nutzt der vorauseilende Gehorsam? Da stehen etwa achtzig Menschen auf dem Opernplatz in zwei Meter Abstand und natürlich mit Maske und warten brav auf den Einlass in die Alte Oper, die statt eine halbe Stunde vor Konzertbeginn jetzt offensichtlich erst eine Viertelstunde vorher die sprichwörtlichen Tore öffnet, während kleine und größere Gruppen und eine Menge Passanten ohne Abstand und Alltagsmundschutz den Platz bevölkern, oder eng am Rand des Lucae-Brunnens sitzen bzw. die Gäste im angrenzenden Café Opernplatz dicht gedrängt an den Tischen ihren Kaffee schlürfen. Warum diese selbst verordnete, sinnfreie Einschränkung, wenn doch zumindest auf öffentlichen Plätzen bisher zumindest wenigstens ungestraft einhundert Menschen zwanglos zusammenstehen dürfen? Wo ist das Land der Dichter und Denker geblieben? Wo die Aufklärung und wo die Rationalität? Der Krankenstand wie die Todesraten sind unter normal (Man schaue nur in die gängigen Statistiken des RKI). Wir sind gesund!!  Man könnte schlicht verzweifeln.

 

Beethoven kombiniert mit zeitgenössischen Komponisten

Aber jetzt zum Rezital. Mit gehörigem Abstand und viel Kontrolle konnten immerhin etwa einhundert Menschen das gut einstündige Programm von Pierre-Laurent Aimard erleben. Aimard, bekanntlich Experte für die Klavierwerke Olivier Messiaens (1908-1992) sowie derjenigen von Karlheinz Stockhausen (1928-2007), hatte sich eine ganz eigenwillige und genial zusammengestellte Werkfolge ausgedacht.

Zwei der bekanntesten und meistgespielten Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven (1770-1827), nämlich die Sonaten Nr.14 cis-Moll op. 27/2 (1801), bekannt auch als Mondscheinsonate, sowie in f-Moll Nr.23 op. 57 (1804/05), die als Appassionata gehandelt wird. Beide Sonaten hatte er gerahmt mit zwei Stücken aus Messiaens Catalogue d´oiseaux (1956-1958), die von Vogelstimmen inspiriert sind, nämlich L´Alouette Lulu (Die Lerche) und La Chouette Hulotte (Der Waldkauz). Zum Abschluss wählte er das Klavierstück IX (1954/1962) von Stockhausen, ein serielles Werk aus einem Zyklus, den er zwischen 1952 und 1956 unter seriellen Vorgaben komponierte.

Pierre-Laurent Aimard, Foto: wienersymphoniker.at


Die Mondscheinsonate unter bedecktem Himmel

Schon die Lerche führte das Publikum in eine klare, sommerliche Mondnacht. Aimard verstand es mit technischer Brillanz und höchst differenzierten Pedalierens eine Frühmorgenstimmung zu erzeugen, kurz vor Sonnenaufgang, in der die Lerche ihren aufgeregten Gesang zwischen Schimpfen und Verführen entfaltet. Dann, ohne Atem zu nehmen der Übergang zum Adagio sostenuto der Mondscheinsonate (es erübrigt sich, dass dieser Name nicht von Beethoven stammt). Allerdings schreibt Beethoven dazu: „Dieses ganze Stück muss sehr zart und mit Pedal gespielt werden.“ Aimard, der übrigens alles vom Notenblatt spielte, lieferte eine tief romantische Interpretation, der ein getragenes Allegretto folgte. Eher schwerfällig, im Tempo schleppend und mit geringer Akzentuierung. Dann das Presto agitato. Leider in weiten Teilen fehlerhaft und in vielen Passagen schwimmend. Hat er diese Sonate quasi On Sight gespielt und seit Monaten nicht mehr geübt? Man war geneigt, das zu vermuten. Schade.

Wieder ein abrupter Übergang zu Messiaens Waldkauz, so extrem, dass man meinte, eine Klaviersaite wäre gerissen. Glücklicherweise war dem nicht so. Vielleicht war es auch nur der Ärger über die weitgehend misslungene Interpretation der Sonata quasi una Fantasia, wie sie von Beethoven tituliert ist. Bekanntlich ist Messiaen der Entdecker der seriellen Kompositionstechnik, das heißt konkret, alle Eigenschaften der Musik, wie die Tondauer, die Tonhöhe und die Lautstärke auf Zahlen und Proportionsreihen aufzubauen. Mit dem Waldkauz scheint er diese Technik realisiert zu haben. Kauzig schräg, mit ungeheurer Dynamik, starkem Pedalspiel und langen Augmentationsreihen imitierte Aimard den dunkel-heulenden Ruf des Waldkauzes. Ein wohliges Schaudern wechselte dann zur Appassionata.


 Eine Appassionata als Sturm der Seele

Hier, das sei vorweggenommen, zeigt Aimard seine ganze pianistische Meisterschaft. Ein Allegro assai mit perlenden Arpeggien, starken Sforzati, stechenden Repetitionen und ausgeprägtem Vorwärtsdrang. Die Vielfalt der Aussagen dieses ersten Satzes verstand er in der langen Coda noch einmal perfekt zu fokussieren und im abschließenden Piú Allegro mit gewaltigen Klopfmotiven bis hin zum Diminuendo, dem Dreitonmotiv des Leitthemas, in dreifachem Pianissimo zu beenden.

Das Andante con moto, vom Komponisten  Friedrich Silcher (1789-1860) als die „Hymne an die Nacht“ bezeichnet, ein zweiteiliges Lied mit drei Variationen, spielte Aimard mit großer Bewegung und flottem Tempo, wenn auch mit einer Neigung zum Mechanischen. Vor allem das geforderte Dolce geriet bei ihm eher sachlich als gesanglich. Dann das abschließende Allegro ma non troppo. Dreizehn punktierte Achtelakkorde leiteten ein rollendes Gewitter ein, das es in sich hatte.

Zwar auch hier mit kleinen, aber unbedeutenden Fehlern, arbeitete er doch das In-sich-Kreisen dieses hochvirtuosen Finales in perfekter Manier heraus und verlieh so diesem Abschluss eine Art finale Raserei, ohne allerdings auf Befreiung zu hoffen.

Der fast schon apokalyptische Schlussstretta, ein Presto mit marschähnlicher Einleitung und thematischer Auflösung des Hauptthemas, folgte unmittelbar Stockhausens Klavierstück Nr. IX.


Serialität und der Avantgardismus Beethovens ergänzen sich

Gefühlte zweihundert Mal schlug Aimard einen vierstimmigen Akkord, C-G-Gis-Cis, an, der vom dreifachen Forte bis zum vierfachen Piano diminuierte. Das Stück kontrastiert mit einer langsam anschwellenden chromatischen Skala, bei der jeder Ton eine andere Dauer hat. Hierbei bestimmen Fibonacci Reihen sowie Additionsreihen die Kompositionsweise. Aimard verstand es, die Spröde dieser Komposition zum Leben zu erwecken und ihr einen Hauch von Vogelgesang mit flirrenden Tontrauben zu verleihen. Hier spürte man die engen Bezüge zwischen beiden Komponisten, denn Stockhausen lernte bei Messiaen das serielle Komponieren, das er später genial weiterentwickelte.

Ein gemischtes Rezital also mit Höhen und Tiefen. Dennoch zeigte sich Pierre-Laurent Aimard als ein wunderbarer, einzigartiger Pianist mit angenehm menschlichen Eigenschaften, die sich gerade in Krisenzeiten eher für Sympathiepunkte eignen und seiner herausragenden pianistischen Sonderstellung keinen Faden abreißen.

 

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