Freitag, 8. Januar 2021

 



Einführung zu meinem Buch: Fortschritt in der Musik am Beispiel der Darmstädter Ferienkurse von 1946 bis 1985 

(Dieser gekürzte und etwas veränderte Text sollte die Disputatio zur Erlangung des Doktortitels einleiten)

 

Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser,

Drei Fragen zum Fortschritt in der Musik möchte ich einleitend anreißen, bevor ich mein Buch - ISBN13, 9783347192355, tredition-Verlag 12/2020 - vorstelle:

 

1.     Was heißt überhaupt Fortschritt in der Musik unter den Bedingungen einer sich globalisierenden Weltgesellschaft?

 

2.  Welche Bedeutung kommt vor allem der Musik in einer fortschreitenden gesellschaftlichen, wissenschaftlich-technischen und menschlichen Entwicklung zu?

 

3.     In welchem dialektischen Verhältnis steht fortschrittliche Musik zum Publikum?

 

Zunächst ist festzuhalten, dass es d e n Fortschritt in der Musik nicht gibt, allenfalls ein ständiges Fortschreiten mit und in der Zeit. Dies schließt, was die globalisierte Weltgesellschaft ebenfalls betrifft, Rückschritte nicht aus, wenngleich aus der Perspektive des Fortschritts das Noch-Nicht des Zukünftigen im Sinne der stetigen Fortentwicklung der Menschheit auf geistigem, kulturellem und humanem Gebiet durchaus im Vordergrund steht. Verwiesen sei hier an Hegels Annahme, wonach der dialektisch-historische Prozess zu einer immer größeren Vervollkommnung aller mit dem Menschen verbundenen Geschehnisse führe.

Natürlich kann Kunst und Musik das Fortschreiten der sich globalisierenden Weltgesellschaft nicht oder nur marginal beeinflussen. Was sie aber kann, das ist, sich als legitime Äußerung des Mit-und-in-der-Zeit-Seins zu begreifen. Insofern versteht sich Fortschritt in der Musik als Ausdruck ernsthaften Bemühens von Musikern und Komponisten, sich mit den Problemen unserer Zeit zumindest musikästhetisch auseinanderzusetzen.

In der heutigen Situation bedeutet das also, dass der Begriff des Fortschritts in der Musik weder ein optimistischer noch ein pessimistischer sein muss, sondern vielmehr einer, der sich als ein Fortschreiten in und mit der Zeit versteht. Anders formuliert: Avantgardistische, fortschrittliche Musik gibt sich nicht zufrieden mit dem was gewesen ist, noch mit dem was heute ist. Sie stellt sich vielmehr die immerwährende Frage nach dem, was Musik überhaupt bezweckt, wohin es sie treibt, wie sie sich letztendlich sowohl in der Tradition als auch im geschichtlichen Kontext versteht. Insofern ist sie sich dessen bewusst, dass sich, selbst wenn der Schreckensengel des Fortschritts vorherrschen sollte, um bei einem Bild von Walter Benjamin zu bleiben, die Lösung nicht ein Rückwärts-Schauen oder -Gehen sein kann, sondern nur in einem nach Vorne zu suchen ist.

Das Beispiel aus Dürrenmatts Novelle „Der Tunnel“ (1952) scheint hier eine eindrucksvolle Metapher zu bieten. Lösungen ergeben sich nicht, indem man aus Ängstlichkeit, den Tunnelausgang nicht finden zu können, wieder in Richtung Tunneleingang geht, sondern allein in der Hoffnung auf einen Tunnelausgang. Selbst, wenn der Tunnelausgang ungewiss ist. Wer aber glaubt, nicht mehr fragen zu müssen, verzichtet von vornherein auf jeglichen Fortschritt und damit auf jegliche Hoffnung.

Daran schließt sich die zweite Frage an:

Musik, aus der Perspektive des Fortschritts, will nach vorne schauen. Ihr Ideal orientiert sich im weitesten Sinne an dem des technischen, wissenschaftlichen, politischen, ökonomischen, kurz: am gesellschaftlichen Fortschritt. Dementsprechend macht sie vor allem seit dem frühen 20. Jahrhundert eine rasante Stilentwicklung durch, die sich mit den Begriffen der Atonalität, Dodekaphonie, Serialität, Musique concrète, musique concrète instrumentale, elektronischen Musik, Spektralmusik, Klangfarben- und elektroakustischen-Musik – um nur die wichtigsten zu nennen – zwar beschreiben lässt, aber bei der Vielfalt des Fortschritts notgedrungen Lücken offenlassen muss.

Was aber will fortschrittliche Musik eigentlich? Will sie sich dem Neuesten anbiedern, up to date sein als Inbegriff des aktuellen Konsumideals? Soll sich ihr künstlerischer Wert an ihrem Konsum, an den Verkaufszahlen messen? Soll sich ihr Fortschritt an der neuesten Mode orientieren?

Natürlich nicht. Das Primat der vom Konsum geprägten Gesellschaft erfordert zwar scheinbar eine Musik, die sich diesem Primat anpasst, was aber nicht heißen darf, dass Musik sich dem Geschmacksniveau einer breiten Masse unterwerfen muss, um zu bestehen. Andererseits ist sie, um sich überhaupt verwirklichen zu können, weitgehend angewiesen auf die Hilfe gesellschaftlicher Mächte und Institutionen, kurz: auf die Aufträge kapitalbesitzender Unternehmer und Mäzene, oder im besten Falle auf staatlich verteilte Gelder (Kulturförderfonds).

Dennoch: Bei der fortschrittlichen Musik geht es primär darum, nie dagewesene neuartige Werke zu komponieren, die sich aufgrund ihrer Einzigartigkeit zunächst nur einem kleinen Teil der Rezipienten, wesentlich den Musikkennern erschließen, aber mit der Zeit durchaus von einem größeren Hörerkreis verstanden und geschätzt werden können.

Was das fortgeschrittenste Werk auszeichnet ist, dass es von einem zeitgenössischen Künstler stammt und sich auf dem fortgeschrittensten Stand des Materials befindet. Unabhängig von der Kritik, der Ablehnung oder Zustimmung, gilt immer das „tua res agitur“, (deine Sache wird verhandelt), das jedes Kunstwerk von Rang uns entgegenhält. Das bedeutet: Wir müssen das aktuelle Musikwerk, wenn es denn seinem Anspruch gerecht werden will, verhandeln, kommunizieren, kritisieren und einordnen, auch wenn dies nicht immer einfach ist.

Es stellt sich also zum Dritten die Frage des Verhältnisses von Publikum und Musikwerk.

Das fortgeschrittenste Musikwerk heute muss sich die Frage des Zustands der Epoche, der Ortsbestimmung in der Gesellschaft und ihrer Funktion in der heutigen Welt stellen. Nur so kann es seinem Anspruch, fortschrittlich (avantgardistisch) zu sein, überhaupt gerecht werden.

Das bedeutet konkret: Es muss sich kritisch zur technisch-wissenschaftlichen Welt und zur politisch-ökonomischen Globalisierung verhalten, die der Mensch heute weitgehend als Zwangsordnung, in die er eingespannt ist, erlebt und die er durch ausufernde Freizeitgestaltung und extensiven Konsum auszugleichen versucht. Das fortgeschrittenste Musikwerk sollte sich als Gegenort zu dieser Zwangsordnung verstehen und die freiheitlichen, humanen und emanzipativen Ideale stimmig, nachvollziehbar und mit zeitbedingten Mitteln und Materialien zum Ausdruck bringen.

Meinte Adorno noch, dass das Musikwerk als solches dieses Ideal zu verwirklichen habe, so ist es im 21. Jahrhundert vor allem auch der Rezipient, der als aktiv Handelnder in das Musikwerk mit einzubeziehen ist. Der Hörer soll aus seiner alten Rolle heraustreten und an der Prozesshaftigkeit, gar am Entstehungsprozess des Musikwerks teilhaben. Verwirklicht ist dies z. T. schon zwischen Interpreten und Komponist. Erinnert sei aber auch an John Cage, Earle Brown, La Monte Young oder Terry Riley, die bereits Mitte des vorigen Jahrhunderts Kunst, Musik und Leben miteinander identifizierten, ihre künstlerische Tätigkeit radikal als Gegenort der Zwangsordnung verstanden und den Unterschied zwischen Komponist/Künstler und Rezipient radikal infrage gestellt haben.

 

Bemerkungen zum Buch:

Der Fortschritt in der Musik ist heute genauso umstritten wie allgemein in der Gesellschaft und wenn man heute über Fortschritt reden möchte, gerät man automatisch an eine Wand des verständnislosen Schweigens, oder aber umgekehrt an ein entrüstetes Widersprechen in dem Sinne: Wer heute noch von Fortschritt spricht, der ist ein unverbesserlicher Idealist, ein Eiferer, ein fundamentaler Gläubiger, bestenfalls einer, der im Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts hängen geblieben ist, ein Rückwärtsgewandter, ein Traditionalist (im schlechten Sinne).

Wer sich wissenschaftlich mit dem Fortschritt auseinandersetzen möchte, hat ständig das Problem vor Augen, mit einem Begriff operieren zu sollen, der vielfach ideologisch, heute aber leider nahezu nur noch negativ besetzt ist.

Vor dieser Tatsache habe ich meine Untersuchungen auf den Darmstädter Ferienkursen vorgenommen und festgestellt, dass sie seit ihrer Gründung 1946, konkret seit 1948 einzigartigen paradigmatischen westeuropäischen Ort der musikalischen Fortschrittsdiskussion repräsentiert hat.

Die Diskussion vor allem in den 1950er und 1960er Jahren war geprägt von den Folgen des Nazismus, des ökonomischen Aufbruchs, des Kalten Krieges, der Angst vor der Atombombe, der moralisch-ethischen Neujustierung der Gesellschaft, und damit der Frage, welche Aufgabe die Musik, vor allem die fortgeschrittenste Musik, in diesem Kontext zu erfüllen habe.

Diskussionsbeiträge auf den Ferienkursen von Ernst Krenek, Hans Mayer, Theodor W. Adorno, Wolfgang Steinecke, Herbert Eimert, Louis Saguer, Hans-Heinz Stuckenschmidt, Heinrich Strobel, Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez, Luigi Nono und anderen belegen diese Zusammenhänge eindrucksvoll und geben einen Hinweis darauf, wie das Verständnis von Fortschritt in der Musik eng verknüpft ist mit dem allgemeinen Verständnis von Fortschritt in anderen Bereichen der Gesellschaft.

Die 1970er und 1980er Jahre sind vor allem durch den Aufruhr der Jugend in der westlichen Welt, dem Vietnamkrieg, der Legitimationskrise des westlichen wie östlichen Machtblocks durch diverse Kriege und Gewaltaktionen sowie dem parallel dazu anwachsenden Konsumismus in der westlichen Welt geprägt, was ebenfalls in der Diskussion über den musikalischen Fortschritt zum Ausdruck kommt.

Beiträge von Carl Dahlhaus, Hellmuth Kühn, Pierre Boulez, Mauricio Kagel, Ernst Krenek, Harry Halbreich, Hans G Helms, Konrad Boehmer, Karlheinz Stockhausen, Max Nyffeler, Heinz-Klaus Metzger, Helmut Lachenmann, Wolfgang Rihm, Hans-Jürgen von Bose, György Ligeti, Karel Goeyvaerts und anderen belegen auch hier den engen Kontext dieser Diskussion mit den allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen.

 

Die sich Mitte der 1970er Jahre durchsetzende Postmoderne setzt der Fortschrittsdiskussion ein Ende.

Man sieht im Fortschrittsdenken den gescheiterten Versuch des Projekts Moderne, die Freiheit, Emanzipation und Humanität versprochen, aber davon nichts eingehalten hat. Man ist enttäuscht und sucht neue Wege, weg vom Fortschritt, weg von Heilversprechen, Idealen, Utopien, hin zu dem realen Gegebenem, das zwar nicht unbedingt gut, aber eben auch nicht zu ändern ist.

Mit dem unbekümmerten Griff zum musikalisch Schönen, auf Konsonanzen, Tonalität und tradierte Stile zurückgreifend, versuchen Teile der Avantgarde die verlorene Akzeptanz „fortgeschrittenster“ Musik wiederzugewinnen. Andere wiederum sehen darin eine schlichte Anbiederung an die schlechte Öffentlichkeit durch „neoarchaische Zurichtung“ musikalischer Arrangements.

Die Frage stellt sich für Darmstadt und damit für die Diskussion über den musikalischen Fortschritt seit Mitte der 1980er Jahre: 

Is Darmstadt alive? Kann Darmstadt überhaupt noch überleben?

Darmstadt vive ancora (Antonio Trudu, Darmstadt lebt immer noch), wie wir heute wissen. Allerdings sind die 1980er und 1990er Jahre durch Richtungslosigkeit, Pluralität und Stilvielfalt gekennzeichnet. Alles ist möglich, schreibt dazu der Musikkritiker Wolf-Eberhard von Lewinski, aber kaum einer wisse die Möglichkeiten, diese Freiheiten in echte kompositorische Resultate umzumünzen.

Der Postmoderne fehlt es an Richtung und Schärfe, an Theorie- und Erkenntniswillen. Aber ein Vorwärts, wie oben bereits ausgeführt, ist unumgänglich, auch für die Musik. Denn wer nach rückwärts schaut, begibt sich der Chance, um auf die Tunnel-Metapher zurückzukommen, hoffnungsvoll auf den Ausgang zuzustreben und nach dem Besseren zu suchen.

Zurückzugehen heißt, schreibt dazu der Züricher Musikwissenschaftler Kurt von Fischer, nicht mehr fragen zu wollen. Wer aber darauf verzichtet, verzichtet auf den Fortschritt und damit auf die Hoffnung.


Folgende fünf Thesen sollen das Thema bündeln und zum Nachdenken anregen:

1.     Die Fortschrittsidee in der Musik erwächst historisch aus dem aufklärerischen Ideal, wonach der technisch-wissenschaftliche Fortschritt automatisch den Fortschritt der Menschheit auf dem Gebiet der Sittlichkeit, Emanzipation, Freiheit und Humanität miteinschließt.

Das bedeutet für die am Fortschritt orientierte Musik bis heute, dass sie sich die Aufgabe zum Besseren stellen sollte.

Am Fortschritt orientierte Komponisten sollten sich von der Überlegung leiten lassen, dass ihre Werke den künstlerischen Wert eben nicht allein vom immer Besseren, immer Komplexeren, immer „Schöneren“ beziehen, sondern, vielmehr davon, dass sie die wirkliche Welt wahrhaftig, kritisch, richtig, echt und damit stimmig widerspiegeln und gleichzeitig über sie visionär hinausweisen 

 

2.     Die Diskussion über den Fortschritt in der Musik auf den Ferienkursen war immer eine, die die Dialektik von Autonomie und „fait social“ ausgetragen hat. Insofern ist sie Ausdruck sowohl des technisch-wissenschaftlichen wie auch des politisch-wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritts.

Bis zum heutigen Tag sind die Darmstädter Ferienkurse ein Ort der „Krisengeschichte“ der neuen Musik geblieben. Bis zum Jahre 1985 lässt sich festhalten, dass die unterschiedlichen Musikstile bzw. Kompositionsprinzipien wie Dodekaphonie, Serialismus, Aleatorik, Postserialismus, Spektralismus, Strukturalismus, Komplexismus, Minimalismus etc. durchaus im Kontext der wissenschaftlich-technischen sowie gesellschaftlichen Entwicklung der Nachkriegszeit betrachtet werden können.

Wirklich fortschrittliche Musik dieser Jahre zeichnet sich dadurch aus, dass sie die wissenschaftlich-technischen Fortschritte materialiter in sich aufnimmt und gesellschaftliche Entwicklungstendenzen kritisch-ästhetisch verarbeitet.


3.     Die Frage nach dem reinen Materialfortschritt in der Musik widerspricht der Fortschrittsidee. Der von Adorno postulierte fortgeschrittenste Stand des Materials als Inbegriff einer fortschrittlichen Musik ist immer im Kontext des gesellschaftlichen Fortschritts zu sehen. Musik dieser Art orientiert sich an der Vervollkommnung des Menschen sowie der menschlichen Gesellschaft.

Es lässt sich für die fortschrittliche Musik festhalten, dass sie keinesfalls auf den fortgeschrittensten Stand des Materials allein zu reduzieren ist. Der Begriff ist vor allem historisch zu verstehen. Er ist sedimentierter Geist, gesellschaftlich konnotiert und durch das Bewusstsein des Menschen präformiert.

Insofern schließt er Erkenntnis, Reflexion und kritische Auseinandersetzung mit den gegebenen Verhältnissen unweigerlich mit ein. Der Komponist, der sich am fortgeschrittensten Stand des Materials orientiert, ist somit in seiner Produktion sowohl an die Voraussetzungen der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse gebunden, als auch ist das „Allersubjektivste“ (Adorno) seines Werkes immer auch gesellschaftlich vermittelt.

So wäre der Rückgriff auf tonales Material im Sinne des Materialfortschritts dann akzeptabel, wenn er nicht zur Wiederherstellung jenes alten ästhetischen Kodex beiträgt, den Adorno vormals zu Recht als „neudeutsches Relikt“ kritisiert hat. Oder positiv formuliert: Wenn das tonale Material, als historisch gewachsenes musikalisches Material, durch den Kompositionsprozess gebrochen, aus seinem strukturellen Zusammenhang gerissen und neuer kritischer, befreiter Wahrnehmung zugeführt wird, dann wäre das Kriterium des fortgeschrittensten Stands des Materials weitgehend erfüllt.

 

4.     Die Darmstädter Ferienkurse zeigen auf, dass die Diskussion über den musikalischen Fortschritt an historischen Knotenstellen verläuft. Der Postmodernismus, als letzte Knotenstelle in diesem Buch, ist spätestens seit Anfang des 3. Jahrtausends, obsolet geworden. Eine neue Phase der Diskussion über den Fortschritt hat bereits unter dem Stichwort „Zweite Moderne“ (manche sprechen von „Neo-Moderne“) eingesetzt.

Adorno schreibt in der Ästhetischen Theorie: „Die Schwierigkeit, über den Fortschritt von Kunst generell zu urteilen ist eine der Struktur ihrer Geschichte. Diese ist inhomogen. [...]. Die Geschichte von Kunst hat eher Knotenstellen.“[1]

Knotenstellen gibt es demnach immer dann, wenn technische, wissenschaftliche und humane Möglichkeiten mit den staatlichen, institutionellen und machtpolitischen Bedingungen in Konflikt geraten. Für den Fortschritt in der Musik bedeutet das, dass er historisch dann Bedeutung gewinnt, wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse diskontinuierlich, konfliktreich und inhomogen verlaufen, „abrupte Strukturveränderungen“ (Adorno) auftreten; im Umkehrschluss immer dann an Bedeutung verliert, wenn gesellschaftliche Kontinuität und Homogenität herrschen.

Ersteres lässt sich für die Nachkriegszeit zwischen 1946 und 1970 nachweisen, letzteres für die Zeit etwa von 1975 bis Mitte der 1990er Jahre. Anschließend wachsen die Konflikte nachweislich wieder an und zwar zum ersten Mal in der Geschichte global.

Mit dem Begriff der „Zweiten Moderne“ (1996 geprägt von den Soziologen Ulrich Beck und Heinrich Klotz) sucht man in der Kunst/Musik nach einer Synthese von Erster-Moderne und Post-Moderne unter den neu aufgetretenen globalen gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen.

Die Idee des Fortschritts, v. a. durch Peter Ruzicka und Claus-Steffen Mahnkopf vertreten, bekommt vor dem Hintergrund des „Scheiterns der Postmoderne“ neue Bedeutung und scheint die Diskussion über den Fortschritt in der Musik, wenn auch bisher weitgehend außerhalb der Ferienkurse, neu zu beflügeln.

 

5.     Der Begriff des Fortschritts wird heute nahezu ausschließlich noch im Bereich der Technik und Wissenschaft verwendet. Der humane, emanzipative, freiheitliche wie sittliche Fortschrittsbegriff ist scheinbar obsolet, ja er wird allenthalben abgelehnt. Dennoch: Der Fortschritt als Sinngebung menschlichen Lebens ist nicht aus der Welt zu schaffen. Es kommt darauf an, im Fortschreiten der Menschheit neue Ziele zu setzen, Ziele, die den ursprünglichen Elementen der Fortschrittsidee durchaus ähnlich sind.

Die Vertreter der „Zweiten Moderne“ sind zur Erkenntnis gelangt, dass Kunst und Musik nach dem Scheitern der Postmoderne ohne ein Konzept von Fortschritt nicht auskommen, und dass dem anything goes mit dem Mut eines wertenden Umgangs mit Kunst und damit auch mit der Tradition entgegengearbeitet werden sollte. 

Allerdings versucht man, mit der Idee des „Diskurses der Vernünftigen“ dem Dogmatismus und der Intoleranz der Fortschrittsidee entgegenzutreten, und verleiht jetzt der Fortschrittsdiskussion eine kommunikations- und rezeptionsästhetische Komponente.

Dazu gesellt sich auch der Begriff der „reflexiven Moderne“ (Harry Lehmann), der musikästhetisch eine gemäßigte, konstruktive Gesellschaftskritik enthält, aber durchaus mit einem fortschrittlichen Anspruch an Musik verbunden ist.[2]


Eine neue Art von Kunst und Musik soll entstehen. Aber welche Art von Kunst/Musik müsste das sein?

Eine, die die Welt in sich präsent werden lassen muss. Eine, die den sedimentierten Geist des Materials wiederbelebt, die Tätigkeit des Komponisten wieder in den notwendigen gesellschaftlichen Kontext stellt und musikästhetisch auf Besseres hinweist.

Wenn die philosophische Hermeneutik stimmt, wonach der Mensch, wann immer er überhaupt denkend Stellung bezieht, eine Zukunft antizipiert, um seine Gegenwart bewerten und seine Vergangenheit deuten zu können, dann ist das das eigentliche Verständnis des Fortschritts in der Kunst und Musik und dann könnte man mit dem Begriff guten Gewissens operieren, denn dann zeichnet sich ein fortschrittliches Musikwerk dadurch aus, dass es mit zeitbedingten Materialien und Mitteln hergestellt und insofern stimmig ist, als es vom ernsten Willen des Komponisten getragen ist, sich über das Werk kritisch mit den Problemen unserer Zeit auseinanderzusetzen.

Und das wäre unter den gegenwärtigen globalen Bedingungen notwendiger denn je.

 



[1] Adorno, Th. W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt 1974, S. 310 und S. 311

[2] Lehmann, Harry: Avantgarde heute – ein Theoriemodell der ästhetischen Moderne, in: Musik und Ästhetik 2006, April, S. 21 und S. 27

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