36. Rheingau Musik Festival vom 24.06. bis zum
02.09.2023
Anna Vinnitskaya, Klavierrezital im Schloss Johannisberg, 27.06.2023
Anna Vinnitskaya (Foto: Ansgar Klostermann) |
Ein großes Erlebnis
Ein Ambiente zum Genießen. Der Fürst-von-Metternich-Saal auf Schloss Johannisberg konnte nach dreijähriger Corona bedingter Abstinenz
wieder betreten werden. Welch ein Erlebnis. Und dann Anna Vinnitskaya (*1983),
seit 2008 Gast beim Rheingau Musik Festival (RMF), mit einem umwerfend schönen
Klavierprogramm zwischen herrlicher Lyrik, spannungsgeladenen Erzählungen und
apokalyptischen Drohungen. Eingepackt in eine tänzerische Performance und eine
bühnenhafte Theatralik.
Vier Komponisten hatte die russische Tastenkünstlerin dafür
ausgewählt: César Franck (1822-1890), Alexander Skrjabin (1872-1915), Frederic
Chopin (1810-1849) sowie Maurice Ravel (1875-1937)
Ein polychromes Gemälde auf den Tasten
Zunächst das Triptychon Prélude, Fugue et Variation
h-Moll op.18 (1864), das Franck seinem Freund und Vorbild Camille Saint Saëns
gewidmet und sowohl für Klavier wie auch für Orgel und Harmonium konzipiert
hat. Aktuell in einer Abschrift von 2013 von Theo Wegmann (*1951), einem Schweizer
Komponisten und Organisten.
Tatsächlich ähnelt dieses Werk stark einer Orgelkomposition, ist in sich geschlossen in einer ABA´-Form geschrieben und wird dominiert von oktavierten Klängen und farbigen Registern. Und gerade hier zeigte Anna Vinnitskaya (*1983) bereits ihre pianistische Meisterschaft. Sie zeichnete förmlich ein polychromes Gemälde auf den Tasten, gestaltenreich und farbenprächtig. Und das mit großer Ruhe und Gelassenheit. Eine erhabene Stimmung, die sie mit dieser Interpretation im vollbesetzten Fürst-von-Metternich-Saal ausbreitete.
Anna Vinnitskaya (Foto: Ansgar Klostermann) |
Zwischen Wahnsinn und Genialität
Dann folgten vier Werke Alexander Skrjabins. Ein „Wiener“ Walzer f-Moll op.1, den Skrjabin als Teenie von 14-Jahren schrieb und den Frédéric Chopin nicht besser hätte kreieren können; eine Fantasie op.28 (1900), tief romantisch, expressiv und mit einem Hang zur freien Tonalität, eine Fantasie, von der behauptet wird, Skrjabin habe sie bereits nach der Fertigstellung vergessen und nie wieder gespielt. Zwei extrem kontrastierenden Poems op.32 (1903) zwischen lyrischer Innerlichkeit und überbordender Zuversicht angesiedelt, zeigten das dichterische Talent des Komponisten. Viele seiner Werke sind bekanntlich mit eigenen Versen unterlegt. So auch die 5. Klaviersonate Fis-Dur (1907), dem Skrjabin sein Gedicht Le Poeme de l´extase zur Programmatik unterlegt hat. Ein elf-minütiges Werk zwischen Wahnsinn und Genialität, zwischen Horrortraum, Trauma, Selbstbezug und meditativem Rückzug. Alles das aus den dunklen Tiefen bis in die kühnsten Zukunftsvisionen. Vinnitskaya imponierte nicht allein durch ihre ausgefeilte Technik, sondern vor allem durch ihre Fähigkeit, die Tastatur zu einem fantastischen Buch umzugestalten. Ein Drehbuch zu einem spannungsgeladenen Krimi wie einer tiefenpsychologischen Analyse.
Anna Vinnitskaya (Foto: Ansgar Klostermann) |
Mit interpretatorischem Freigeist
Der zweite Teil des Abends begann mit vier Impromptus
von Frédéric Chopin, die er zwischen den Jahren 1834 und 1842 schrieb. Es waren
seine besten Jahre. Eigentlich kürzere Werke zum Improvisieren, Ausprobieren
und Experimentieren, mal in As-Dur (Nr. 1), in Fis-Dur (Nr.2), in
Ges-Dur (Nr. 3), oder wie seine bekannteste und beliebteste in cis-Moll
(Nr.4). Chopin liebte viele Vorzeichen und komplizierte harmonische Verbindungen.
Er orientierte sich ebenso an barocken Suiten wie am italienischen Belcanto, an
manieristischen Figuraturen wie an gängigen Koloraturarien. Alles ist bei ihm
möglich, aber nichts ist spontan. Chopin komponierte im Detail ohne Wenn und
Aber.
Vinnitskaya aber ließ ihrem interpretatorischen Freigeist freien Lauf. Mit starken Rubati, extremer Dynamik und Kontrastierung, aber auch hier wieder mit Gesanglichkeit und tänzerischer Leichtigkeit, gab sie den Impromptus eine ganz eigene Note. Auffallend gelungen das Vierte unter den Vieren, eine der meist gespielten Fantasien mit perlender Virtuosität und langem ariosem Hauptteil, ein Bravourstück für all diejenigen, die einmal die große Bühne der Pianisten betreten wollen. Vinnitskaya spielte hier die schwierigsten Passagen mit fast schon legerer Ruhe und ließ so die herrliche Arie des Kernteils zum Glanz des Stückes aufblitzen. Umwerfend schön. Mehr kann man dazu nicht sagen.
Anna Vinnitskaya (Foto: Ansgar Klostermann) |
Der Walzer – Streitpunkt der Moderne
Ravels teils liebevolle, teils bitterböse Einstellung zum
Walzer, ein Gesellschaftstanz der Aristokratie, ein Zankapfel der Moderne, wird
in seinen beiden Kompositionen, Valses nobles et sentimentales (1911)
und La Valse. Poème choréographique (1919) in seiner Widersprüchlichkeit
und Menetekel-haften Dystopie voll zur Geltung gebracht.
Waren es in den acht kurzen Walzerpiecen der Valses nobles noch das sinnliche, verspielte L´art pour L´art Geplänkel eines überhitzten, testosterongesteuerten Dandys der Pariser Bohème, witzig, ausgelassen, ironisch und überheblich, so wurde der Walzer, wohl auch als Folge des 1. Weltkriegs, später zu einer krisenhaften Bewegungsform, zu einem diabolischen Veitstanz, der nichts Gutes ahnen lässt. La Valse avanciert zu einer Weltuntergangs-Szenerie. Eine Erzählung der Geschichte der Tanzhäuser – in Frankreich sehr beliebt – zwischen Ausgelassenheit, Kriegsängsten, gesellschaftlichen Umbrüchen und sozialen Konflikten. Der Dreivierteltakt bestimmt die Zeituhr, aber der musikalische Überbau gerät zunehmend in die Bredouille. Nichts ist mehr so wie es war. Alles gerät aus den Fugen.
Anna Vinnitskaya (Foto: Ansgar Klostermann) |
Der Durchbruch der Quadratur des Kreises
Großartig, wie Anna Vinnitskaya dieses scheinbare
Durcheinander auf der Tastatur erklingen lässt. Diese buchstäbliche Quadratur
des Kreises aber durchbricht sie souverän mit unglaublicher Virtuosität, großer
körperlicher Theatralik (hier sehr positiv zu konnotieren) und außerordentlicher
Erzählkraft. Ein Nachkriegswerk Ravels, das die Erschütterungen und Umbrüche
der Zeit kongenial in Musik fast. Zu Recht steht im Programm dazu: „Ein
Menetekel der Moderne.“
Sehr freundlicher, anhaltender Applaus ließ die
Künstlerin noch zu zwei Zugaben überreden. Vermutlich zwei frühe Stücke von
Alexander Skrjabin. Sehr introvertiert und, ähnlich wie der Walzer des
14-Jährigen, ein wenig Chopin-affin. Ein Klavierrezital der Sonderklasse, ein
sehr angemessener Einstieg auf Schloss Johannisberg in das diesjährige RMF.
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