Samstag, 17. Oktober 2020

Happy New Ears 2020: Portrait Claude Vivier (1948-1983), Werkstattkonzert mit dem Ensemble Modern in der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst (HfMDK), 16.10.2020

Claude Vivier im Jahre 1983 (Foto: br-klassik)

Auf der Suche nach Reinheit und Schönheit

Es war die erste „Corona“-Veranstaltung von Happy New Ears im großen Saal der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst (HfMDK), den seit letzter Saison beigetretenen Kooperationspartner dieser Werkstattkonzertreihe. Auch hier wieder unter den Krisenbedingungen das bereits bekannte „Maskenspiel“ (Christian Fausch) und übertriebene Abstandsvorgaben, mit gerade einmal 40 Besuchern und 10 Akteuren auf der Bühne. Na ja, ein Kommentar erübrigt sich.

Um wen ging es? Ach ja, Claude Vivier (1948-1983), den wohl bekanntesten und schillerndsten kanadischen Komponisten, Sohn unbekannter Eltern, seit den 1970er Jahren in Holland und Deutschland, beeinflusst von den Serialisten Gottfried Michael König (*1926) und Karlheinz Stockhausen (1928-2007), zeitlebens auf der Suche nach Schönheit und Reinheit und einer neuen Sensibilität, die er nur bei Kindern und Alten zu finden glaubte. Vivier, ein bekennender Homosexueller, wurde 1983 von einem Liebhaber in Paris ermordet.

Dieser Abend gehörte eher in die Kategorie Vorlesung. Der Moderator Stefan Drees, promovierter Musikwissenschaftler, sezierte in Kleinarbeit das vorgestellte Werk des Komponisten, die Lettura di Dante, das am 26. November 1974 in Montréal uraufgeführt, den internationalen Durchbruch des Komponisten einleitete. Trotz seines sehr kurzen Lebens hinterließ Vivier insgesamt 49 Werke unterschiedlichster Gattungen und gilt heute als der größte Komponist, den Kanada jemals hervorgebracht hat. (zumindest ist das aus dem Programm zu entnehmen)


Ein Gesang zwischen Hölle und Paradies

Drees demonstrierte an sechs Hörbeispielen – das siebenköpfige Ensemble unter der Leitung von Dirk Kaftan stand ihm dabei zur Seite – Entstehungsgeschichte, Deutungsmöglichkeit und Problemstellung dieses 26-minütigen szenischen Werks und hob den rituellen Charakter sowie die melodische Zellenstruktur, die aus sechs Abschnitten mit jeweils einer, zwei oder drei Noten besteht, hervor.

Vivier stützt sich, wie aus dem Titel des Werks hervorgeht, auf die Göttliche Komödie Dantes (entstanden um 1320) und erzählt die Geschichte des unglücklichen Autors, der in allen Belangen des Lebens gescheitert ist, vor dem Selbstmord steht und von Vergil den Weg ins Jenseits gewiesen bekommt, wo er durch die Hölle  über den Läuterungsberg bis ins Paradies findet und seiner geliebten Beatrice wieder begegnet. Vivier, dem diese Idee offensichtlich in einem italienischen Café während einer öffentlichen Rezitation eines Dante-Kenners kam, verarbeitet in dieser Komposition nicht allein seine ureigene persönliche Geschichte. So schreibt er in Handout dieser Musik, die er übrigens Peter Eötvös gewidmet hat: „Und auch diese Schönheit und Reinheit, die die Alten und Kinder in mir wachrufen, oder auch diese Todesnähe, die mir mein Vater und meine Mutter immer auferlegten. Die Vorstellung einer unerreichbaren Welt in einem Leben, das vollkommen vom Geld und von der Macht bestimmt ist. Ein Leben voller Einsamkeit.“  Nein, er macht darüber hinaus aus dieser Geschichte eine Musik ganz eigener und unverwechselbarer Klangstruktur. Melodisch mit fragmentierten Textpassagen, kontrapunktisch mit Elementen der Spektralmusik, dazu szenische Vorgaben, wie das Öffnen und Schließen eines Vorhangs oder das auf und Abblenden des Lichts bei speziellen Textstellen.

Claude Vivier 1980 in Montréal (Foto: klang-koeln)

„Ho visto Dio!“

Höhepunkt ist der Ruf der Sopranistin (dazu später) „Ho visto Dio“ (Ich habe Gott gesehen), gesprochen und dreizehn Mal wiederholt. Ansonsten versteht man kaum ein Wort, denn Vivier entsemantisiert die Gesänge, reduziert die Textzeilen zu Morsezeichen oder gar zu Zeichen der Gehörlosensprache, zugunsten einer engen Kommunikation mit den sieben Instrumentalisten, bestehend aus Oboe (Claire Colombo), Klarinette (Jaan Bossier), Fagott (Johannes Schwarz), Trompete (Sava Stoianov), Posaune (Michael Büttler), Schlagzeug (Rainer Römer) und Viola (Megumi Kasakawa). Sie agieren mal solistisch, mal in Gruppen, mal als Ensemble, immer in engem Kontakt zur Sopranistin, Sarah Maria Sun (in Frankfurt bereits bekannt durch ihre Rollen in Peter Eötvös´ Der golden Drache und in Rolf Riehms Oper Sirenen – Bilder des Begehrens), die mit einem warmen, vollen Sopran ohne jegliches Vibrato in jeder Beziehung einen Lichtpunkt darstellte.

Eindringlich ihre langen Haltetöne sowie ihre szenische Deklamation: Ich habe Gott gesehen!! Mal energisch gesprochen, mal gehaucht, dabei in helles Licht gehüllt mit auffallender Glorienbildung um ihre blonden Haare. Dazu muss festgehalten werden, dass man, so der Dirigent in einer kurzen Anfrage des „Moderator“, wegen Corona (?) auf den Vorhang verzichtete, wohingegen Frau Sun bemerkte, dass der Vorhang nur die Akustik gestört hätte. Alles in allem reduzierte man die Szene auf ein sehr einfaches Lichtspiel mit entsprechendem Dimmen (es beginnt im Dunkeln, wird gleißend hell in der Paradiesszene und wieder abgedimmt) bis zum energischen Schluss mit extrem herabfallenden Glissandi und ausufernden Fiorituren einzelner Instrumente wie der Oboe, der Klarinette oder der Trompete. Ansonsten pflegte man weiten Abstand voneinander - natürlich Corona bedingt.

Fazit des Abends: Man hat einiges erfahren über einen außergewöhnlichen Komponisten, dessen Kompositionen von vielen Künstlern, Komponisten und Dirigenten sehr geschätzt werden, aber einem breiteren Publikum zumindest in Deutschland weitestgehend unbekannt sind. Starke Bezüge zu Stockhausens Mantra von 1970 prägen dieses Werk, obwohl diese Musik, entgegen der bei Stockhausen vorherrschenden komplexen seriellen Formel (für zwei Klaviere geschrieben), eher sehr vereinfacht und melodisch geprägt ist, vor allem aber durch den Gesang sehr empathisch und intim zur Wirkung kommt. Sarah Maria Sun bewies hier gesanglich wie auch szenisch ihre Klasse und gehörte neben den perfekt eingespielten Ensemble Modern zum zentralen Erlebnis der doch insgesamt sehr akademischen, staubtrockenen Veranstaltung.

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