Mittwoch, 23. August 2023

36. Rheingau Musik Festival vom 24.06. bis zum 02.09.2023

 

Lukas Sternrath, Klavierrezital im Fürst-von-Metternich Saal, Schloss Johannisberg, 22.08.2023

Lukas Sternrath (Foto: Ansgar Klostermann)


Gesanglichkeit, Abgeklärtheit, Energetik

Es ist sein Debüt auf dem Rheingau Musik Festival: Lukas Sternrath, siebenfacher ARD-Preisträger von 2022 und Steinway Prizewinner Concert 2023. Letzterer Preis machte es möglich, dass die Firma Steinway & Co in Frankfurt nicht nur einen exzellenten Flügel anbot, sondern auch das außergewöhnliche Klavierrezital im Fürst-von Metternich Saal gemeinsam mit dem Festival Veranstalter, unter der Intendanz von Michael Herrmann, organisierte. Eine wirklich großartige Entscheidung, die leider noch nicht so recht vom Publikum goutiert wurde, denn der Saal war gerade einmal halb gefüllt.

Was aber aus den Händen des jungen Österreichers Lukas Sternrath (*2001) ertönte, war an Schönheit, Gesanglichkeit, Energie und unglaublicher Abgeklärtheit kaum noch zu überbieten.

 

Abschiedsmusik oder Hommage?

Werke von Franz Schubert (1797-1828), Johannes Brahms (1833-1897) sowie Sergei Prokofjew (1891-1953) gehörten zum Abendprogramm, und die hatten es in sich.

Ein kurzes, sechs minütiges Allegretto c-Moll (D 915), angeblich eine scheinbar skizzenhafte dahingeworfene Abschiedsmusik Schuberts für seinen Freund Ferdinand Walcher (1799-1873), der für längere Zeit nach Venedig reiste. Aus historischer Sicht aber doch wohl eher eine Hommage an Beethoven, den heimlich Angebeteten des jungen Schubert, der den Meister zwar nie persönlich kennenlernte, aber immerhin als Fackelträger auf der Beerdigung, am 26. März 1827, ihm Referenz erweisen konnte.

Denn diese sechs Minuten oder knapp 100 Takte haben es in sich. Durch und durch in Reminiszenz an Beethoven, was allein schon die von Beethoven bevorzugte c-Moll Tonlage deutlich macht, wirken die dramatischen Effekte und kontrastreichen Passagen wie die Konzentration eines langsamen Satzes aus Beethovens 32 Sonaten. Reich an thematischer Vielfalt, mal Rezitativ, Choral oder Trauergesang, weist es gleichzeitig auf Brahms und Schumann hin, die beide das kompositorische Oeuvre Schuberts sehr schätzten.

Mit großer Ruhe und Gelassenheit, langen Legato-Linien, liebevoll im Mittelteil gleichsam einem Moment musicaux ähnelnd, dann wieder abrupte Wechsel von tiefem Trübsinn und hoffnungsvollem Aufbruch - Sternrath zeigte hier in Dynamik, Phrasierung und interpretatorischer Tiefe bereits seine Klasse.

Lukas Sternrath (Foto: Ansgar Klostermann)

Beethoven und doch Schubert

Ohne Pause wechselte er zu Schuberts Sonate c-Moll (D 958), die erste der letzten drei Sonaten (D 959 und D 960), die der bereits totkranke Komponist kurz vor seinem Ableben im Jahre 1828 (er beendete sie im September und starb zwei Monate später vermutlich an den Folgen einer Syphilis) schrieb.

Die erste der drei finalen Sonaten zeichnet sich durch ihre Dramatik, ihre Chromatik und vielstimmigen Harmonien aus. Bereits im Allegro des Sonatenhauptsatzes lassen die extremen Kontraste gleich an Beethovens Sonaten denken. Vielleicht ist gerade deshalb diese Komposition lange Jahre vernachlässigt worden, weil man nicht glauben wollte, dass neben Beethoven noch Besseres produziert werden könne. Aber weit gefehlt. Dieser erste Satz belegt bereits die besondere Tonsprache Schuberts, die zwar an Beethoven anknüpft, aber bereits in Struktur und Dynamik völlige neue Wege geht.

So ist das Adagio in As-Dur in der Liedform ABABA auf den ersten Blick durchaus traditionell zu nennen, aber auf den zweiten Blick strotzt es nur so vor unorthodoxer Chromatik, Kadenzen und freier Modulation, was sich im Menuett des dritten Satzes nahtlos fortsetzt. Hier verbleibt Schubert im As-Dur. Das Menuett aber ist alles andere als ein Tanz, sondern eher eine dramatische Zuspitzung, unterbrochen von Fermaten, die den Dreiviertel Takt regelmäßig auseinanderreißen und eine enigmatische Atmosphäre erzeugen.

Im Schlusssatz, Allegro, dann wandelt sich das Werk in eine wilde Tarantella. Kurze, punktierte schnelle Notenwerte bestimmen den Rhythmus. Tonartlich wechselt dieses fulminante Finale zwischen c-Moll, C-Dur und D-Dur, ist rasend schnell mit schwungvollen Arpeggien und heftigen Kontrasten bereichert.

 

Viel Übersicht und fantastische Interpretationsauffassung

Lukas Sternrath meistert diese sehr lange Sonate, sie dauert gut 33 Minuten, mit unglaublicher Spannung, langen Bögen und rhythmischen Phrasierungen, die besser kaum gespielt werden können. Nie bekommt diese Sonate Längen, immer bleibt sie transparent und trotzdem extrem dicht. Sternrath lässt die komplizierte Gefühlwelt Schuberts voll zur Geltung kommen, ohne selbst zu dieser Person zu mutieren. Denn der junge Mann bewältigt diese schwierige Literatur mit Übersicht und fantastischer Interpretationsauffassung.

 

Stilistische Vielfalt und tiefe Leidenschaft

Der zweite Teil des Abends war Johannes Brahms und Sergej Prokofjew gewidmet. Brahms sechs Stücke für Klavier op.118 (1892) hatte der Pianist ausgewählt. Sie sind geprägt von stilistischer Vielfalt und tiefer Leidenschaft. Nicht von ungefähr hat Brahms sie, wie die Intermezzi op 117, seiner heimlichen Geliebten, Clara Schumann, gewidmet. Zwei der sechs Intermezzi betitelt Brahms mit Ballade (III) und Romance (V) vor allem um ihren Charakter hervorzuheben.

Alle sechs Piecen werden vom gregorianischen Dies Irae zusammengehalten. Vollständig oder abgewandelt ist diese Motivik in allen sechs Stücken herauszuhören und prägt somit das inhaltliche Geschehen dieses Gesamtkunstwerkes. Mal in freier Improvisation in D-Dur oder a-Moll im Intermezzo (I), oft gespielt und mit großer Hingabe (molto appassionato) zu spielen gefordert. Zärtlich dagegen das Intermezzo (II), in Terzen und Sexten gestaltet von inniger Liedhaftigkeit. Die g-Moll Ballade (III) wird von perlenden Läufen, einem choralähnlichen Mittelteil und homophoner Akkordik dominiert, während das folgende viel gespielte Intermezzo (IV) durchaus auch für ein Streichquartett herhalten könnte. Die Romance (V) wiederum in F-Dur gehalten, betont das Dies-Irae-Motiv, von edler Grandezza getragen und manchmal wie ein Wiegenlied wirkend. Sehr kontrastierend dann das finale Intermezzo in es-Moll. Von schockierender Trostlosigkeit getragen, gehört es in den Bereich dunkelster Trauermusik. Das Dies Irae dominiert diesen Abschluss, der allerdings in einer Dolce-Passage endet. Kein Aufbäumen, sondern ein sich Ergeben in das Schicksal.

Lukas Sternrath (Foto: Ansgar Klostermann)

Ohne Pathos und mit jugendlicher Unbefangenheit

Lukas Sternrath scheint dieses hochkomplexe, materialgefüllte und klangfarbliche Konglomerat an sinnlichen, melancholischen und von Einsamkeit und Gram geprägten Stücke in seine DNA aufgenommen zu haben. Ohne Pathos und mit jugendlicher Unbefangenheit kitzelt er die Besonderheiten dieses Spätwerks detailliert heraus und begeistert durch technische Brillanz und größte Einfühlsamkeit in den Geist des Komponisten.

 

Eine Kriegssonate voller Ironie und Spott

Kommen wir zu Sergei Prokofjews Kriegssonate in B-Dur op.83 Nr. 7 (1942/43). Diese Sonate, das sei vorab bemerkt, ist 1943 von Swjatoslaw Richter in Moskau uraufgeführt worden und bekam zu Stalins 60. Geburtstag den Stalinpreis verliehen. Ebenfalls gehört sie in die Trilogie der Kriegssonaten, Nr. 6, 7 und 8, die alle in der für die Sowjetunion schlimmsten Zeit des 2. Weltkrieges aus der Hand Prokofjews geboren wurden. Worum geht es in dieser Sonate?

Prokofjew wird allgemein unterstellt, diese Sonaten seien eine ironische Antwort auf Stalins Allmachtsgebaren. Tatsächlich aber litt das russische Volk entsetzlich unter den Kriegsfolgen, die die deutsche Armee über das Land gebracht hatte, und die russische Armee war gerade dabei, zu retten was verloren schien. Zudem war Prokofjew im Gegensatz zu Schostakowitsch kein Kritiker Stalins, sondern eher sein politscher und kultureller Begleiter.

 

Martialisch, Inniglich und Perkussiv

Der erste Satz mit der Bezeichnung Allegro inquieto, ist extrem nervös und aufreizend spannend gehalten. Zwar steht das Stück in B-Dur, nur kommt diese Tonart eigentlich nicht vor. Auch benutzt Prokofjew die Sonatenform, die ebenfalls kaum noch zu erkennen ist. Alles scheint sich aufzulösen. Spott und Ironie beherrschen das musikalische Geschehen. Extreme Lautstärke, marschähnliche Passagen und dissonante Skalen durchziehen diesen höchst anspruchsvollen Satz, der sich dann in ein Andante caloroso wandelt. Innig, ja sentimental soll dieser Satz sein. Zunächst ist er gespickt mit Duodezimen, die wie Blue Notes daherkommen. Alles scheint im Lot zu sein. Man hört die Vöglein singen und ist in die Welt der Schumannschen und Schubertschen Romantik versetzt. Doch das in ein Trugbild. Sehr schnell zerfällt alles in eine unbestimmte Chromatik und endet in einer Bordun-begleiteten von Glockenklängen durchzogenen Schlusssequenz.

Der dritte Satz, das Precipitato (Niederschlag), knüpft zunächst an das Allegro des ersten Satzes an, setzt sich aber zugleich in einer von heftigen Repetitionen durchzogenen Toccata fort. Eine Oktavkaskade zum Abschluss fordert noch einmal die höchst anspruchsvolle Technik des Pianisten, die er mit unfassbarer Brillanz meistert. Seine Hände werden zu Schlegeln und das Klavier zu einem Schlagwerk. Ein perkussiver Schluss, der nicht mehr unterschieden lässt, ob man sich auf einem Schlachtfeld befindet oder auf einer Solovorstellung eines Martin Grubinger. Ja, Lukas Sternrath könnte durchaus auch Teil seiner Perkussionstruppe the percussive planet ensemble sein.

Lukas Sternrath (Foto: Aaron Bunker)

Tastenzauber und perkussive Qualitäten

Spaß beiseite. Was Lukas Sternrath auf die Tasten zauberte war schon phänomenal und gehört zum Besten seines Genres. Herzlicher Beifall war ihm sicher. Eine improvisatorische Zugabe eines Arrangements von Bill Evans Peace Piece und ein Intermezzo aus Brahms´ op. 117 entließ den äußerst sympathischen jungen Mann von der Bühne. Man möchte ihn ins Herz schließen und hofft auf ein Wiedersehen im nächsten Jahr auf dem RMF.

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