51. Darmstädter Ferienkurse (05. August - 19.August 2023)
Resonances
I und II mit dem Ensemble
Modern (EM), Lichtenbergschule Darmstadt, 11. und 12.08.2023
Am Pult: Ilia Volkov, Ensemble Modern (Foto: Christof Lemp) |
Aus einem
vollgeschriebenen Blatt wird herausgeschnitten
Es ist die
intensive, künstlerische Auseinandersetzung mit der bereits über 40-jährigen Geschichte
des Ensemble Modern, die sich vier junge Komponistinnen und Komponisten
vorgenommen haben, um daraus zeitgenössische Musik zu formen. Alles also
irgendwie auf den Kopf gestellt? Kein weißes Blatt, das mit Noten gefüllt wird,
sondern ein vollgeschriebenes Blatt, aus dem heraus wichtige Einzelteile
herausgeschnitten und zu einer ganz neuen Form umgestaltet werden. Oder anders
formuliert: Der sogenannte Gedächtnispalast des Ensemble Modern Archiv öffnete
sich für die genannten Vier, mit seinen unzähligen Sammelobjekten, angefangen
bei den Noten, Partituren, Fotos und Filmen bis hin zu Texten, Programmen,
Reisen, Instrumenten und was alles sonst noch in den Archiven schlummert.
Hieraus Musik
zu
Wukir Suryadi, Ensemble Modern (Foto: Christof Lemp) |
Neue
Sichtweisen der Geschichte des EM
So geschehen
bei den vier Komponistinnen und Komponisten, Wukir Suryadi (Indonesien),
Anahita Abbasi (Iran) Yiran Zhao (China) sowie Anda Kryeziu
(Kosovo), die im Auftrag des Ensemble Modern, unter Mitwirkung des Internationalen
Musikinstituts Darmstadt sowie des israelischen Dirigenten Ilan Volkov (*1976),
zwei Jahre Archivarbeit leisteten mit dem Ergebnis einer ganz neuen perspektivischen
Sichtweise auf die Geschichte des Ensembles, die an zwei Tagen
(Lichtenbergschule mit Resonances I, am 11.08., und in der Centralstation mit Resonances
II, am 12.08.) als Welturaufführungen das Licht der Musikwelt erblickten.
Bauen wir Instrumente statt Maschinen
Die
Lichtenbergschule war prall gefüllt, als Wukir Suryadi an
selbstgebastelten Perkussionsinstrumenten (darunter antike E-Gitarren
Verstärker, Schallrohr oder auch Klangbrett) mit 19 Instrumentalisten des EM
den Viererreigen eröffnete. Ein gewaltiger Trommelschlag mit düsterer, ja
bedrohlicher Fortsetzung versetzte das Publikum gleich zu Anfang mitten in ein
chaotisches Gewitter. Das dreiteilige Stück von gut 20 Minuten ist dem
Instrumentenbauer und Musiker Walter Smetak (1913-1984) gewidmet, der 2017 auf
den Ferienkursen vom EM wiederentdeckt wurde.
Madep Manteb hat Suryadi sein Stück genannt und versteht darunter Zahlenproportionen des javanischen Kalenders, der Jugend, Adoleszenz und Altersweisheit aufnimmt. Aber sein Ansinnen ist es vor allem, in einer Rückbesinnung auf die musique concrète eines Pierre Schaeffer aus den frühen 1960er Jahren, die Maschinenwelt und ihren Einfluss auf die menschliche Psyche musikalisch hörbar zu machen. Insofern strotzt diese Musik von martialischen, perkussiven Elementen, nicht unähnlich einer spannungsgeladenen Filmmusik. Der groovige Schluss, fauchend, hauchend und stimmlosem Blasen konnte denn doch ein wenig versöhnen.
Ensemble Modern (Foto: Christof Lemp) |
Wir
wohnen in unserer Wohnung
Anahita Abbasis Komposition beginnt ebenfalls mit einem Paukenschlag, wird aber in einer Art Mönchgesang aus dem Tibetischen Hochland fortgesetzt. Auch hier sind Gedankengänge durchaus mit der musique concrète vergleichbar, vor allem die Steinschläge, das ständige Knarren und Pochen, Reiben und Schieben. Atmosphärisch fühlt man sich durchweg in eine geheimnisvolle Gespensternacht versetzt. Präparierte Klaviere, Betonmischertöne aus Sand gefüllten Tamburinen, Sägeklänge, Sirenen und piepsenden Flageoletts, all das fasst die Komponistin unter den Titel: Situations XII – in our dwelling, we reside (in unserer Wohnung wohnen wir). Sie selbst meint, sie sei während der Sichtung des Archivmaterials auf Frank Zappa (1940-1993) und seine Zusammenarbeit mit dem EM gestoßen. Hieraus habe sich quasi architektonisch ihre Komposition entwickelt. Der Gedanke des Gestaltens einer Wohnung sei ihr dann gekommen, und daraus diese Musik entstanden. Immerhin waren ihre 25 Minuten ein Ritt durch die Fantasiewelt.
Am Pult: Ilia Volkov, Ensemble Modern (Foto: Christof Lemp) |
Geschichten
real – fiktional
Der letzte Komponist
des ersten Premierenabends war der Chinese Yiran Zhao. Sein Werk für 12
Musiker nannte er fictional nonfictional, womit er thematisch voll ins
Schwarze traf. Denn seine Musik setzte sich aus Geschichten Erzählungen
zusammen, die mal logisch, mal unlogisch, mal real mal fiktional waren. Konkret
ließ er dabei auf einer großen Leinwand Videos mit Mitgliedern des EM ablaufen,
musikalisch untermalt mit heftigen Lautstärke-Wechseln, rhythmischem Knacken
und pochender Taktfolgen. Alles beginnt dann mit Paul Cannon (Kontrabassist des
EM), der in selbstironischer Art eigene Geschichten erzählt, Vorlieben und Abneigungen.
Dazu verfolgt Zhao die Idee einer Skalenfolge von sieben Tönen, die sich in Permanenz
aufwärtsbewegen, immer variierend und spannungsgeladen von verschiedenen Instrumenten
(mal Geige, Viola, Violoncello etc.) gespielt, immer, aber angepasst an die
Video Akteure des EM (darunter Rainer Römer, Schlagwerk, Eva Böcker,
Violoncello, Christian Hommel, Oboe, Uwe Dierksen, Posaune, Giorgios
Panagiotidis, Violine etc.). Ein Kaleidoskop der Charaktere und
Selbstdarstellungen.
Auch die Ensemblemitglieder,
so das Fazit, können sich gewaltig auf die Schippe nehmen. Die Lacher waren auf
ihrer Seite. Zhao nennt diese Komposition auch dokufiktional, womit er auf
sein Vorbild, den Konzeptkünstler Geng Jianyi (*1962), verweist, der in seiner
Arbeit The Second State, eine Serie von vier großen Ölgemälden mit dem
Gesicht eines Mannes in verschiedenen Momenten des Lachens, auf die
Ausdrucksstärke von Gesichtern Bezug nimmt. Dies als Vorbild, habe er seine
Interviews mit den EM-Musikern geführt, und aufzeigen wollen, was das Archiv nicht
bieten kann, nämlich lebendige Charaktere. Eine sehr witzige Arbeit,
musikalisch spannend, von großer Vielfalt und bester Ironie in Zeiten der allgegenwärtigen Depression.
Löschen –
Wellen – Sinuskurven
Die
Installation TILDE von Anda Kryeziu unter dem Titel Resonances II,
musste aus Raumgründen in die Centralstation der Stadt Darmstadt verlegt
werden. Sie nennt ihre Komposition auch Konzertinstallation, was auf die acht Instrumentalisten,
lose positioniert in der großen Halle der Centralstation, hindeutet. Mit
Instrumenten wie E-Geige (Jagdish Mistry), Kontrabassklarinette (Hugo
Quirerós), Kontraforte (Olivia Palmer-Baker) Elektrische Gitarre (Alexey
Potapov und Steffen Ahrens), Schlagwerk (David Haller und Rainer
Römer sowie E-Kontrabass (Paul Cannon) war allein schon große
Aufmerksamkeit des sich frei bewegenden Publikums gesichert. Dazu eine Riesen-Leinwand
mit viel Text und Erklärungen.
Was hat die Komponistin
zu dieser Arbeit bewegt? Sie selbst habe Krieg, Flucht und Migration am eigenen
Leib erlebt und ihre Erfahrungen mit denen des EM in dieser verglichen. Archive,
so ihre Auffassung, seien „Instrumente, um Narrative zu konstruieren, zu
dekonstruieren, zu vergessen oder sogar zu verdrängen – je nachdem wer die
Archive kontrolliert.“ Ihre Auseinandersetzung mit dem EM-Archiv habe ihr die
Einsicht vermittelt, dass die Aktivitäten des EM parallel zu den politischen Weltereignissen
abgespielt hätten. Das ist so wahr wie banal. Aber was macht sie aus dieser
Erkenntnis?
Eine Installation
mit Fotos zwischen 1981 und 1990 (wo war da der Jugoslawien Konflikt?), eine
Tirade von Bits und Bytes, von Herz (Hz), Volt, Sinuskurven, Datenmengen und
immer wieder die Einblendung des „I´m here now, I learned about burned Archivs,
as a kid“. Es ist ein Kommen und Gehen der digitalen Daten (There are 2.5 Quadrillion
Bytes of Dates) und die ständige Tild-Waves-Sines (Löschen-Wellen- Sinuskurven)
Dreiheit. Alles sehr textlastig mit allerdings höchst interessanten
Klangkombinationen. Zwar spielten alle Instrumentalisten lediglich einen Ton in
unterschiedlicher Lage, und die beiden Perkussionisten bedienten neben minimalstem
Schlagwerk noch einen CD-Turm und eine Waschmaschinentrommel. Auch ein
Ölkanister durfte nicht fehlen. Alles in Allem eine 50-minütige Reise durch die
digitale Archivwelt mit ihren Risiken und Nebenwirkungen. Dazu ein ständiges
Grummeln im Bauch und immer wieder Klanglebnisse mit emotionaler Wirkung. Das
Ganze endet mit einer langen, langen Pause, wie ein Erwachen aus dem digitalen
Koma.
Am Pult: Ilia Volkov, Ensemble Modern (Foto: Christof Lemp) |
Ein gewagtes Projekt für die Archive
Alle vier Kompositionen
wie auch alle vier Komponistinnen und Komponisten verdienen den vollen Respekt.
Sie haben durchweg eine Mammutaufgabe erfüllt und das Gedächtnis von vierzig
Jahren EM auf ihre ganz persönliche Weise reaktiviert und zumindest in einigen
Punkten aktualisiert. Ein gewagtes Projekt, das, wie viele Musiken der Jetztzeit,
weniger die Konzertbühnen erobern, sondern eher wieder Bestandteil der Musik-Archive
werden wird.
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