Donnerstag, 24. September 2020

 

Startbahn I 2020, Ballettabend mit Choreographien der TänzerInnen des Hessischen Staatsballetts, Staatstheater Darmstadt, 23.09.2020

The Circle, v. l.: Manon Andral, Masayoshi Katori, Ramon John
(Fotos: Staatstheater Darmstadt, De-Da-Productions)

So klein die Welt, so groß die Einsamkeit

Gespenstische Stille herrscht im nur spärlich besetzten großen Saal des Staatstheaters Darmstadt. Vielleicht 200 Personen, im Parkett sind gerade einmal knapp 90 Sitzplätze belegt, warten voller Erwartung auf ein neues Projekt von Startbahn 2020 unter den Bedingungen von Corona. Kann man unter der verordneten Berührungslosigkeit, den überbordenden Abstandsregeln, der Maskenpflicht und verbreiteten Ansteckungsangst überhaupt tänzerisch arbeiten und die Seelen der Menschen erreichen. Kann man ihre Sinne berühren?

Bereits Startbahn 2017 war ein voller Erfolg. Nun kehrt die Rhein-Main Kompanie mit 16 Choreographien für zwei Vorstellungen von Tänzerinnen und Tänzern des Balletts auf die Bühne zurück und präsentiert eigens von ihnen produzierte Choreographien, mal mit Solotänzen, mal im Pas de Deux, aber auch mit vier, fünf oder sechs Akteuren auf der Bühne.

Startbahn I 2020, nur um dieses geht es, dauert 70 Minuten, besteht aus acht unter schiedlich langen Choreographien (zwischen fünf und fünfzehn Minuten), die sich allesamt durch klare Themengebung und höchst sensible Auseinandersetzung mit der Thematik auszeichnen.

So findet Isidora Markovic in ihrem selbst choreographierten Solotanz (As small as a world, as large as alone) und einer passenden Musik von Sara Stevanović mit elektronisch eingespielten Klavierclustern, Geräuschen und punktuellen Klangeinlagen, keine Antwort auf das gegenwärtige Geschehen. „Rasende Versuche zu fliehen und etwas zu erreichen. (Bisher) keine Antwort und keine Reflexion“, charakterisieren ihre hektischen, manchmal autistischen Bewegungen in einem hellen Lichtkegel. Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit. Ein abgehacktes Rauschen an einer metallenen Riesenwand lässt ihren eindrücklichen Tanz in Stille und Dunkelheit enden.


 „Nie sollst du mich befragen …“

Auch „Let´s finallly meet“, getanzt oder besser gesagt gespielt von Alessio Pirrone und Vanessa Shields unter der groovigen Musik von Tom Waits: The piano has been Drinking (not me) gehört in die Kategorie der Suche nach Nähe und Berührung. Die beiden Akteure sitzen auf Stühlen an zwei gegenüberstehenden Tischen. Ein schräger Blues begleitet ihre Annäherungsversuche, verspielt, verschämt, begehrend. Alles endet mit dem Zusammenschieben der Tische, der Abstand aber bleibt.

Auch die Musik Richard Wagners, die Ouvertüre aus seiner romantischen Oper Lohengrin, wird wunderbar instrumentalisiert, um das Social Distancing zu darzustellen. Zwei Paare in getrennten Szenen, zuerst Sayaka Kado und Daniel Myers, vermutlich in den Rollen von Ortrud und Friedrich von Telramund, und Manon Andral sowie Ramon John, hier in den vertauschten Rollen von Elsa und Lohengrin, spielten das Intrigenspiel der Macht und die Tragödie der Liebe: „Nie sollst du mich befragen, noch Wissens Sorge tragen, woher ich kam der Fahrt, noch wie mein Nam´ und Art.“ Welchen Bezug zur Corona-Tragödie könnte man mit dieser herausragenden Performance besser herstellen? Genial noch die Idee, die Geschlechterrollen zu tauschen, denn Corona kennt sie nicht.

Berührend das introspektive Spiel von Javier Ara Sauco mit eigener Musik und Produktion. In Anlehnung an den spanischen Maler El Greco durchlebte er das Niedere bis zum Höchsten. Von absoluter Stille bis zu sphärischen Klängen, die ihn mit tippelnden Schritten wie ein Engel über die Bühne gleiten ließ. Ein Schweben aber immer am Abgrund. Alles endet in Dunkelheit und übrig bleibt ein Schatten, der vergeht.

As small as a world, as large as alone, Isidora Markovic

Nähe und Ausgrenzung

Ohne Pause wechselt das Geschehen in The Circle, ein Kreis, „in dem“, so heißt es im Programm, „die Fantasie mit der Realität zusammenstößt“. Mit der Musik von Erik Satie tanzen Manon Andral, Ramon John und Masayoshi Katori in farbenfrohen Schottenkostümen und türkis-farbenem Fantasiegewand eine Performance von Zusammenhalt und Ausgrenzung. Der Kreis ist Brennpunkt von Nähe und Ferne. „Farben bluten im Dunkeln und Lächeln spiegelt sich als Stirnrunzeln wider,“, heißt es im Programm. Und sinngemäß weiter: Sicherheit wird zum Risiko und das Leben schläft mit dem Tod. Alles bewegt sich in stiller Kollision. Ein erschütternder Beitrag voller tief empfundener Empathie des Trios. Das einzige Stück, in dem die beiden Tänzer, sie leben in einer Wohngemeinschaft, lebendige Berührung tanzen durften, ließ die Isolation der Tänzerin in erschreckender Weise bewusst werden.

People´s Faces setzt auf die Vernunft und darauf, die Schönheiten des täglichen Lebens herauszufinden. Dazu tanzten sechs TänzerInnen (Manon Andral, Alessio Damiani, Francesc Nello Deakin, Nicolas Roger, Aurélie Patriarca und Matthias Vaucher) auf die Musik von Kae Wests gleichnamigen Song. „I love People to face it“ heißt es im Text, wozu eine lange Story gehört. Man könnte auch sagen: Menschen sollten zu dem stehen, was sie tun. Was aber bedeutet das unter den Corona Einschränkungen? Was bedeutet das für die Künstler? Dieser Frage ging jeder einzeln für sich nach, allerdings ohne eine Antwort zu geben. Wie auch?

Vier TänzerInnen, (Kristin Marja, Ómarsdóttir, Alessio Pirrone, Taulant Shehu, Vanessa Shield), suchen in Maybe some thing nach der „Synopsis“, nach dem Fazit all dessen, was um sie herum passiert. Rap und Techno begleiten ihre Choreographie, die im letzten Drittel in einen langsamen Puls wechselt und im Finale gänzlich übersteuert und in Verwirrung und Ratlosigkeit endet.  

Deep art, yours …
v .l.: Margaret Howard, Daniel Myers, Natalia Garcia Prieto

Die neue Welt wurde von Outcasts und Outlaws entdeckt. 

Und heute?

Im Kontrast dazu folgt die abschließende Nummer (Deep art, yours ...) mit Manon Andral, Natalia Garcia Prieto, Margret Howard, Sayaka Kado und einzigem Tänzer: Daniel Myers. Das Licht blendet die Zuschauer während die fünf Akteure mal solistisch, mal in Gruppen, mal zusammen nach der Musik von der Pop-Rockband Noisettes: Travelling Light aus dem Film Another Earth (2011) von Mike Cahill, tanzen. Dazu heißt es im Programmtext frei übersetzt: Die Entdeckungen der Vergangenheit, die unbekannten Welten wurden vor allem von "Madmen", von Outlaws gemacht. Auch wir sind ungeliebte Kandidaten, aber wir werden es sein, die eine neue Welt schaffen.

Mit viel Ironie, grellen Lichtspielen und wilden Tanzeinlagen schaffte dieser Abschluss doch ein wenig Zuversicht. Aber sind es nur die Outcasts, die Orphans (Waisenkinder), die Ex-convicts (Ex-Sträflinge), die eine neue Welt entdecken können? Vielleicht werden diejenigen mal geliebt, die heute am Rande der Gesellschaft stehen.

Diese farbig-grelle Abschluss-Performance setzte noch einmal ein Sahnehäubchen auf die wirklich tief ergreifende Vorstellung von 18 KünstlerInnen, die tanzten, Musik produzierten, Licht und Kostüme organisierten und vor allem einfallsreich und sensibel choreographierten. Sehr gelungen, voller Ideenreichtum und gedanklicher Tiefe in Reaktion auf die künstlerischen Folgen der Coronakrise. Dennoch bleibt mehr Trauer als Freude, mehr Entsetzen als Zuversicht und Hoffnung zurück. Wann hat dieser Spuk endlich ein Ende?

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