36. Rheingau Musik Festival vom 24.06. bis zum 02.09.2023
vision string quartet, Klassik meets Jazz und Pop, Casals Forum Kronberg, 22.07.2023
vision string quartet, v. l.: Florian Willeitner, Daniel Stoll, Sander Stuart, Leonard Disselhorst
Foto: Sander Stuart
Erfolgsquartett im Haifischbecken
Dem Namen nach
könnte das Quartett aus den USA sein. Ist es aber nicht. Ausgebildet sind die
vier Streicher in Berlin beim Artemis Quartett und später bei Günter Pichler (*1940)
vom Alban Berg Quartett in Köln. Im Jahre 2012 haben sie sich zusammengetan zu
der jetzigen Quartettbesetzung und feierten von Anbeginn an im Haifischbecken
der internationalen Streichquartette außergewöhnliche Erfolge.
Was aber ist ihr
Erfolgsgeheimnis? Es ist, kurz gesagt, ihre Vielseitigkeit, ihr stilistische Offenheit,
ihr Wandlungsvermögen, und – das sei hervorgehoben – ihre unglaubliche Kreativität
in der Erfindung neuer Klangfarben, neuer Spielformen sowie der Verbindung vom
klassischen Streichquartett zu modernen Genres wie Jazz, Folk, Rock, Pop und minimal
music. Oder anders formuliert: Eine Quadratur des Kreises zwischen dem
hochromantischen Felix Mendelssohn Bartholdy des frühen 19. Jahrhunderts und leichtgängigen,
tänzerischen populären Partysongs.
Mendelssohn ganz Beethoven und vice versa
Ob das
zusammenpasst? Ja es passt. Und zwar bestens. Die vier Ausnahmetalente boten
gleich zu Anfang ein selten gespieltes Streichquartett (1827) von Felix
Mendelssohn Bartholdy (1809-1847), welches er als 18-jähriger schrieb, noch
ganz im Bann des gerade eben verstorbenen Ludwig van Beethoven. Das vision
string quartet präsentierte es stehend (mit Ausnahme des Cellisten), ohne Noten,
und mit einem umwerfenden Sound. Warm, satt mit unglaublich langen Bögen und
herrlichem Legato. Ein Streichquartett in a-Moll, das Mendelssohn ganz
bewusst als Provokation des Publikums im Stil des späten Beethoven verstand als
er kurz vor der Uraufführung bemerkte: „Morgen wird mein a-Moll Quartett
öffentlich gespielt. Cherubini sagt von Beethovens neuer Musik: Ca me fait éternuer,
und so glaube ich, das ganze Publikum wird morgen niesen.“
Tatsächlich war es sein Ansinnen, das überragende, damals als unerreichbar klassifizierte Schaffen Beethovens weiterzuentwickeln und zur Not auch das Publikum zu düpieren. So finden sich darin Motive aus Beethovens 7. Sinfonie wie auch aus seiner Klaviersonate Les Adieux. Ebenso Themenzitate und Formfragmente aus dessen spätem Streichquartett a-Moll op. 132, um nur einige Bezüge zu erwähnen. Aber auch Autobiographisches enthält diese Komposition, die auf Mendelssohns Lied „Frage“ zurückgeht. Mit „Weißt du noch?“, einem imaginären Text dazu, gibt Mendelssohn seinem Quartett quasi das Leitmotiv mit dem Hinweis, ich werde es mit Beethoven aufnehmen und seiner musikalischen Allgewalt Paroli bieten. Ein Quartett, also, das Furore machte, allerdings weniger wegen Mendelssohns Genialität, sondern eher, weil man vermeinte, Beethoven habe sich in Mendelssohn reinkarniert.
Ein Frühwerk voller Sturm und Drang
Ein
viersätziges, höchst facettenreiches, gut 30-minütiges Werk, vollgestopft mit
Fugen, Kanons, sowie Scherzo und Recitativo, aber vor allem eingefasst in das
liedhafte Adagio „Frage“, das den Anfang wie das Finale beherrscht, aber
auch in den verschiedenen Sätzen immer wiederkehrt und verarbeitet wird.
Ein großartiges Frühwerk, das die jugendliche Viererbande mit großer Verve, starker Dynamik und herrlicher Expressivität interpretierte. Nicht umsonst spendete das Publikum nach jedem Satz frenetischen Beifall. Man war einfach begeistert von dieser musikalischen Präsentation.
vision string quartet, Foto: Harald Hoffmann
Ein Feuerwerk der guten Laune
Wie aber sollte
der zweite Teil des Abends, der populäre, der „kuschelrockmäßige“ (O-Ton der
Bratschist: Sander Stuart) vonstattengehen? Ganz einfach so: Wie verwandelt
erschienen die vier auf der Bühne – jetzt endlich mal ihre Namen: Florian
Willeitner, 1. Violine, Daniel Stoll, 2. Violine, Sander Stuart,
Bratsche, Leonard Disselhorst, Violoncello – und schlüpften in die Rolle
von Entertainern, Moderatoren und Spaßmachern. Ein Feuerwerk der guten Laune. Man
erklärte die perkussiven Möglichkeiten auf den Instrumenten, machte sich lustig
über die Parallelen des Casal-Forums mit der Elbphiharmonie, wobei beide
Einrichtungen nicht gerade gut wegkamen. Das Publikum fand´s amüsant. Man
erzählte, wie man zu eigenen Kompositionen oder Arrangements kommt, nämlich auf
Reisen mit der DB, die oft überdimensioniert lange dauern. Das alles mit bestem
Humor und einem guten Schuss Ironie.
„Kuschelrock“ auf höchstem Niveau
Dann die
insgesamt neun Stücke, die sie mit elektronisch verstärkten Instrumenten (das
Cello wurde mal eben zu einem Kontrabass umfunktioniert) teilweise zu Gitarren
bzw. Ukulelen verfremdet, aus ihrem neuesten Album Spectrum (2021) zum
Besten gaben. Entweder eigene Arrangements (sie bestehen darauf alle
gleichermaßen daran beteiligt zu sein), teilweise aber auch Stücke aus der
Feder von Jakob Encke (der eigentliche Gründer des Quartetts 2012), der
aus unbekannten Gründen das Ensemble im Jahre 2021 verließ und durch Florian
Willeitner einen gleichwertigen Nachfolger bekam.
Stücke ohne
Namen, aber dennoch mit Versuchen, ihnen Titel zu verleihen, als da wären der Liquorice-Song
(Nr.2), ein sehr perkussives mit Gegenrhythmen gespicktes an irische Folklore
erinnerndes Stück, oder Predictors (Nr. 4), eine Ballade mit langen ostinaten
Passagen von Cello und Bratsche sowie melodiöser Zweistimmigkeit der Geigen.
Großartig auch der Traveller-Song, angeblich auf langen Wartezeiten bei
ihren Zugfahrten entstanden. Hier entwickelte die Band auch das sogenannte
Bogenhalter-Equipment, eine Bogenablage direkt am Steg befestigt, um die
schnellen Wechsel von Zupfen und Streichen bewältigen zu können. Natürlich zum
Verkauf angeboten (Lacher). Titel wie Kopenhagen oder auch Shoemaker
hätte ihnen das Publikum gegeben, wofür sie sehr dankbar seien.
Ausgereift, engagiert und wortgewaltig
Mit der Zugabe Samba,
einem brasilianischen Gesellschaftstanz mit viel Herzschmerz, verabschiedeten
sich die Vier auf in Gitarren verwandelten Streichinstrumenten, weinten Krokodilstränen
mit schluchzenden Soloeinlagen und versetzten das Publikum noch einmal in Verzückung,
sodass natürlich eine zweite Zugabe folgte. Ein minimalistischer Klangteppich
mit heftigen Lichtblitzen und extremen Lautstärken (Dank an den bestens
präparierten Licht- und Toningenieur Benny). Ein homophones Rauschen,
das die Ohren wackeln ließ und auch die Letzten der Mohikaner im Saal aus ihren
Sitzen hob. Der Wahnsinn pur. Man wollte sie trotzdem nicht gehen lassen. War
noch eine dritte Zugabe drin? Nein. Sie hoben noch einmal demonstrativ ihr
Handwerkszeug in die Höhe und verließen wortlos die Bühne.
Welch ein
Hammer, diese Vier Ausnahmekünstler. Selten eine so gute und ausgereifte, aber
auch engagierte und wortgewaltige Performance auf der Bühne erlebt.
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