5. Tanzfestival Rhein-Main 2020 vom 30.10. bis zum 15.11.2020, Motto: Fragile Balancen
New Ocean Sea Cycle, Ballet of Difference am Schauspiel Köln, Choreographie und Bühne von Richard Siegal, Staatstheater Darmstadt, Eröffnungsveranstaltung am 30.10.2020
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| Ballet of Difference am Schauspiel Köln, Foto: Tanzfestival Rhein Main 2020 |
Der neue Zwangsschlaf der Kultur
Man reibt sich mittlerweile die rot geriebenen Augen.
Eigentlich war die französische Kompanie Yoann Bourgeois mit Versuchte
Annäherung an einen Scheitelpunkt der Schwebe als Eröffnungsperformance
vorgesehen. Aus COVID-19 Gründen durfte sie aber nicht ausreisen und
freundlicherweise trat das Kölner Ballett mit New Ocean Sea Cycle von Richard
Siegal in die Bresche. Seit vergangenen Donnerstag aber ist es Fakt. Es
gibt in diesem Jahr kein Tanzfestival Rhein Main. Falsch. Bis morgen dürfen
noch drei Tanzperformances stattfinden: Noch einmal New Ocean Sea Cycle,
dann noch Habitat von Doris Uhlich im Frankfurt LAB, Body Boom Brain
von Pinsker+Bernhardt im Mousonturm und Horizonte von Alexander Whitley.
Das wars dann. Denn ab 01.11. ist Schicht im Schacht. Die Kultur wird wieder
einmal für einen vollen Monat in den Zwangsschlaf gezwungen.
Alle Verantwortlichen, Organisatoren und Intendanten sind
zutiefst traurig. Auf der Bühne stehen zunächst Matthias Pees, Chef des Künstlerhaus-Mousonturm, Karsten Wiegand, Intendant des Staatstheaters Darmstadt,
und Karin Wolff, vom Kulturfonds Rhein Main, und beklagen die Absage wie
die Corona-bedingten Folgen für Tänzer und selbstständige Künstler. „Es ist
ein Spiel ohne Spielregeln“, meint mit einem gewissen Hintersinn Frau Wolff und
fordert die „Sehnsucht nach Kultur“ ein. Vielleicht ahnt sie, dass es der
Kunst im Allgemeinen an den Kragen geht, denn fast schon beschwörend fordert sie das
Wachbleiben gegenüber der Kultur in der Hoffnung auf Besserung für die Zukunft.
Anna Wagner und Bruno Heynderickx, die Organisatoren des Festivals sprechen von der Angst in Permanenz während der Vorbereitungen dieses Ereignisses, eigentlich als Jubiläumsfeier konzipiert, und verweisen auf ihr niet- und nagelfestes Hygienekonzept im Vorfeld. Oder: „Haben wir doch nicht alles richtig gemacht?“, fragen sie sich: „Wir wollten doch einen Beitrag zur Eindämmung der Corona-Pandemie leisten – und jetzt das!“
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| Ballet of Difference am Schauspiel Köln, Foto: Tanzfestival Rhein Main 2020 |
Die Pandemie wird zur Krise des Körpers
Die Pandemie, fahren sie in ihrem Rededuett fort, sei
mittlerweile zu einer „Krise des Körpers“ mutiert. Angst beherrsche die Szene.
Eine Tänzerin habe im Vorfeld des Festivals geäußert, dass auf der Bühne zu
stehen für sie zu Corona-Zeiten wie ein Akt des Widerstands wirke. Gegen was
und gegen wen wohl, stellt sich die Frage? Mit Hinweis auf das Motto des
Festivals appellierte Bruno Heynderickx an die wenigen Gäste (kaum einhundert)
im Großen Saal des Staatstheaters: „Lasst uns weiter mit (!) Abstand und Hygiene kämpfen,
um nicht die Balance zu verlieren!“
Nun ja. Immerhin haben die großen Fonds und Stiftungen
versprochen, die Projekte trotz aller Widrigkeiten weiter zu unterstützen. Wie
lange noch? Das weiß niemand. Denn das Virus wird weiterbestehen. Ob unsere
Gesellschaft allerdings so weiterbesteht, steht mittlerweile in den Sternen.
Introvertiert und atomistisch
Nach einem ausgedehnten Blues des US-Amerikaners Taj
Mahal (*1942), ein Abgesang an diese Welt, beginnt die Performance mit drei
Tänzern – zwei Frauen ein Mann –, alle in schwarzen Strumpfhosen und
Brustbändern, die Frauen in Spitzenschuhen. Ein großer Kreis, von unten
angestrahlt, von weißgelb über blau bis schwarz, rahmt die riesige Bühne des
Staatstheaters und gibt der insgesamt sehr strukturarmen Choreographie inneren
Halt. Die TänzerInnen sind alle solistisch, um nicht zu sagen introvertiert und
atomistisch unterwegs.
Mit maximal acht TänzerInnen auf der Bühne sind in dieser
Erstaufführung zwei Zyklen von insgesamt vierzehn zu sehen, jeweils unterbrochen
durch besagten Blues, beide aber in Rahmen und Inhalt durchaus identisch.
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| Ballet of Difference am Schauspiel Köln, Foto: Tanzfestival Rhein Main 2020 |
Tanz gegen den Verlust des Gleichgewichts
Worum geht es eigentlich? Gedacht ist diese Performance nach
Aussage Richard Siegals als: „Tanz den Klimawandel!“ Eine Erinnerung an
die dringliche Krise der Umweltzerstörung jenseits der grassierenden Pandemie.
Es ist ein ständiger Kampf ums Gleichgewicht gegen die Schwerkräfte der Natur und
die Entscheidungen des Einzelnen darin. Tatsächlich sind die Szenen sehr
statisch konzipiert. Alle Bewegungen, oft komplex und von extremer athletischer Qualität, enden regelmäßig in Posings, in statuettenhaften Posituren,
einer klassischen Porzellanfigur ähnlich.
Ein System oder eine Aussage zu erkennen ist schwierig, denn
Wiederholungen und choreographische Zufälle gehören offensichtlich zur Absicht
dieses Zyklus´. Nebelschwaden bereichern zwar die Atmosphäre, schaffen aber zusätzlich wenig Klarsicht. Wie im Programm zu lesen, lässt sich Siegal von den Techniken
des US-amerikanischen Choreographen und Tänzer, Merce Cunningham (1919-2009),
inspirieren, der bereits in den 1960er Jahren gemeinsam mit dem Komponisten John
Cage computergesteuerte Zufallsprozesse in den Tanz einbaute und damit den Tanz
nicht nur revolutionierte, sondern auch völlig neue Bewegungsmöglichkeiten
eröffnete.
Siegal seinerseits hat einen Algorithmus entwickelt, mit dem
er glaubt, das schmelzende Eis der Pole in choreographische Muster umsetzen zu
können. Leider war das für den Zuschauer wenig bis gar nicht erkennbar. Im
Gegenteil. Man wurde, je länger der gut eineinhalbstündige Zyklus dauerte, das
Gefühl der Erstarrung nicht los. Auch litt die Variabilität zunehmend und
Langeweile beziehungsweise Unruhe machte sich breit.
Die Musik von Alva Noto und Ryuichi Sakamoto
reduzierte sich auf Unterwassergeräusche. Mal fühlte man sich als Taucher, mal
als Mitglied einer U-Boot-Crew. Ein ständiges Rauschen und Blubbern,
unterbrochen durch das pochende Berühren eines vermeintlichen Felsens oder Widerstandes
begleitete das ausgedehnte, entwicklungsarme Tanzgeschehen und unterstrich noch die Spannungsarmut.
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| Ballet of Difference am Schauspiel Köln, Foto: Tanzfestival Rhein Main 2020 |
Corona-Wahnsinn und Klimawandel, die Krisen des 21. Jahrhunderts?
Nur einmal standen alle TänzerInnen gemeinsam auf der Bühne
und beschworen den kritischen Zustand unseres Planeten. Einige mit
Mund-Nasen-Schutz (MNS), andere hatten ihn unters Kinn geschoben und wieder
andere waren ohne MNS.
Richtig ist: New Ocean Sea Cycle hatte Premiere im März
2019, zu einer Zeit also, wo Corona, zumindest für die breite Öffentlichkeit,
noch nicht einmal angedacht war. Welchen Bezug also sollte die Performance zum Motto des Tanzfestivals „fragile
Balancen“ haben? Siegal dazu: „In Kombination mit den Herausforderungen,
während einer Pandemie Live-Theater zu machen, spüre ich, dass diese Arbeit und
die Bedingungen, unter denen wir arbeiten, durch das Motto des Festivals fragile
Balancen gut repräsentiert werden.“ Diese Aufrichtigkeit ist zwar bemerkenswert
und nachvollziehbar, zumal tatsächlich von jedem der Akteure absolute Balance
gefordert war, aber die Atomisierung, Distanzierung, Hygienisierung,
Mechanisierung und Robotisierung in dieser Performance? Wollen wir das? Soll das die Zukunft des
Tanzes sein?
Merce Cunningham hätte das bestimmt nicht so gewollt, zumal
seine Zufallsideen eigentlich die Kreativität, die Wirkungsweise der Natur und
die Spontaneität der Bewegungsmöglichkeiten grenzenlos erweitern sollte. Das
aber geht nur mit Nähe, mit Berührung, mit Kommunikation und nicht zuletzt mit menschlicher Zuneigung und Liebe.
Nicht aber mit Abstand, falsch verstandener Hygiene und
social Distancing - was die wirkliche Erkenntnis aus dieser Eröffnungsvorstellung
ist, die zugleich auch den Abschluss eines wunderbar geplanten
Festival-Jubiläums einleitete, denn morgen Abend ist alles vorbei. Lasst bitte die
Gerichte sprechen.




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