Montag, 21. September 2020

STEGREIF.orchester interpretiert die Sinfonie Nr. 3 F-Dur (1883) von Johannes Brahms, Großer Saal der Alten Oper Frankfurt, 20.09.2020

STEGREIF.orchester, Foto: Alte Oper Frankfurt

Johannes Brahms: 3. Sinfonie im Stegreif

Es erübrigt sich, von den äußeren Bedingungen dieses Konzerts mit dem STEGREIF.orchester zu sprechen. Knapp vierhundert Menschen huschten durch den riesigen Saal der Alten Oper. Kommentare wie „trostlos“, „ungerecht, dass man nicht zusammensitzen darf“ oder gar „armselig“ waren aus der Stille herauszuhören. Dr. Klaus Albert Bauer, der Vorsitzende der Gesellschaft der Freunde der Alten Oper, bedankte sich in einer kurzen Vorrede dafür, dass wieder Konzerte in abgespecktem Format erlaubt seien, und der Gründer und Ideengeber von STEGREIF.orchester, Juri de Marco, freute sich „tierisch“, wieder spielen zu dürfen. Für ihn sei die Corona Krise ein „Geschenk“ für die Entwicklung neuer pandemiegerechter Aufführungschoreographien, wovon das heutige Konzert erste Eindrücke vermitteln sollte.

Dunkel wurde es und Nebel verbreitete sich im Saal als die 25 InstrumentalistInnen die Bühne betraten – alle mit Mundschutz – und ihre festen Positionen einnahmen. Elektronisch eingespielte Akkorde in F begleiteten den Aufmarsch, ehe einige Weckrufe von Violinen und Cellisten langsam aber stetig den Sonnenaufgang irgendwo in den Alpen ankündigten (vielleicht aus der Steiermark, wo sich Brahms gerne aufhielt, wobei diese Sinfonie bekanntlich in Wiesbaden geschrieben wurde). Dann ein herrliches Violinsolo mit dem dreitönigen „Vorhangmotiv“, F-As-F, dem dominanten Motiv des ersten Satzes der 3. Sinfonie, Allegro con brio, welcher hier mit Awakening umschrieben wurde. Immer wieder wurde das sinfonische Material mal in ein Menuetto im Dreivierteltakt, dann wieder in ein Cellosolo mit Gesang im Duktus der bulgarischen Volksmusik oder in einen schrägen Fünfachteltakt im rumänischen oder ungarischen Stil gepackt, ganz in Bartókscher Manier. Hauptthema und Seitenthema nie aus Blick verlierend folgten heftig dissonierende Free-Solo-Streicheinlagen bis zum Klarinettenruf, begleitet von Tenorsaxophon, Trompete und Horn, was, wie eine Reminiszenz auf das vorhergegangene Geschehen, den Satz in reinem F-Dur bei sanfter Schönheit ausklingen ließ.

Nahezu ohne Atem zu nehmen wird man in den zweiten Satz, Andante, hier in die Innerworld eingeführt. Eine Art Serenade im Viervierteltakt und in C-Dur geschrieben wird hier zunächst umgearbeitet zu einem Schlagzeugsolo mit Bassgeigen und E-Gitarre Begleitung. Ein Modern Jazz Part, der alsbald in das gesangliche Hauptthema dieses Satzes überleitet. Klarinette und Horn sind hier die dominanten Instrumente, immer von einem flirrenden Bordun der Streicher begleitet.

Der fließende Übergang zum dritten Satz, Allegretto, wird zum The Clock, einem Uhrwerk und unerbittlichen Zeitmesser, was jetzt das Geschehen bestimmt. Eigentlich gedacht als Scherzo mit synkopisch tickenden Bassfiguren, wird dieser Teil von dem Ensemble mit einer Roboter-Techno-Improvisation und Babygeschrei aus dem Off eingeleitet, um dann mit einem Solo-Gesang mit E-Gitarren Begleitung, ein Ruf wie aus der Wüste, endlich in das melodische Thema einzuführen. Viel Nebel, fetzige Posaunen und Trompeten Soli unter treibenden Paukenschlägen sowie eine abschließenden Horneinlage mit Holzinstrumentenbegleitung, führen diesen Satz dann zu einer Coda, die das Kopfmotiv wieder aufgreift und die Synkopen in roboterhaften Bewegungen der Akteure mit holpriger Grazie untermalt.

Liberation nennt sich der Schlusssatz, ursprünglich ein Allegro in f-Moll, der mit wilder Kakophonie eingeleitet zum etwas düsteren Hauptthema führt. E-Gitarre, Schlagzeug und Bass verantworten den punktierten Rhythmus, der von Celli und Streichern mit viel Swing und lateinamerikanischen Rhythmen ausgesponnen wird. Ein Bongo Einsatz mit Posaunen Solo gerät jetzt zu einem Salsa Event, das einige Zuschauer sogar beinahe zum Tanz verführt hätte (was aber zurzeit strengstens verboten ist). Die anfängliche Düsternis mit eingeschobenem Choral wandelt sich mehr und mehr zu einer ausgelassenen Freude und Heiterkeit, nicht aber ohne ein wenig Abschiedsstimmung. 

Die Bühne dunkelt ab, die Spieler drehen sich zur Wand und hervor tritt der Geiger, das Motiv des Kopfsatzes: F-As-F ausschmückend. Ein sinnlich melodischer Abschluss von 25 InstrumentalistInnen, die ihr gesamtes Herz und Seelenleben in diese Musik steckten und absolut authentisch ihre ureigene Interpretation von Johannes Brahms 3. Sinfonie vorstellten.

STEGREIF.orchester, (Foto: Alte Oper Frankfurt, Wonge Bergmann)

Authentisch aber mit angezogener Handbremse

Schade nur, dass durch die Corona Beschränkungen genau das, was diese Kompanie auszeichnet, nämlich viel körperliche Bewegung und eine ausgefeilte Performance, nicht stattfinden konnte. So wirkte die Vorstellung eigentlich nicht besonders neu und solitär. 

Bedenkt man, dass bereits ein Orchester Ballett Geneva Camerata existiert, das Musik von Wolfgang Amadeus Mozart bis hin zu Jean Baptiste Lully spielt und tanzt, oder denken wir an den kürzlich verstorbenen Frankfurter Komponisten und Mitbegründer der Happy New Ears Werkstattkonzerte, Hans Zender, der Musik von Franz Schubert oder Ludwig van Beethoven neu interpretiert bzw. interpretierende Kompositionen alter Meister erfolgreich gewagt hat. Nicht zu vergessenen Teodor Currentzis mit seinem Orchester MusicAeterna, der durch völlig abgefahrene Interpretationen alter Meisterwerke Furore machte. Nein, das ist nicht neu und schon allseits erprobt und für gut befunden.

Neu an dieser Kompanie ist eigentlich ihre jugendliche Energie und Unbefangenheit. Ihre inszenierte Musik, ihr Spieltrieb, ihre Emotion, die alle Fasern ihrer Motorik umfasst. Diese Truppe lebt von der Inspiration und ihrer spontanen Zuspielmusik. Sie braucht die Freiheit der Bewegung, die Unmittelbarkeit der Bühne und das Flair des Ortes und des Publikums. Das alles hat Corona-bedingt leider gefehlt. Man muss das STEGREIF.orchester einfach mal unter normalen Bedingungen erlebt haben … dann …

STEGREIF.orchester,
Foto: Alte Oper Frankfurt, Wonge Bergmann

Der neue Direktor Dr. Markus Fein macht Mut

Zumindest hatte man den Eindruck, dass mit angezogener Handbremse auf der Bühne agiert wurde. Die Musik war gut, das Zusammenspiel und die solistischen Einlagen ebenfalls stimmig. Der neue Direktor der Alten Oper Frankfurt, Dr. Markus Fein, meinte in einem Gespräch mit Dr. Klaus Albert Bauer, das STEGREIF.orchester glänze durch „Leichtigkeit, Humor, Intelligenz“. Ihre Musik sei „unglaublich organisch“, „unvorhersehbar“ und „zutiefst musikalisch“. Alles richtig und absolut nachvollziehbar. Ob aber die Corona Krise mit all ihren Folgen ein „Geschenk“ für diese Kompanie ist, wie es Juri de Marco eingangs formulierte, muss doch arg bezweifelt werden. Diese Truppe braucht kulturelle „Normalität“, damit sie sich entfalten kann. So ist die Gefahr groß, dass ihre lebendige Kreativität sehr schnell versiegen wird.

Apropos Normalität. Dr. Fein machte sich stark für Life-Konzerte. Er wolle alles Mögliche tun, um die Kultur wieder anzukurbeln, die darbende freie Kunstbranche wieder in Lohn und Brot zu bringen: „Wir lassen uns nicht klein kriegen!“, sagt er und hoffte, dass Corona sehr bald „an den Rand gedrängt“ werde. „Wir brauchen wieder Großveranstaltungen“, so sein Fazit. Digitalen Formaten stehe er skeptisch gegenüber. Sie könnten allenfalls ergänzend wirken, niemals aber das Life Erlebnis eines Konzerts ersetzen. Mutige Worte in diesen Zeiten, aber durchaus Mut machend.

 

 

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