36. Rheingau Musik Festival vom 24.06. bis zum 02.09.2023
Martin Grubinger Quintett, Jürgen Leitner und Alexander Georgiev (Perkussion), Ferhan & Ferzan Önder (Klavier), Kurhaus Wiesbaden, 28.07.2023
Vorne: Ferhan & Ferzan Önder, oben v. l. Jürgen Leitner (verdeckt), Martin Grubinger, Alexander Georgiev (Foto: Ansgar Klostermann)
Ein illustres Quintett mit Vergleich
Ein illustres
Quintett, mit Martin Grubinger (*1983), Schlagwerk, Jürgen Leitner (*1979) Schlagwerk,
Alexander Georgiev (1990), Schlagwerk, sowie die Zwillingsschwestern Ferhan
& Ferzan Önder (*1965), Piano, hat sich da im vollbesetzten
Friedrich-von-Thiersch Saal in Wiesbaden zusammengefunden, um Werke für
Orchester und Soloinstrumente quasi in reduzierter Version vorzutragen. Aber
Halt. Diese Formation ist nahezu personell und programmatisch identisch mit der im Jahre 2019 am selben Ort aufgetretenen Formation: Lediglich der Vater Martin
Grubinger sen. wurde ersetzt durch Jürgen Leitner und statt des Sacre du
Printemps (1913) von Igor Strawinsky (1882-1971) spielte man damals von
Steve Reich (*1936) das selten aufgeführte Quartett für zwei Klaviere und
zwei Vibraphone (2013).
Vergleiche
hinken bekanntlich. Aber hier sei es erlaubt, denn das sei vorweggenommen, die
Aufführungen gelangen dieses Mal entschieden reifer und weniger auf der Meister
Martin Grubinger fixiert, und, was noch wichtiger erscheint, das Programm war an
Vielseitigkeit, rhythmischer Brillanz und perfekter Abgestimmtheit der Akteure
sowie an Professionalität der Bühnenpräsenz kaum zu übertreffen.
Außergewöhnliche Rhythmen und Polytonalität
Gleich zu Beginn
spielte das Quintett eine von Vater Grubinger arrangierte Version des Sacre
du Printemps (1913) von Igor Strawinsky (1882-1971).
Stark beeinflusst vom Ballets Russes unter der Leitung von Sergei Djagilew wurde diese Komposition quasi zum Aufreger des beginnenden 20. Jahrhunderts. Nicht allein wegen seiner außergewöhnlichen Rhythmen, seiner Polytonalität, seiner ungewöhnlichen Instrumentalbesetzung (u. a. Kontrafagott, Bassklarinette, Wagnertuba und großes Perkussionsaufgebot) und seinen aufreizenden Dissonanzen, sondern auch wegen seiner Thematik. Strawinsky selbst schreibt dazu: ihm sei die Vision einer heidnischen Feier gekommen. „Alte angesehene Männer sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das zufällig ausgewählt wurde und geopfert werden soll, um den Gott des Frühlings günstig zu stimmen.“ Das bedeutete damals: Ein skandalumwittertes Ballett der künstlerischen Avantgarde um Sergei Djagilew mit halbnackten Tänzerinnen und Tänzern. Und das ging gar nicht. Die eh stark polarisierte Pariser Kulturszene flippte förmlich aus. Man ohrfeigte sich, forderte Satisfaktion und vieles mehr. Fazit des Ganzen Ungemachs: Das 35-minütige Werk wurde zum Bestseller, was bis heute andauert.
Martin Grubinger (Foto: Ansgar Klostermann)
Hochsensible Interpretation
Das Arrangement
des Quintetts bot zwar kein Ballett, dafür aber eine hochsensible zweiteilige
Interpretation der Anbetung der Erde mit acht Untertiteln und Das
Opfer mit sechs Untertiteln. Hauptsächlich Xylophon, Marimba, Pauken und
Vibraphon dominierten. Dazu die zwei Flügel als Rhythmus-Basis und
Orchesterersatz. Alle brillierten durch ihr extrem pointiertes Spiel, virtuos,
rasant, aber auch roh und primitiv, wie es das Stück verlangt. Die Steigerung
der Handlung bis zum finalen Opfertanz der Auserwählten wurde partiell
unterbrochen durch den majestätischen Auftritt der Weisen (1. Teil) oder
die Anrufung der Ahnen (2. Teil). Dennoch eine Zuspitzung bis zum
pochenden, stapfenden Finale, rasend, aufregend. Einfach hammerstark. Auch so
kann Sacre du Printemps sein. Ein Arrangement der Extraklasse mit
bildhaften wie erzählerischen Elementen.
Eine Version – Nicht ausschließlich auf den Solisten
fixiert
Ein kurze
Umbauphase, sehr schnell und professionell, ließ dann Fazil Says (*1970) op.
77, Konzert für Perkussion und Orchester (2018/19), erklingen. Wie
gesagt, bereits im August 2019 auf dem RMF uraufgeführt, erschien das Werk jetzt
allerdings in einer wesentlich gemäßigteren Version.
Nicht so
ausschließlich auf den Solisten fokussiert wie ursprünglich, dafür aber mit
deutlicheren Anklängen an die türkische Folklore (vor allem im dritten Satz)
und sehr stark orientiert an einer Erzählung, die sich in imaginären Bildern
und starken Emotionen ausdrückte, wobei alle Akteure einen wesentlichen fast
gleichberechtigten musikalischen Beitrag leisteten. Say benutzt hier als
Identitätsinstrumente vor allem Waterphones (ein mit Wasser gefüllter
Metallkorpus, Sinnbild für die ewige Bewegung), Rototom (aus der Reggae-Szene
bekannte Trommel ohne Kessel) und kreisförmig aufgestellte Timpani (Pauken),
die durchaus die Reinkarnation, den ewigen Kreislauf des Lebens symbolisieren,
sowie Vibraphon, Rührenglocken oder Boobams (eine Art Bongo mit verschiedenen
Tonhöhen), die Say ausschließlich für seine folkloristischen und orientalischen
Elemente verwendet. Einfache Vierton-Motive auf den Klavieren, wechselten mit
hoch virtuosen sich überlagernden Rhythmen auf den verschiedenen Schlaginstrumenten.
Die abschließend eingesetzte Militärtrommel – gepaart mit dem eingangs
eingeführten Rototom und dem Waterphone – sollte noch einmal die ambivalente
Stimmung verdeutlichen, die den Komponisten umtreibt. Selbst sehr politisch
eingestellt und engagiert, will damit doch sein ganz persönliches Heimatbild
dokumentieren. Eine Geste, die vielleicht nicht von allen verstanden wird. Auch
zeichnet sich dieses Werk weniger durch eine wohldurchdachte Struktur aus,
sondern eher durch emotionale Ausbrüche und freie, nicht immer logisch nachvollziehbare
Gedankengänge.
Martin Grubinger (Foto: Ansgar Klostermann) |
Eine Hommage an die Natur
Eine lange Pause ließ das große Hauptwerk Tan Duns (*1957) The Tears of Nature (2012) erklingen. Eine 35-minütige Hommage an die Natur: ihre Lieblichkeit, Sanftheit, aber auch ihre Rohheit und Grausamkeit, hat Tan Dun, ein chinesischer Spiritualist möchte man meinen, hier bezogen auf Japan, China und den USA entworfen. Eine Erzählung von ungeheurer Eindringlichkeit, von großer Hoffnung, Lebendigkeit, aber auch tiefer Depression und apokalyptischer Vision, ein Werk zwischen Optimismus und Pessimismus am Beispiel der drei großen Naturkatastrophen des 21. Jahrhunderts: das Erdbeben in China 2008, Fukushima 2011 und der Hurrikan Sandy in der Karibik 2012.
v. l. Jürgen Leitner, Ferhan & Ferzan Önder, Martin Grubinger, Alexander Georgiev
(Foto: Ansgar Klostermann)
Die Steine von Kyoto
Was soll man
sagen: Japan als erster Orientierungspunkt steht für den Sommer und wird Threat
(Gefahr) of Nature tituliert. Hier spielen Steine, in Erinnerung an den
großen buddhistischen Park in Kyoto, Ryoani-ji, eine entscheidende Rolle. Ihr Ton ist frisch,
hell, sonnig, zuversichtlich. Immer aber durchbrochen von den japanischen Trommeln,
auch Taikos genannt, die dumpf, ja drohend über allem stehen. Die heftigen Schläge
lassen alles erbeben, werden aber gleichzeitig von einem wunderschönen
japanischen Gesang auf den Klavieren beruhigt. Melodisch ist diese Welt,
wenngleich die Rohheit immer wieder Lücken schlägt.
Die Tränen Chinas
Tan Duns
Optimismus ist gleichwohl herauszuhören. Ähnliches gilt auch für den zweiten Teil
China mit dem Titel Tears (Tränen) of Nature. Es beschreibt den Herbst,
wobei kleine Becken und Zimbeln, Glocken und lange Klangflächen der
Schlagwerker dominieren. Ein langes Solo von Grubinger mit eingebautem Dialog
mit den Pianistinnen bildet den Höhepunkt dieses Parts, der allerdings sehr
wenig an China erinnert, dennoch tief berührt und mit verebbendem Glockenklang
den wilden dritten Teil einleitet.
Der Optimismus der USA
Er nennt sich Winter und trägt den Titel Dance of Nature. Ein Tanz auf dem Vulkan? Nicht unbedingt. Dafür viel Jazz und Country, viel ungeregelte Rhythmen und sehr liedhafte Passagen im etwas gedämpfteren Mittelteil. Anklänge an Leonard Bernsteins Westside-Story sind unüberhörbar, aber auch der kulturelle Schmelztiegel Amerikas: wild, weit und progressiv. Ein wirklich wunderbar optimistischer Teil, der dazu noch von einer fast akrobatisch anmutenden Soloeinlage Grubingers bereichert wurde. Mit einer Sandröhre, die einen rauschenden Ton von sich gab, aber ständig gedreht werden musste, spielte er gleichzeitig mit allerlei Perkussionsinstrumenten, verteilt im Raum. Ein bewegendes Hin und Her mit herrlichem Dialogisieren. Grubinger ist nicht nur Perkussionist, sondern auch durch und durch Musiker und Ästhet. Eine Augenweide wie ein Hörgenuss.
v. l. Jürgen Leitner, Ferhan Önder, Martin Grubinger, Alexander Georgiev, Ferzan Önder
(Foto: Ansgar Klostermann)
Libertango – ein perfekter Abgang
Natürlich wurde
das Quintett, indem alle brillierten und Grubinger sympathischerweise nicht die absolute Hauptrolle spielte bzw. spielen wollte, aufgefordert, eine Zugabe zum Besten
geben. Und hier bekamen die beiden Pianistinnen, die bis dahin eher durch ihr
pointiertes Spiel und ihre rhythmische Vielseitigkeit aufgefallen waren, Gelegenheit,
endlich auch ihre pianistische Virtuosität zu beweisen. Ausgerechnet Astor Piazzollas
Libertango sollte es sein. Ein Tanz, der Superlative und der höchsten
Erotik im besten Sinne. Die Beiden spielten sich förmlich frei, unterstützt von
zurückhaltender perkussiver Begleitung. Ein prächtiger Abgang, der die Gemüter des enthusiasmierten
Publikums noch einmal in freudige Erregung brachte. Wirklich. Eine gelungene
Vorstellung und im Vergleich zu 2019 um Ellen-Längen besser und
professioneller. Martin Grubinger hat viel dazugelernt.
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