Startbahn I 2020, Ballettabend mit Choreographien der TänzerInnen des Hessischen Staatsballetts, Staatstheater Darmstadt, 23.09.2020
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| The Circle, v. l.: Manon Andral, Masayoshi Katori, Ramon John (Fotos: Staatstheater Darmstadt, De-Da-Productions) |
So klein
die Welt, so groß die Einsamkeit
Gespenstische Stille herrscht im nur spärlich besetzten großen Saal des Staatstheaters Darmstadt. Vielleicht 200 Personen, im Parkett sind gerade einmal knapp 90 Sitzplätze belegt, warten voller Erwartung auf ein neues Projekt von Startbahn 2020 unter den Bedingungen von Corona. Kann man unter der verordneten Berührungslosigkeit, den überbordenden Abstandsregeln, der Maskenpflicht und verbreiteten Ansteckungsangst überhaupt tänzerisch arbeiten und die Seelen der Menschen erreichen. Kann man ihre Sinne berühren?
Bereits Startbahn
2017 war ein voller Erfolg. Nun kehrt die Rhein-Main Kompanie mit 16
Choreographien für zwei Vorstellungen von Tänzerinnen und Tänzern des Balletts auf die Bühne zurück
und präsentiert eigens von ihnen produzierte Choreographien, mal mit
Solotänzen, mal im Pas de Deux, aber auch mit vier, fünf oder sechs Akteuren auf
der Bühne.
Startbahn
I 2020, nur um
dieses geht es, dauert 70 Minuten, besteht aus acht unter schiedlich langen
Choreographien (zwischen fünf und fünfzehn Minuten), die sich allesamt durch
klare Themengebung und höchst sensible Auseinandersetzung mit der Thematik
auszeichnen.
So findet Isidora
Markovic in ihrem selbst choreographierten Solotanz (As small as a world, as large as alone) und einer passenden
Musik von Sara Stevanović mit elektronisch eingespielten Klavierclustern,
Geräuschen und punktuellen Klangeinlagen, keine Antwort auf das gegenwärtige
Geschehen. „Rasende Versuche zu fliehen und etwas zu erreichen. (Bisher) keine
Antwort und keine Reflexion“, charakterisieren ihre hektischen, manchmal autistischen
Bewegungen in einem hellen Lichtkegel. Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit. Ein
abgehacktes Rauschen an einer metallenen Riesenwand lässt ihren eindrücklichen
Tanz in Stille und Dunkelheit enden.
„Nie sollst du mich befragen …“
Auch „Let´s
finallly meet“, getanzt oder besser gesagt gespielt von Alessio Pirrone
und Vanessa Shields unter der groovigen Musik von Tom Waits: The
piano has been Drinking (not me) gehört in die Kategorie der Suche nach
Nähe und Berührung. Die beiden Akteure sitzen auf Stühlen an zwei
gegenüberstehenden Tischen. Ein schräger Blues begleitet ihre
Annäherungsversuche, verspielt, verschämt, begehrend. Alles endet mit dem
Zusammenschieben der Tische, der Abstand aber bleibt.
Auch die
Musik Richard Wagners, die Ouvertüre aus seiner romantischen Oper Lohengrin,
wird wunderbar instrumentalisiert, um das Social Distancing zu darzustellen. Zwei
Paare in getrennten Szenen, zuerst Sayaka Kado und Daniel Myers,
vermutlich in den Rollen von Ortrud und Friedrich von Telramund, und Manon
Andral sowie Ramon John, hier in den vertauschten Rollen von Elsa
und Lohengrin, spielten das Intrigenspiel der Macht und die Tragödie der Liebe:
„Nie sollst du mich befragen, noch Wissens Sorge tragen, woher ich kam der
Fahrt, noch wie mein Nam´ und Art.“ Welchen Bezug zur Corona-Tragödie
könnte man mit dieser herausragenden Performance besser herstellen? Genial noch die Idee,
die Geschlechterrollen zu tauschen, denn Corona kennt sie nicht.
Berührend das introspektive Spiel von Javier Ara Sauco mit eigener Musik und Produktion. In Anlehnung an den spanischen Maler El Greco durchlebte er das Niedere bis zum Höchsten. Von absoluter Stille bis zu sphärischen Klängen, die ihn mit tippelnden Schritten wie ein Engel über die Bühne gleiten ließ. Ein Schweben aber immer am Abgrund. Alles endet in Dunkelheit und übrig bleibt ein Schatten, der vergeht.
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| As small as a world, as large as alone, Isidora Markovic |
Nähe und Ausgrenzung
Ohne Pause
wechselt das Geschehen in The Circle, ein Kreis, „in dem“, so heißt es
im Programm, „die Fantasie mit der Realität zusammenstößt“. Mit der Musik von Erik
Satie tanzen Manon Andral, Ramon John und Masayoshi Katori
in farbenfrohen Schottenkostümen und türkis-farbenem Fantasiegewand eine
Performance von Zusammenhalt und Ausgrenzung. Der Kreis ist Brennpunkt von Nähe
und Ferne. „Farben bluten im Dunkeln und Lächeln spiegelt sich als Stirnrunzeln
wider,“, heißt es im Programm. Und sinngemäß weiter: Sicherheit wird zum Risiko
und das Leben schläft mit dem Tod. Alles bewegt sich in stiller Kollision. Ein
erschütternder Beitrag voller tief empfundener Empathie des Trios. Das einzige
Stück, in dem die beiden Tänzer, sie leben in einer Wohngemeinschaft, lebendige Berührung tanzen durften, ließ die Isolation der Tänzerin in erschreckender
Weise bewusst werden.
People´s
Faces setzt auf die
Vernunft und darauf, die Schönheiten des täglichen Lebens herauszufinden. Dazu
tanzten sechs TänzerInnen (Manon Andral, Alessio Damiani, Francesc
Nello Deakin, Nicolas Roger, Aurélie Patriarca und Matthias
Vaucher) auf die Musik von Kae Wests gleichnamigen Song. „I love People to face it“ heißt es im Text, wozu eine
lange Story gehört. Man könnte auch sagen: Menschen sollten zu dem stehen, was
sie tun. Was aber bedeutet das unter den Corona Einschränkungen? Was bedeutet
das für die Künstler? Dieser Frage ging jeder einzeln für sich nach, allerdings ohne eine Antwort zu geben. Wie auch?
Vier TänzerInnen, (Kristin Marja, Ómarsdóttir, Alessio Pirrone, Taulant Shehu, Vanessa Shield), suchen in Maybe some thing nach der „Synopsis“, nach dem Fazit all dessen, was um sie herum passiert. Rap und Techno begleiten ihre Choreographie, die im letzten Drittel in einen langsamen Puls wechselt und im Finale gänzlich übersteuert und in Verwirrung und Ratlosigkeit endet.
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| Deep art, yours … v .l.: Margaret Howard, Daniel Myers, Natalia Garcia Prieto |
Die neue Welt wurde von Outcasts und Outlaws entdeckt.
Und heute?
Im Kontrast
dazu folgt die abschließende Nummer (Deep art, yours ...) mit Manon
Andral, Natalia Garcia Prieto, Margret Howard, Sayaka Kado
und einzigem Tänzer: Daniel Myers. Das Licht blendet die Zuschauer während
die fünf Akteure mal solistisch, mal in Gruppen, mal zusammen nach der Musik
von der Pop-Rockband Noisettes: Travelling Light aus dem Film Another Earth
(2011) von Mike Cahill, tanzen. Dazu heißt es im Programmtext frei übersetzt:
Die Entdeckungen der Vergangenheit, die unbekannten Welten wurden vor allem von "Madmen", von Outlaws gemacht. Auch wir sind ungeliebte Kandidaten, aber wir
werden es sein, die eine neue Welt schaffen.
Mit viel
Ironie, grellen Lichtspielen und wilden Tanzeinlagen schaffte dieser Abschluss
doch ein wenig Zuversicht. Aber sind es nur die Outcasts, die Orphans
(Waisenkinder), die Ex-convicts (Ex-Sträflinge), die eine neue Welt entdecken
können? Vielleicht werden diejenigen mal geliebt, die heute am Rande der
Gesellschaft stehen.
Diese
farbig-grelle Abschluss-Performance setzte noch einmal ein Sahnehäubchen auf die
wirklich tief ergreifende Vorstellung von 18 KünstlerInnen, die tanzten, Musik
produzierten, Licht und Kostüme organisierten und vor allem einfallsreich und sensibel
choreographierten. Sehr gelungen, voller Ideenreichtum und gedanklicher Tiefe in
Reaktion auf die künstlerischen Folgen der Coronakrise. Dennoch bleibt mehr
Trauer als Freude, mehr Entsetzen als Zuversicht und Hoffnung zurück. Wann hat dieser
Spuk endlich ein Ende?



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