Die ersten Menschen, Oper in zwei Aufzügen von Rudi Stephan (1887-1915), Oper Frankfurt, Premiere am 02.07.2023, drittletzte Aufführung der Opern-Saison 22/23, 15.07.2023
Andreas Bauer Kanabas (Adahm) und Ambur Braid (Chawa) alle Fotos: Matthias Baus |
Alles andere
als leichte Kost
Mit großem
Erfolg ist diese sehr selten aufgeführte Oper bereits beim Frankfurter Publikum
angekommen. Auch diese Vorführung war sehr gut besetzt und erntete frenetischen
Beifall ohne Wenn und Aber, obwohl dieses erotisierte Mysterienspektakel,
düster, dystopisch und von tragischer Dramaturgie geprägt, alles andere ist als
leichte Kost.
Umbruchs-
und Kriegswirren
Eigentlich
geht es hierbei um Sinnsuche, ein Thema, das den Komponisten Rudi Stephan (1887-1915),
ein Vertreter der Umbruchs- und der Kriegswirren des frühen 20. Jahrhunderts
umtrieb, und das er in die musikalische und theatralische Sprache seiner
Generation umzusetzen beabsichtigte. Das zur damaligen Zeit äußerst umstrittene
Thema, das der Monist, Nonkonformist und Religionskritiker Otto Borngräber
(1874-1916) in seinem gleichnamigen Buch im Jahre 1908 in hochexpressiver
Sprache veröffentlichte und gleich darauf Skandal erntete, faszinierte den
Komponisten vor allem wegen der darin erzählten Geschichte, die den biblischen
Bruderzwist von Kain und Abel zu einem erotischen, sozialpsychologischen
Konflikt ummünzt und so den gesellschaftlichen Diskurs von Seele und Materie,
von Theismus und Materialismus zu einem höchst brisanten Brandherd werden
lässt.
Kurz: Von Anfang an stand die 1908 begonnene und 1914 fertiggestellte Oper quasi auf dem Index. Dazu kam noch der Krieg, der zwar die Uraufführung 1920 in der Frankfurter Oper ermöglichte, aber ohne die Gegenwart des Komponisten, der bereits 1915 als einfacher Soldat fiel. Die Folge war: Diese Oper wurde in den folgenden Jahren selten, dafür kryptisch, gekürzt, verändert und meist szenisch aufgeführt und erst jetzt in der Frankfurter Oper in der ungestrichenen Urfassung neu inszeniert und präsentiert.
v.l.n.r. Iain MacNeil (Kajin) und Andreas Bauer Kanabas (Adahm; mit dem Rücken zum Betrachter) |
Ein
Familiendrama der ersten Menschen
Worum handelt dieses gut zweistündige Stück? Geschickt hat man die biblischen Namen von Adam, Eva, Kain und Abel in hebräischer Sprechweise übernommen, um vermutlich einer direkten Kritik aus dem Weg zu gehen. Sie repräsentieren die ersten Menschen auf dieser Erde, drei Männer und eine Frau. In dieser Konstellation ist ein Familienkonflikt vorprogrammiert, ja eine Tragödie, denn die Jungen sind testosterongeschwängert, Adam ist alt geworden und Eva möchte unbedingt ein weiteres Kind. Dabei zeigen sich stereotype Charaktere: Adam ist konservativ, er will die Welt bereichern durch Arbeit, Disziplin und Ehrfurcht vor den Dingen. Eva, wie gesagt, geriert sich als Erdmutter. Ihr geht es um den Erhalt der Gattung-Mensch. Ihr Mann Adam allerdings ist da nicht mehr der rechte Ansprechpartner. Dann Kain. Er fühlt das Tier in sich. Sein Sexualtrieb treibt mit ihm seltsame Spiele. Er spricht von der inneren Wildnis, „wirr und wüst“, befriedigt sich selbst und erkennt sukzessive in seiner Mutter das Sexual-Objekt seiner Begierde. Abel dagegen sublimiert seine Hormonausbrüche, in dem er im Freud’schen Duktus eine Erlösungsreligion konstruiert, die die Welt nicht nur retten, sondern auch gottesfürchtig zum Jüngsten-Tag transformieren könnte.
Ambur Braid (Chawa) und Ian Koziara (Chabel) |
Ein Familiendrama der letzten Menschen
Was aber
macht die Oper Frankfurt unter der Regie von Tobias Kratzer, Rainer
Sellmaier (Bühne und Kostüme), Joachim Klein (Licht), Bettina
Bartz und Konrad Kuhn (Dramaturgie) sowie Sebastian Weigle (musikalische
Leitung) aus diesem Sujet?
Ganz in der Tradition der Oper Frankfurt wird dieses Werk in die politische Gegenwart transportiert. Das Thema der Oper wird quasi uminterpretiert in Die letzten Menschen und ein Szenario einer Apokalypse konstruiert, die Angst vor Krankheit, Pandemie, Klimawahnsinn, Umwelt bzw. Weltzerstörung in den Vordergrund rücken lässt. Hat Stephan mit seiner Oper eher die psychosozialen Probleme, den expressionistischen Zeitgeist in Form der sexuellen Befreiung (Sigmund Freud) und der Dualität von Spiritualität versus Materialität des menschlichen Daseins (Rudolf Steiners Moralästhetik, Ernst Haeckels natürliche Schöpfungsgeschichte versus Frauenemanzipation, Marxismus und Aufklärung) und die dazugehörigen Gestaltungsmöglichkeiten der Musik im Auge gehabt, so formten die Frankfurter ein Bild der Dystopie.
v.l.n.r. Ian Koziara (Chabel; stehend) und Iain MacNeil (Kajin; liegend) |
Liebe in
der postkatastrophischen Welt
Im Klartext:
Eine Prepperfamilie haust in einem biedermeierlich hergerichteten Zimmer mit
Friede-Freude-Eierkuchen Atmosphäre. Dabei ist der Konflikt bereits
vorprogrammiert, denn keiner fühlt sich heimisch in dieser trügerischen Idylle.
Eine steile Wendeltreppe führt nach oben. Sehr bald wird klar (im zweiten Akt
sowieso), dass dort das Chaos herrscht. Denn die nach oben verwindenden
Personen tragen Gasmaske und sind in Schutzkleidung gehüllt. Der erste Akt also
dient zu Vorbereitung der Tragödie. Im zweiten Akt befinden wir uns Oben. Das
heißt in einer zerstörten, postkatastrophischen Welt. Alles ist verbrannt, ein
Autowrack, ein zerstörter Kamin, Bäume etc. Alles was man sich so denken kann.
Dazu ein wichtiges Requisit: ein halbwegs intaktes Gummi Planschbecken mit
einem halbaufgepumpten Wasserball. Das Symbol für Kind-Sein, Spiel und – metaphorisch
– Zukunft.
Hier ereignet sich das eigentliche Drama: Die Mutter singt im Walküre-Stil vom unerschütterbaren Wunsch nach Liebe zu Adam: „Gib mir Adam, sonst werde ich irr.“ Dabei spielt sie verträumt mit den Requisiten. Abel erscheint, zunächst unerkannt wegen seiner Maske, und beide träumen von der Liebe, ob zu Gott oder schlicht zu sich, bleibt zunächst offen, erweist sich aber bald als Realität. Ganz nach Wagners Tristan und Isolde rufen sie: „Bist du Eva?“ – „Bist du Abel?“ – eine Liebesszene, die es musikalisch und emotional in sich hat – und vereinigen sich sehr bald im Autotorso.
Iain MacNeil (Kajin; oben) und Ian Koziara (Chabel; unten) |
Liebe in
postmodernen Zeiten
Kain erscheint.
Er verflucht die Liebe, klagt sie an wegen seiner sexuellen Unerfüllbarkeit. Er befriedigt
sich abermals über gefundene Sexmagazine, trifft seinen Bruder und diskutiert
zunächst mit ihm die Rolle Gottes in diesem irdischen Leben. Ein Bruderzwist
von besonderer Bedeutung, denn es geht um den Gottesbeweis, wobei Abel seinem
biblischen Konstrukt folgt, Kain aber seinen Gott in dieser Welt realisiert
wissen möchte. Eigentlich geht es um Monismus und Dualismus, um die Trennung von
Geist und Materie, um die sozialpolitischen Themen bis heute zwischen Postmoderne
und Aufklärung, Ganzheit und Reduktionismus. Ein Diskurs, der durch die in
flagranti Beobachtung des Geschlechtsakts zwischen Abel und Eva durch Kain jegliche
Bedeutung verliert. Wutentbrannt zerrt er seinen Bruder Abel aus dem Auto und
erschlägt ihn aus purem Frust, aus purer Enttäuschung.
Adam als
Prophet der Zukunft – Pantheismus
Eva sinnt
auf Rache. Sie schreit: „Er ist ein Scheusal, ein Unmensch!“ – und versucht
dabei, ihren Sohn mit einem Messer zu erstechen. Da tritt Adam wieder auf. Er
erweist sich jetzt als Prophet der Zukunft: „Menschen töten nicht: Alles Geschehen
hat sein Recht. Kain ist bereits gestraft.“ Eine tiefsinnige Aussage von pantheistischem
Ausmaß. Die Natur ist solange von Frieden umhüllt, solange wir sie schätzen und
mit ihr im Einklang handeln.
Während Kain sich entmannt, Eva ihre Rolle als „Erdmutter“ annimmt, ruft Adam zu den Sternen und beschwört das Naturrecht. Viele werden kommen, singt er, und durch die Welt stürmen. Beide Brüder erwachen und viele Menschen betreten die Bühne, Alt und Jung. Mit großer Hymne, Beethoven gleich, endet diese Oper doch noch optimistisch. „Freude schöner Götterfunken …“
v.l.n.r. Ambur Braid (Chawa) und Iain MacNeil (Kajin; stehend) sowie Ian Koziara (Chabel; nicht sichtbar auf dem Boden liegend) |
Jeder
Einzelne ein gesanglicher Genuss mit theatralischer Attitüde
Das Quartett um Chawa (alias Eva), Ambur Braid, Sopran, Adahm (alias Adam), Andreas Bauer Kanabas, Bassbariton, Kajin (alias Kain), Ian McNeil, Bariton, und Chabel (alias Abel), Ian Koziara, Tenor, war außergewöhnlich, einfach umwerfend. Jeder Einzelne ein gesanglicher Genuss mit ausgesprochen theatralischer Attitüde. Allein die vier - alle sangen ihre Rollen erstmals - sind den Opernbesuch wert.
Die Inszenierung
muss nicht unbedingt gefallen. Die Sucht nach Untergang, die vor allem unsere selbsternannten
Eliten verkörpern, kann und soll nicht jeder teilen. Auch sind die sogenannten
Prepper (Menschen, die Vorräte horten, weil sie an den Untergang der Welt
glauben) eher eine propagandistische Erfindung der besagten Eliten. Die Oper
Frankfurt mit ihrem Hang, sich an den Zeitgeist anzuhängen, ohne ihn kritisch
zu durchleuchten, hat sich hier wieder einmal ein wenig, oder vielleicht zu
viel dieser Haus-Tradition angehängt. Dennoch. Die Oper ist ein librettistischer
Solitär, musikalisch spektakulär.
Ein
musikalisches und librettistisches Juwel
Sicher ist
Stephan noch sehr beeinflusst von impressionistischen, spät romantischen und
expressionistischen Vorgaben eines Claude Debussy, Richard Wagner oder auch Arnold
Schoenberg. Aber als Autodidakt ist ihm ein Juwel geglückt mit ganz
eigenwilliger Tonalität, die bis ins Atonale reicht, aber auch seine
Wort-Tonverbindungen weisen in einigen Passagen schon über Schönbergs
Gurrelieder oder gar Mahlers sinfonischem Jugendstil hinaus. Hier an dieser
Stelle ein großes Lob an das bestens aufgelegte Frankfurter Museums- und Opernorchester
unter der Leitung von Sebastian Weigle, der, sichtlich gerührt, noch
einmal die Bühne betrat und sich vor dem, vor seinem Publikum tief verbeugte,
bevor er nun endgültig das Pflaster Frankfurts verlassen wird. Vielen Dank
auch von dieser Stelle.
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