Rudolf Buchbinder, Klavierrezital im Großen Saal der Alten Oper Frankfurt, 15.10.2020 (eine Veranstaltung von PRO ARTE Frankfurt)
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| Rudolf Buchbinder in der Alten Oper Frankfurt (Foto: PRO ARTE, Ansgar Klostermann) |
Die Freude ist groß
Bereits im Januar dieses Jahres überzeugte Rudolf
Buchbinder mit einem Mammutprogramm durch die fünf Klavierkonzerte Ludwig
van Beethovens, das PRO ARTE zu verdanken war. Seine Absicht, zum 250.
Geburtstag seines Lieblingskomponisten, alle seine 32 Klaviersonaten in einem
durchlaufenden Zyklus zu spielen, musste allerdings wegen der Corona-Krise erst
einmal ad acta gelegt werden. Deshalb kann die Freude nicht groß genug sein,
ihn wenigsten mit drei Sonaten wieder im altehrwürdigen Großen Saal der Alten Oper
Frankfurt begrüßen zu dürfen.
Und es war ein denkwürdiges Rezital, das der wohl zurzeit weltweit
beste Beethoven-Interpret im leider wegen der Hygienemaßnahmen nur spärlich besuchten
Haus bot. Es klingt vermessen. Aber Rudolf Buchbinder präsentierte die
wohl drei berühmtesten, in jedem bürgerlichen Musikschrank vorhandenen und
selbst von weniger talentierten Pianisten häufig gespielten Sonaten: die Pathétique,
die Mondscheinsonate sowie die Appassionata, in einer Weise, wie
sie wohl noch nie gehört wurden.
Ein Pianist wächst in das Werk des Komponisten
Buchbinder, der in seiner Autobiographie Da Capo (2008)
wie auch in seinem Buch Mein Beethoven – Leben mit dem Meister (2014) immer
wieder seine besondere Affinität, ja Liebe zu Beethoven herausstreicht, wuchs
förmlich in jede der drei Sonaten hinein.
Gleich mit der Pathétique, die achte Sonate in
c-Moll op. 13 (1798/99), setzte er quasi ein sinfonisches Zeichen mit dem einleitenden
Grave und dem darauffolgenden Allegro di molto e con brio. Die
Trauermarschgestik, stilistisch der französischen Ouvertüre entnommen, wirkte
wie der Einstieg in eine tragische Oper. Ihr folgte im durchgehenden Staccato
ein höchstdramatischer, spannungsgeladener Fortsetzungsteil, zweimal
unterbrochen durch das wiederkehrende, finstere Grave der Einleitung.
Fantastisch.
Beethoven selbst belegt diese Sonate mit dem Epitheton Grande,
um wohl ihren sinfonischen Gestus hervorzuheben. Buchbinder brauchte kein Orchester,
er ersetzte es an den Tasten. Der langsame Satz, ein Adagio cantabile,
in einer dreiteiligen Liedform wie auch das abschließende Rondo Allegro
gehören zwar noch zum Konventionellen in Beethovens Schaffen, gerieten aber
unter den Händen des Pianisten in gleicher Weise zu einem gesanglichen Erlebnis
wie auch zu einer kraftvoll perlenden Schlussapotheose, was den Affekt des
Pathetischen nur noch unterstrich. Mit dieser Sonate hielt das Sinfonische
Einzug in die Klaviersonate und Rudolf Buchbinder gab diesem Gestus ein
besonderes Ausrufezeichen.
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| Rudolf Buchbinder in der Alten Oper Frankfurt (Foto: PRO ARTE, Ansgar Klostermann) |
Dem Sinfonischen folgt das Fantastische
Dem Sinfonischen folgte das Fantastische. Nur wenig später
entstand die sogenannte Mondscheinsonate, die Sonate cis-Moll, op. 27/2
(1800/01). So genannt, weil ihre Bezeichnung erst viele Jahre später (1829)
durch den Musikkritiker und Literaten, Ludwig Rellstab (1799-1860), bei einer
Rundfahrt um den Vierwaldstätter See geprägt wurde. Beethoven nannte sie dagegen
Sonata quasi una fantasia und setzte auch hier neue Maßstäbe.
Denn sie beginnt mit einem Adagio sostenuto und der
Angabe: „Dieses ganze Stück muss sehr zart und mit Pedal gespielt werden.“ Wo
ist der gewöhnliche Sonatenhauptsatz? fragt man sich, und muss feststellen,
dass Beethoven auch hier wieder die Formkonventionen radikal durchbricht und
eine Sonate konzipiert, die durchaus mit dem dramaturgischen Attribut per
aspera ad astra umschrieben werden kann. Einem fließenden Bächlein gleichenden
Pianissimo, Buchbinder streichelte förmlich die Tastatur ohne das
Dämpferpedal zu benutzen, folgt ein Allegretto, eigentlich ein Scherzo, „eine
Blume zwischen zwei Abgründen“ (so bezeichnete Franz Liszt einmal diesen 2.Teil
der Sonate), in der Interpretation Buchbinders hingegen eine vielfarbige
Orchidee mit herrlichen immer wechselnden Linien bzw. melodischen
Akzentuierungen. Dann ein Finalsatz, ein Presto agitato, der alles davor
Gehörte in den Schatten der Vergessenheit geraten lässt. Beethoven findet hier
zwar zur Sonatenform zurück ohne aber ihre Grundregeln (Spannungs-und Tonartwechsel
im Seitenthema) einzuhalten. Es ist genau genommen ein fulminantes in höchstem Erregungszustand
verfasstes Finale, das höchste Anforderungen an die Virtuosität stellt aber
auch Exaltiertheit und Emphase einfordert.
Buchbinder ist ein Phänomen. Trotz seines fortgeschrittenen
Alters glaubte man einen jungen Beethoven an den Tasten zu erleben. Nicht von
ungefähr ist die Sonate der Gräfin Giulietta Guiccardi gewidmet, die
Beethoven sehr verehrte und wohl auch liebte. Insofern kann ihr auch
autobiographische Absichten unterstellt werden. Zumindest aber gehört dieses
Werk bereits in die musikalische Klangwelt der Romantik und – nicht umsonst –
zum Beliebtesten dieser Gattung.
Die Leidenschaft, die Leiden schafft
Glaubt man, es könne keine Steigerung mehr geben, dann
belehrt uns Rudolf Buchbinder eines Besseren. Die Appassionata,
die Leidenschaftliche (der Beiname stammt vom Hamburger Verleger Alexander Cranz
aus dem Jahre 1838, bezeichnet aber präzise den Charakter dieser Sonate), hat
Beethoven 1804/05 geschrieben und seinem Freund und Gönner, dem Grafen Franz
von Brunswick, gewidmet.
Warum aber hat diese Sonate den Beinamen Appassionata
erhalten? Bereits der Musikwissenschaftler und Beethoven Kenner, Adolf Bernhard
Marx, beschrieb dieses Werk als „Aufschrei der Angst“ und „Sturm der Seele“. Es
ist, mit anderen Worten, ein Werk, dass die direkteste Selbstäußerung des
Komponisten darstellt. Es lässt tief in die Seele des Meisters schauen. Es sind die Jahre, in denen er zunehmend an
seinem Gehörleiden laboriert, sich mit Selbstmordgedanken trägt, unglückliche
Liebschaften erlebt, aber auch seine großen Sinfonien wie unter anderem die Eroica,
die Dritte, und die Schicksalssinfonie, die Fünfte, komponiert. Er
befindet sich in der „heroischen Periode“ seines viel zu kurzen und leidvollen Lebens.
Die Appassionata ist Spiegelbild seiner subjektiven Befindlichkeit und
radikaler Ausdruck seiner intimsten Emotionen.
Dreisätzig, formal die Sonatensatzkonventionen einhaltend,
gehört dieses Werk dennoch zum Avanciertesten des 19. Jahrhunderts. Es verlangt
vom Interpreten einfach alles ab, psychisch wie physisch.
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| Rudolf Buchbinder in der Alten Oper Frankfurt (Foto: PRO ARTE, Ansgar Klostermann) |
Buchbinder begann mit dem Allegro assai gleich fulminant in einer Art Rede und Gegenrede, das schicksalhafte Klopfmotiv (wer kennt es nicht aus der Fünften Sinfonie) hervorhebend, um in einer Klangkaskade abwärts das Gespräch vorerst zu beenden. Was folgen sind Akkordkaskaden im Fortissimo und heftig zitternde Triolenachtel bis zu einem gesanglichen Seitenthema in As-Dur. Ein heftiger Willensausbruch in der Schlussgruppe der Exposition wirkte wie ein verzweifelter Schrei eines Schiffsbrüchigen. Ein Kopfsatz, der Niemanden unberührt ließ. Buchbinder riss alle mit und verstand es, die abschließende Kadenz-Fantasie in ein Più Allegro zu überführen, ein Stretto im Fortissimo mit Klopfmotiv, heftigen Sforzati und ausklingendem Dreitonmotiv im Pianissimo, wie es so bisher zumindest vom Kritiker dieser Zeilen noch nie erlebt wurde.
Die sogenannte „Hymne an die Nacht“ (Silcher), eine
vierstimmige Variation in Des-Dur spielte Buchbinder gleich einem
Männerchor, indem er die Bass- und Baritonstimmen hervorhob und die
Sechszehntel und Zweiunddreißigstel Notierungen in einen fließenden Pianoteppich
kleidete. Einfach nur dolce bis
zur abfallenden Fortissimo Tonskala, die mit einem verminderten Septakkord und
einer langen Fermate das Wahnsinns-Finale einläutet.
Ein dämonisches, hochvirtuoses Finale mit einer apokalyptischen
Schlussstretta, die alles in den Schatten stellte. Buchbinder zog nicht allein
alle Register seines technischen und virtuosen Vermögens, nein, er wurde förmlich
zu Beethoven. Er verstand es, das Publikum in einen Menschen schauen zu lassen,
der die verhängnisvollen Kreisläufe des Lebens in manisch sich wiederholenden Figurationen
auslebt, die scheinbare Ausweglosigkeit bis zu einer Raserei treibt, die sich
in einem abschließenden Presto endgültig Luft verschafft. Eine
Schlusscoda, in der das thematische Material komprimiert noch einmal durch heftige
Sforzati herausgeschrien wird und in dramatischen gegenläufigen gebrochenen
Vierklängen und in drei kadenzierten Achtfach-Akkorden in f-Moll endet.
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| Schlussapplaus in der Alten Oper Frankfurt, Foto: Ansgar Klostermann |
Ein Vorbild für alle lebenden und zukünftigen Pianisten
Oh Gott, möchte man rufen, was hat du uns angetan.
Buchbinder ein Hexer und Wahrsager zugleich. Er verzauberte das Publikum und
zeigte hörbar anschaulich, wie sich inneres Seelenleben in Musik umsetzen lässt
und zum Ausdruck bringen kann, dass sich Leid und Hoffnung nicht ausschließen,
sondern gegenseitig ergänzen.
Seine Zugabe, das Finale aus Beethovens sogenannter Sturmsonate,
op.31 Nr.2 (1801/2), bestätigte einmal mehr die Ausnahmeerscheinung des
Pianisten und Beethovenspezialisten. Rudolf Buchbinder, der übrigens
ohne Maske die Bühne beherrschte, welch eine Wohltat, ist bereits zu Lebzeiten
legendärer Vertreter Ludwig van Beethovens und hat bis heute seine
Lebendigkeit, Kraft und Ausstrahlung, neben seiner pianistischen Brillanz,
erhalten. Ein Vorbild für alle lebenden und zukünftigen Pianisten.




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