Freitag, 2. Oktober 2020

 

Ensemble Modern (musikalische Leitung: Stefan Asbury) spielt Werke von Rebecca Saunders, Galina Ustwolskaja und Charles Ives, Alte Oper Frankfurt, 01.10.2020

Ensemble Modern, Foto: Alte Oper Frankfurt

Auf der Spurensuche

Nicht einmal 100 Menschen verloren sich unter strengen Hygienebedingungen im Mozartsaal der Alten Oper Frankfurt, um nach gut sechs Monaten Abstinenz wieder einmal den Sound und die hervorragenden Interpretationen des Ensemble Modern erleben zu dürfen. Corona wirkt nicht nur in den Köpfen, sondern vor allem auch in den Programmen. Denn eigentlich sollte 2020 als großes Jubiläumsjahr – das vierzigjährige Bestehen des Ausnahmeorchesters – gefeiert werden, was unter jetzigen Bedingungen nur noch in abgespeckter Form möglich ist. Konkret: Viele geplante Veranstaltungen und Werkinterpretationen fallen aus. Dafür denkt man in kleineren Formaten, um wenigstens wieder live auf der Bühne stehen zu können.

Für gut 60 Minuten, ohne Pause versteht sich, bot das Ensemble an diesem Abend drei Werke von drei sehr unterschiedlichen KomponistInnen. Zuerst von Rebecca Saunders (*1967) das 2006 entstandene A visible Trace, dann von Galina Ustwolskaja (1919-2006) die Sinfonie Nr. 5 mit dem Titel „Amen“ (1989/90) und schließlich von Charles Ives (1874-1954) neun Stücke, davon sieben Miniaturen, vier mit Gesang und drei für Ensemble (1913-1921), sowie Centralpark in the Dark (1908) und A Set of Pieces (1905-1911).

Zunächst A visible Trace. Es ist der Versuch, Spuren sichtbar oder besser hörbar zu machen. Für elf Instrumentalisten geschrieben scheint es sich in drei Teile zu zergliedern. Es beginnt mit einem langen Ton von Violoncello und Blechbläsern, um sich dann in Cluster aufzufächern und in Glissandi zu verschwimmen. Immer wieder pulsierende Unterbrechungen und heftige Eruptionen, um stante pede in spannungsgeladener Stille auszuharren. Weinend, ja greinend endet der erste Teil, getragen von Piccolo Flöte, Bassklarinette, Kontrabass, Violoncello und Klavier. Der zweite Teil könnte auch als Durchführung durchgehen. Hier werden die Momente der Exposition ausgefeilt und entwickelt. So zum Beispiel die Obertonpassage der Bassklarinette und die langen Tonreihen der Streicher mit leichten Abweichungen im Vierteltonbereich.

Seufzermotive bestimmen dann den Schlussteil. Man könnte von Verzweiflung sprechen, von einem Verzagen, von einem Nicht-weiter-Wissen über die allgemeinen Zustände. Eine beeindruckende Klangfülle leitet das Finale ein, um dann in der Stille aufzugehen. Es ist ein sehr bildhaftes Werk auf der Suche nach Spuren im Sand, die nur eine kurze Lebensdauer besitzen, aber oft viel zu sagen haben, wie es bei den Spuren von Corona wohl auch sein wird.


Das Vaterunser in Dies Irae Manier

Ein fast gnadenloser Kontrast dazu sollte die 5. Sinfonie von Galina Ustwolskaja sein. Ihr Titel „Amen“ verweist auf das Vaterunser, das Mustergebet aller Christen weltweit, welches bereits von Jesus im Matthäus Evangelium in Kapitel 6, Vers 9-13 empfohlen wird. Für fünf Instrumente (Oboe, Trompete, Tuba, Violine und einen Holzwürfel als Schlaginstrument, den die Komponistin selbst entworfen hat) und einen Sprecher geschrieben ist diese Sinfonie alles andere als im herkömmlichen Sinne sinfonisch zu nennen. In knapp dreizehn Minuten deklamierte der Bassbariton Sebastian Geyer das Vaterunser in nahezu drohendem Gestus, während die Musiker in marsch ähnlich-monotoner Begleitung auf einfachen aber eindringlichen Motivstrukturen verharrten, die durch die gleichförmigen Hammerschläge auf den Holzwürfel fast schon ein beängstigendes Dies Irae andeuteten. Es ist eher eine moderne klangvoll gesprochene Psalmodie, unglaublich intensiv mit viel geistiger Nähe zu Dmitri Schostakowitsch, dessen Schülerin sie lange Jahre gewesen ist. Schostakowitsch selbst war ein großer Bewunderer von Galina Ustwolskaja und prophezeite ihrer Musik Weltruhm. Leider wird ihr überschaubares Oeuvre von 21 Werken bis heute nur selten gespielt. Das Ensemble Modern hat sie mit dieser beeindruckenden Aufführung wiederentdeckt und das Interesse an ihrer Musik auch für das Publikum geweckt.

 

Die grenzenlose kompositorische Freiheit

Charles Ives hingegen kann über Weltruhm, den er allerdings auch erst posthum erhielt, nicht klagen. Heute gehört seine Musik zum Repertoire aller namhaften Orchester. Wer kennt nicht seine Sinfonien, seine Kammermusiken oder seine Chorwerke. Aber wer kennt seine Liedkompositionen?

Das Ensemble Modern stellte neun seiner Werke vor, darunter das bekannte Großstadt Nachtstück Central Park in the Dark aber auch die weithin unbekannten Miniaturen aus seiner Liedsammlung wie The See´r (1914-1920), Remembrance (1921), Like a sick Eagle (1913-1920) alle für Singstimme und Klavier sowie Sunrise (1926) für Singstimme Violine und Klavier.

Central Park in the Dark ist ein düsteres, geheimnisvolles Stück für 25 InstrumentalistInnen von knapp sechs Minuten. Ives wollte ein Sammelsurium von Geräuschen in einem sommernächtlichen Park abbilden, Nachtgeräusche unterbrochen von Straßensängern, Nachteulen aus dem nahegelegenen Casino, die johlend durch den Park streifen, eine Straßenparade, die durch den Park irrt oder ein Ragtime (Hallo! Ma Baby), der aus offenen Fenstern in den Park hallt. Am Ende beruhigt sich das Durcheinander und der Park gewinnt seine geräuschhafte Natürlichkeit zurück. Wie üblich schafft Ives durch rhythmische und thematische Überlagerungen eine polytonale Atmosphäre von großer Intensität und hält das Auditorium so in spannungsgeladener Aufmerksamkeit. 

Ähnlich verfährt er in seinen Liedern. Miniaturen zwischen einer und fünf Minuten, die von Sebastian Geyer mit großer Empathie und tiefer Anteilnahme in lyrischer Tonsprache interpretiert wurden.

Vierzig Jahre Ensemble Modern, sitzend, v. l.: Rainer Römer, Dietmar Wiesner, Hermann Kretschmar,
Giorgos Panagiotidis, N.N., Rumi Ogawa, stehend, v. l.: Paul Cannon, Megumi Kasakawa,
Jagdish Mistry, Saar Berger, Uwe Dierksen, Michael Maria Kasper, Jaan Bossier, Ueli Wiget,
Christian Hommel, Eva Böcker, Johannes Schwarz (Foto: hr 2)

Avantgarde braucht Freiheit

Insgesamt schrieb Ives 114 Lieder. Remembrance, um eines der vier Lieder herauszugreifen, war das 12., das er seinem 1894 verstorbenen Vater widmete und mit einem Text von William Wordsworth versah: „Die Musik in meinem Herzen, die ich trug, lange nachdem sie nicht mehr gehört wurde.“ Zwei Minuten Romantik pur und eine Melodie, die Schubert nicht hätte besser schreiben können. Großes Lob an Sebastian Geyer, der die selten gesungenen Lieder unter der wunderbaren Begleitung von Ueli Wiget (Klavier) und Giorgios Panagiotidis (Violine) in hervorragender Weise vortrug und einen hochinteressanten Einblick in das Liedwerk von Charles Ives bot.

Der Abschluss mit A Set of Pieces in voller Besetzung sollte noch einmal das avantgardistische Potential von Ives herausstreichen. Zwischen 1899 und 1906 komponiert hört man eine extrem radikale Musik, die bereits tief ins 20. Jahrhundert reicht. So schreibt der Violinist Timothy Judd zu Recht: „Dies ist eine eindringlich atmosphärische Musik, die durch die Zeit schwebt, befreit von konventionellem Takt und Harmonie. Melodische Fragmente aus frühen amerikanischen Volksliedern und Hymnen tauchen auf und zerstreuen sich wie flüchtige Bilder in einem Traum. Diese Musik besteht aus unterschiedlichen Schichten – eine Art aufregende Klangcollage, die experimentelle Musik aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorwegnimmt.“ Dem gibt es nichts hinzuzufügen.

Außer: Die drei Teile dieses Sets nennt Ives In the Cage (hier beschreibt er das Leben eines Käfigleoparden in kaum zwei Minuten), In the Inn (wo der Broadway und das rhythmische Durcheinander des amerikanischen Traums dominiert) sowie In the Night (einmal mehr eine neblige, polytonale Traumlandschaft in einem imaginären Wald oder Park).

Ein fantastischer Abend mit selten gehörter und gleichzeitig exzellent interpretierter Musik des Ensemble Modern unter der umsichtigen, unauffälligen und zurückgenommen Leitung von Stefan Asbury und dem herausragenden Gesang von Sebastian Geyer. Nichtsdestotrotz kann bei allem Lob die verordnete menschliche Distanz, das Fehlen der sonst üblichen Freude und Spontaneität durch das Damoklesschwert der Angst sowie die angeordnete Maskerade zur Verhinderung von Kommunikation nicht unter den Tisch gekehrt werden. Niemand kann diesen Zustand des Schreckens auf Dauer wollen und akzeptieren und wenn doch, dann leider auf Kosten der Freiheit der Künste.

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