Sonntag, 20. August 2023

51. Darmstädter Ferienkurse (05. August - 19.August 2023)


Scenes for Orchestra, Abschlusskonzert der 51. Darmstädter Ferienkurse mit dem hr-Sinfonieorchester und dem Fabrik Quartet (Leitung: Pierre Bleuse), Lichtenbergschule, 19.08.2023

hr-Sinfonieorchester, vorne Mitte: Pierre Bleuse, Mariam Rezaei
(Foto: Christof Lemp)

Weit außerhalb des Mainstreams

Ein wirklich furioser Abschluss der diesjährigen Ferienkurse mit dem hr-Sinfonieorchester, unter der Leitung des Chefdirigenten des Pariser Ensemble Intercontemporain, Pierre Bleuse, dem jungen Frankfurter Fabrik Quartet und Kompositionen zwischen 1973 (Morton Feldman) 2002 (Kaija Saariaho) und 2023 (Mariam Rezaei &Matthew Schlomowitz).

Ein Ritt durch 50-Jahre Musik, zeitgenössische Musik von Komponisten, die sich weit außerhalb des Mainstreams befunden haben und möglicherweise befinden.

 

Der Klang steht für sich

Kommen wir zu Morton Feldman (1926-1987). Ein Wegbegleiter von John Cage, aber auch von Terry Riley, Philip Glass und Steve Reich, zählte man ihn doch gerne zur Gilde der Minimalisten. Auch musste er sich gefallen lassen, seine Musik gehöre in die Rubrik der Meditation. Alles Falsch. Feldman ist nichts von alledem.

Sicher ist seine Musik reduktionistisch, sind seine Melodielinien einfach und eine thematische Entwicklung scheint ebenfalls zu fehlen. Aber das Besondere an Feldmans Musik ist der Klang und die intensive Auseinandersetzung mit ihm. Bei ihm stehen die Klänge für sich, wie Skulpturen oder Gemälde. Seine Musik steht für sich. Sie will nichts aussagen, geschweige denn zu etwas überreden oder aufklären. Nein sie will den Hörer zu sich selbst führen im Sinne der Schopenhauerschen Maxime des Nicht-Wollens. Feldman ist dem Prinzip des reinen L´art pour L´art verpflichtet, und das macht seine Besonderheit aus.

Fabrik Quartet v. l. Federico Ceppetelli, Adam Woodward, Jacobo Diaz, Elena Cappelletti (Foto: privat)

Feldmans Musik ist wie ein Perserteppich

Sein 1973 fertiggestelltes Werk String Quartet and Orchestra gehört absolut in diese Rubrik. Es besteht aus einer Vielzahl von lyrischen Fragmenten, die, scheinbar aneinandergereiht, einen permanenten Dialog zwischen dem Streichquartett (Frederico Ceppetelli, 1. Geige, Adam Woodward, 2. Geige, Jacobo Diaz, Viola und Elena Cappelletti, Violoncello) und dem stark besetzten und perkussionsreichen Orchester abbilden. Zweiundzwanzig Minuten absolute Konzentration auf das Detail, ein ständiger Wechsel der Instrumente und Register, mal dominieren die Blechbläser, dann wieder die Holzbläser oder auch die Streicher. Der üppig besetzte Perkussionsapparat mit Xylophon, Marimbaphon, Vibraphon, diversen Klangstäben und Trommeln, wird nie dominant, alles verbleibt im Bereich des piano und pianissimo. Selten ist ein Mezzoforte zu hören, aber immer wird man vom Klang und seine strukturellen Verknüpfungen gefesselt. Zwischendurch ist man gar an den motivischen Reduktionismus von Anton Webern (1883-1945), dem Vorbild der Serialisten erinnert. Aber es fehlt die Härte der Dissonanzen. Feldmans Musik ist wie ein Perserteppich. Man sieht in der Totale ein buntes Gewirr von Ornamenten und Farbkontrasten. Erst bei näherem Hinschauen erkennt man Bilder, Figuren, Landschaften und kleine Episoden. So auch hier. Großartig auch die Interpretation der Akteure des Quartetts wie auch des Orchesters. Ein Ritt auf der Klang-klinge für den Dirigenten Pierre Bleuse. Chapeau.

 

Ein Turntable braucht echten Mut

Die Weltpremiere bestand ebenfalls aus einem Dialog: Six Scenes for Turntables and Orchestra (2023) von der Britin Mariam Rezaei (*1985) und dem Australier Matthew Schlomowitz (*1975), in Koproduktion erdacht und ausgearbeitet.

Ein Turntable, das sei vorweggesagt, ist ein noch junges Instrument, vor allem bei DJs gebräuchlich. Es besteht in der Regel aus zwei Plattenspielern und einem Mixer. Dazu gehören selbstverständlich noch Verstärker und Lautsprecher. Bei Mariam Rezaei (sie selbst bediente das Instrument) wurde der Tisch noch durch einen Sampler ergänzt, den sie spontan in ihren schrägen Sound einbaute. Sie selbst meinte in einem Interview dazu, dass bei neun von zehn Versuchen immer etwas herauskomme, mit dem sie nicht gerechnet habe. Der Turntable sei ein Gerät, bei dessen Nutzung man (noch) echten Mut brauche.

So auch in dieser Premiere. Das Stück besteht aus sechs Szenen (Bilder) mit einer Art Ouvertüre zu Anfang (The First Scene), sehr laut mit heftigen Beats und perkussiver Dominanz. Es folgen kontrastreiche Szenen (Bilder) wie Screech (Kreischen), Organ Tones (Orgeltöne), eine Hommage an den Drummer Milford Graves, Beat Juggle shuttle (Jonglieren mit Rhythmen) sowie Harp Whip (Harfenpeitsche). Sechs Bilder, die Rezaei mit Mussorgskis Bilder einer Ausstellung oder der Sinfonietta von Leoš Janáček vergleicht.

Mariam Rezaei (Foto: Fair light Photos)

Viel Filmmusik mit Spaß und Lust

Tatsächlich ist die Solistin in der Lage, ganze Drummer-Soli, orgelartige Choräle, kreischendes Geheul mit Windeinlagen sowie Rock-Blues-Elemente in ihre Turntable Maschine einzubauen. Sie scheint dabei auch regelrechte virtuose Passagen bewältigen zu müssen, zumindest weist ihr differenziertes Fingerspiel darauf hin. Alles wirkt dennoch ziemlich spontan und zufällig. Die Orchestermusik (sie kommt wie gesagt von Matthew Schlomowitz) erinnert zuweilen an Hans Zimmers Filmmusiken. Sehr plakativ, einfach strukturiert und rhythmisch am Rock-Pop orientiert. Die Musiker des Sinfonieorchesters zumindest hatten ihren Spaß und die ersten Kommentare aus dem Publikum: Lustig, witzig.

Dennoch, großer Respekt für diesen Versuch. Zwanzig Minuten Kurzweil, ein optisches Vergnügen allemal und manch ein DJ hätte ebenfalls seine Freude an dieser Performance gehabt. Ein Vergleich mit die Musik Feldmans allerdings wäre wie der von Äpfeln mit Birnen.

 

Zwischen Spektralmusik und Mythos

Kaija Saariaho (1952-2023), erst vor wenigen Wochen verstorben, hat mit Orion (2002) eines ihrer besonderen Duftmarken gesetzt. Sie kommt eigentlich aus der Ecke der Spektralisten und Mikrotonalisten, hat aber mit Orion ihr zweites geistiges Standbein, das der Träume, Mythen und fernen Geheimnisse, in Musik gefasst.

Wer oder was ist Orion? Orion ist die Gestalt eines Jägers, von mindestens drei Vätern gezeugt, Zeus, Poseidon und Hermes. Seine Mutter könnte Euryale sein, sie spielt in der griechischen Mythologie aber nur eine untergeordnete Rolle. Orion ist ein wilder Mann, der sich mit den Göttern anlegt und zur Strafe durch den Biss eines von Zeus gesandten Skorpions sterben muss. Um ihn nicht gänzlich der Vergessenheit anheimfallen zu lassen, wird er als Sternenbild in den Äther gesetzt.

Saariaho hat diesem geheimnisvollen Jäger mit dem dreiteiligen Werk ein musikalisches, irdisches Denkmal gesetzt. Und das mit einer außergewöhnlichen Musik.

Pierre Bleuse (Dirigent), hr-Sinfonieorchester (Foto: Christof Lemp)

Große Farbigkeit

Memento mori (Denk daran, dass du sterben musst), mit diesem Warnruf beginnt sie den ersten Teil. Düster, enigmatisch lässt sie die Streicher in einem undurchdringlichen Tonwald beginnen. Leise zwar, aber mit insgesamt fünf Perkussionisten in ständiger geräuscharmer Begleitung. Langsam steigert sich die Musik und entlädt sich abrupt. Ein Durchbruch á la Gustav Mahlers sinfonischer Dramaturgie. Gewaltsam wie ein Donnerschlag, aber dann doch ein Zurück zum geheimnisvollen Tonwald der Streicher. Lange Pause.

Wie befinden uns jetzt im Winter Sky. Klirrende Kälte, durch Flageolett und Harfencluster erzeugt, wird unterbrochen durch kurze, aber eindringliche Klarinetten-, Geigen, Oboen-, Trompeten- und Klaviersoli. Atmosphärische Kälte in weiß grauen Farben, unterlegt durch Crotales, Xylophon, Beckenschlägen und Trommelwirbel. Ein Gang durch den Vorhof der Hölle direkt in den Eisblock des Nichts.

Dann der Hunter: Orion kehrt zur Erde zurück. Schnelle Skalenläufe imitieren das Laufen, Hetzen, Jagen. Rasend geht es in Glissandi ´rauf und runter. Heftige Ausfälle erinnern an den ersten Satz, das Memento mori. Aber nicht genug. Die Raserei wächst an, aber die Lautstärke lässt nach, die Instrumentation reduziert sich. Übrig bleiben nur wenige Streicher. Die Geschichte hat ein Ende insofern, als Orion wieder stumm am Firmament verweilt und die Geschichte zum Mythos zurückkehrt.

Ein großartiges Werk von ungeheurer spektraler Farbigkeit zwischen schwarz-grau, weiß-grau und bunt-grün.

 

Foto: IMD-Archiv

Die Musik ist nicht unterzukriegen

Ein Abschlusskonzert, das über viele Mängel dieser Ferienkurse hinwegsehen lässt, worunter auch die leider etwas schmählich verlaufende Kranichsteiner Preisverleihung (sehr prosaische Feierlichkeit, kaum Publikum, die Hälfte der Preisträger fehlte) nur kurze Zeit vor diesem Konzert zu zählen ist. Ein Besinnen ist notwendig, aber die Musik wird nicht unterzukriegen sein, was vor allem diese drei Kompositionen des Abends beweisen.

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