Mittwoch, 21. Juni 2023

Daniil Trifonov, Klavierrezital in der Alten Oper Frankfurt, 20.06.2023

Daniil Trifonov (Foto: Tibor-Florestan Pluto)

Daniil Trifonov – Großes Glück für Frankfurt

Daniil Olegowitsch Trifonov (*1991), gebürtig im russischen Nischni Nowgorod gehörte bereits als Kind zu den talentiertesten Pianisten seines Landes. Er gewann bereits als Teenager Preise auf den renommiertesten internationalen Wettbewerben wie dem Chopin Wettbewerb in Warschau im Jahre 2010 (3. Preis), dem Tschaikowsky Wettbewerb in Moskau 2011 (1. Preis) sowie dem Arthur Rubinstein Wettbewerb in Tel Aviv im gleichen Jahr (1. Preis). Seit 2011 lebt er in den USA, musiziert mit den besten Orchestern und den bekanntesten Dirigenten der Welt, tritt allerdings in den vergangenen Jahren weniger solistisch in Erscheinung. Großes Glück also für das Team der Alten Oper Frankfurt, ihn nach sechs Jahren Abstinenz wieder einmal engagieren zu können.

Was er an pianistischer Literatur mitbrachte, ließ einen zunächst ungläubig mit dem Kopf schütteln. Einfachstes neben Kompliziertestem, Seltenstes neben Bekanntestem und Innigstes neben absoluter Entgrenzung.

 

Ein Kinderalbum – kinderleicht?

Fünf Werke waren es. Zunächst die sehr selten gespielten und gehörten 24 Miniaturen aus dem Kinderalbum op.39 (1878) von Peter Tschaikowsky (1840-1993). Tschaikowsky schrieb sie eigentlich auf der Flucht vor seine Frau Antonina, die er kurz zuvor geheiratet, aber in Richtung Genfer See verlassen hat, „weil“, so schreibt er, „sein Hass gegen (sie) von Stunde zu Stunde wächst.“  Bekanntlich war es seine Homosexualität, die ihn zu dieser Reaktion zwang, ihn aber offensichtlich geistig befreite und zu seinem berühmten Violinkonzert op.35 inspirierte. Aber eben auch zu diesem Kinderalbum. Warum das? Es sollte ein Beweis für seine echte Kinderliebe sein (er widmete es seinem Neffen Wladimir Dawydow, ein Sohn seiner Schwester Alexandra) und auch eine Hommage an Robert Schumanns Album für die Jugend op.15. Piecen aus dem richtigen Leben, europäische Tänze, Träumereien, Puppen- und Reiterspiele, Erzählungen und Beobachtungen. Eigentlich ein Spiegelbild der Schumannschen Programmatik, aber, und das unterscheidet beide voneinander, sehr einfach und kindgerecht. Kinderleicht also?

Daniil Trifonov (Foto: Homepage Daniil Trifonov)

Tief versunken – "Der Dichter spricht"

Trifonov in grauem Anzug auf weißem Hemd, strähnigem Haar und Vollbart, spielte das etwa 30-Minuten dauernde Konvolut mit sehr leichtem, fast zartem Anschlag. Nahezu ausschließlich im piano-Bereich, tief versunken in die einzelnen Narrative und dennoch spannungsgeladen, differenziert und tänzerisch (immerhin neun Tänze). Lediglich die Hexe Baba Yaga (Nr.20) ließ das Kinder-Spiel aus der Reihe tanzen, aber die darauffolgende Träumerei brachte alles wieder ins Lot. Viel Ähnlichkeit mit Schumanns Kinderszenen (der Schluss hätte auch Der Dichter spricht heißen können) und doch befreiter, dem kindlichen Geist angemessener.

 

Frühe Werbung für Beethoven

Dann folgte, nahezu ohne Atempause Robert Schumanns (1810-1856) Fantasie C-Dur op.17 (1836/38). Schumann schrieb diese Fantasie ursprünglich als dreiteilige Sonate, gedacht als Hommage an Beethoven in der Absicht Franz Liszts im Jahre 1836, ihm ein Denkmal in seinem Geburtsort Bonn zu errichten. Sozusagen frühe Werbung für ein teures Projekt, das durch eine Komposition Unterstützung bekommen sollte. Stattdessen wurde daraus eine Fantasie, wohl auch deshalb, weil die ursprünglich beabsichtigte Programmatik – Ruinen-Triumphbogen-Sternenkranz – eher die Fantasie beflügelte, als das Regulativ der Sonatenhauptsatzform. Sei´s drum.

Herausgekommen ist wohl eines der bekanntesten und wohl gelungensten Werke seines Schaffens. Viel Reminiszenzen an Beethoven (aus dessen Zyklus An die ferne Geliebte im ersten Abschnitt, sowie ein Thema aus dem Allegretto der 7. Sinfonie) aber auch viel Herzschmerz an seine Geliebte Clara Wieck, deren Vater die Liaison der Beiden rundweg ablehnte. Es besteht aus dem immer wiederkehrenden Konflikt zwischen dem enthusiastischen, überbordenden Florestan und dem besinnlich, sinnlichen Eusebius. Ein Gegensatzpaar, das in Schumanns Oeuvre eine dominante Rolle einnimmt. Hier gerät die Komposition mit autobiographischer Attitüde zu einem tief romantischen, exzentrischen Meisterwerk von außerordentlicher Passion mit pantheistischem Gestus eines Friedrich Schlegels (1772-1829), der Lieblingsphilosoph Schumanns, dessen Gedicht er zum Motto dieser Fantasie machte: „Durch alle Töne tönet, im bunten Erdentraum, ein leiser Ton gezogen, für den, der heimlich lauschet.“

Daniil Trifonov (Foto: Homepage Daniil Trifonov)

„Durch alle Töne tönet“

Auch hier zeigte Trifonov große pianistische Qualität und tiefstes Verständnis der Literatur. Seine Interpretation vor allem des zweiten Teils, von Schumann selbst mit: Mäßig. Durchaus energisch tituliert, gestaltete sich zwischen Triumphmarsch und komplexer Arpeggierung. Die abschließende Coda, ein mit extremen Sprüngen technisch grenzwertiger Part, bewältigte Trifonov mit einer Leichtigkeit und Präzision, die nur Staunen hinterließ. Ganz im Gegensatz dazu das lyrisch innige Gebilde des Schlussabschnitts. Durchweg leise zu halten, meint dazu der Komponist. Und Trifonov gelingt das schier Unmögliche. Angelehnt an Brahms Intermezzi und Schuberts Impromptu Ges-Dur, aber auch an Zitate aus Beethovens Sonate As-Dur op.26, dem Trauermarsch, lässt dieser Teil der Fantasie freien Lauf. Trifonov versetzt uns hier mit leisen Tönen ins Urbild der Ideen, in die Dreiheit von Bewusstsein-Seele-Sein, einfach fantastisch.

 

Kurzweilig mit klassischem Gestus

Nach der Pause Mozarts (1756-1791) Fantasie c-Moll KV 475 (1785). Ein sehr bekanntes Werk in der Hochzeit seiner Schaffenskraft (er komponierte allein 12 seiner insgesamt 23 Klavierkonzerte in dieser Zeit, einschließlich der Oper Le nozze di Figaro) entstanden und meist in Kombination mit seiner 1784 komponierten Sonate c-Moll KV 457 aufgeführt und bewertet. Tatsächlich ist diese Fantasie eine grandiose Improvisation, sich an einem barocken Thema abarbeitend, mehrteilig aufgesplittet zwischen Adagio, Allegro, Andantino, Piú Allegro und zurück zum Tempo primo. Kurzweilig, aber noch ganz im klassischen Gestus der Zeit. So auch die Interpretation Trifonovs. Klar, ohne Rubati, ohne Crescendo bzw. Decrescendo. Dafür mit wunderbarer Klangfarbe, was wohl dem Austausch der Mechanik in der Pause zu verdanken war.

 

Der Teufel am Werk

Maurice Ravels (1875-1937) Gaspard de la Nuit (1908) zählt zum Schwierigsten in der Klavierliteratur überhaupt. Nicht umsonst könnte man es auch Der Teufel der Nacht benennen. Eine dreiteilige Dichtung (Ondine, Le Gibet, Scarbo), inspiriert vom gleichnamigen Prosagedicht von Aloysius Bertrand (1807-1841), welches er 1842 veröffentlichte. Ravel machte aus der Gruselgeschichte (die Spätromantiker liebten die Nachtmähre und den Schatten des Bösen) ein wahrhaftiges Teufelswerk. Er selbst meinte dazu: „Ich fühle mich vom Teufel inspiriert … kein Wunder, da er (gemeint der Teufel) der eigentliche Autor dieser Gedichte ist.“

Herausgekommen ist eine dreiteilige Phantasmagorie von ungeheurer musikalischer Strahlkraft. Ganz banal: Es sollte in Konkurrenz zu Mili Balakirews (1837-1910) Fantasie Islamej (1870) stehen, ein bis dahin als kaum spielbares Pendent.

Daniil Trifonov (Foto: Tibor-Florestan Pluto

Zwischen Dauerstress und brillantem Feuerwerk

Kurz: Gaspard de la Nuit sollte Islamej überflügeln. Sozusagen noch einen I-Punkt an technischem Anspruch draufsetzen. Das scheint gelungen. Denn kaum ein Pianist der Weltklasse wagt sich an diesen ca. 25-minütigen Dauerstress. Trifonov schien die Schwierigkeiten nicht zu kennen. Die Nixe (Ondine) schwamm mit Eleganz und Schwerelosigkeit durch die wilden Wasser, der Galgen (Le Gibet) faszinierte durch den fortlaufenden Orgelpunkt, der von einem fiktiven Mysterienspiel, einem nebulösen Geistertanz überwölbt wurde. Und schließlich sollte der umherwirbelnde Zwerg (Scarbo) dem Ganzen ein fine infernale setzen. Wahnsinnsrepetitionen, größte Transparenz zwischen Klang und Fläche sowie eine fantastische Dynamik beherrschten die letzten neun Minuten. Ein brillantes Feuerwerk zwischen Detonation und herrlichen polychromen Bildern.

 

Mystische Akkorde für den Advocatus Diabolo

Trifonov wäre nicht Trifonov, wenn er sich nach dieser exorbitanten pianistischen Performance feiern ließe. Nein. Sofort, nach kurzem frenetischem Beifall, machte er weiter mit Alexander Skrjabins (1871-1915) 5. Sonate Fis-Dur op.53 (1907). Wenn Trifonov meinte, erst mit der pianistischen Auseinandersetzung mit Skrjabins Werk habe er das Klavier ernst genommen, so muss man das ihm glauben, auch wenn es schwerfällt. Aber eines ist unbestritten. Seine Interpretation dieses 471 Takte umfassenden Sonatenhauptsatzes war ein gigantischer Qualitätsbeweis dieses doch nicht unbestrittenen Komponisten.

Selbst ein ausgezeichneter Pianist, orientierte er sich an seine Zeitgenossen Liszt, Wagner, Chopin, erweiterte aber das gängige harmonische System durch Quartschichtungen, sogenannte „mystische Akkorde“, eine atonale Technik, die an die erst viele Jahre später entwickelte Zwölftontechnik erinnert. Seine Musik changiert so zwischen herber Brüchigkeit und impressionistischer Flüchtigkeit; in dieser Sonate, stark an den vorhergehenden Ravel anknüpfend, zwischen völliger Selbstvergessenheit und formidablem Vulkanausbruch. Ein energetischer Fluss auf der Bühne, der regelrecht aufs Publikum überschwappte. Trifonov, der eigentlich immer sehr gelassen, kaum bewegt vor der Tastatur sitzt, wird hier zum Advocatus Diabolo.

 

Ein an den Wahnsinn andockender Pianist

Der Beifall des vollbesetzten großen Saales der Alten Oper wollte kein Ende nehmen. Trifonov ist kein Entertainer, keiner der vom Publikum geliebt werden möchte. Keiner, den sich Mütter zu ihren Schwiegersöhnen wünschen. Er ist ganz der, oder besser seiner Musik verpflichtet. Seine beiden Zugaben, ein Rachmaninow Prélude op.29 und ein Arrangement über eine Rachmaninow Vokalise waren lediglich freundliche Gesten ans begeisterte Publikum. Mehr nicht. Trifonov: Ein an den Wahnsinn andockender Pianist mit einer obsessiven Liebe zur Musik.         

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