Sonntag, 13. August 2023

51. Darmstädter Ferienkurse (05. August - 19.August 2023)

Resonances I und II mit dem Ensemble Modern (EM), Lichtenbergschule Darmstadt, 11. und 12.08.2023

Am Pult: Ilia Volkov, Ensemble Modern (Foto: Christof Lemp)

Aus einem vollgeschriebenen Blatt wird herausgeschnitten

Es ist die intensive, künstlerische Auseinandersetzung mit der bereits über 40-jährigen Geschichte des Ensemble Modern, die sich vier junge Komponistinnen und Komponisten vorgenommen haben, um daraus zeitgenössische Musik zu formen. Alles also irgendwie auf den Kopf gestellt? Kein weißes Blatt, das mit Noten gefüllt wird, sondern ein vollgeschriebenes Blatt, aus dem heraus wichtige Einzelteile herausgeschnitten und zu einer ganz neuen Form umgestaltet werden. Oder anders formuliert: Der sogenannte Gedächtnispalast des Ensemble Modern Archiv öffnete sich für die genannten Vier, mit seinen unzähligen Sammelobjekten, angefangen bei den Noten, Partituren, Fotos und Filmen bis hin zu Texten, Programmen, Reisen, Instrumenten und was alles sonst noch in den Archiven schlummert.

Hieraus Musik zu kreieren scheint auf den ersten Blick eine kaum zu bewältigende Mammutaufgabe zu sein, wenn man nicht rigoros auswählt, reduziert und einen ganz besonderen Blick auf die Materialfülle wirft.

 

Wukir SuryadiEnsemble Modern (Foto: Christof Lemp)

Neue Sichtweisen der Geschichte des EM

So geschehen bei den vier Komponistinnen und Komponisten, Wukir Suryadi (Indonesien), Anahita Abbasi (Iran) Yiran Zhao (China) sowie Anda Kryeziu (Kosovo), die im Auftrag des Ensemble Modern, unter Mitwirkung des Internationalen Musikinstituts Darmstadt sowie des israelischen Dirigenten Ilan Volkov (*1976), zwei Jahre Archivarbeit leisteten mit dem Ergebnis einer ganz neuen perspektivischen Sichtweise auf die Geschichte des Ensembles, die an zwei Tagen (Lichtenbergschule mit Resonances I, am 11.08., und in der Centralstation mit Resonances II, am 12.08.) als Welturaufführungen das Licht der Musikwelt erblickten.

 

Bauen wir Instrumente statt Maschinen

Die Lichtenbergschule war prall gefüllt, als Wukir Suryadi an selbstgebastelten Perkussionsinstrumenten (darunter antike E-Gitarren Verstärker, Schallrohr oder auch Klangbrett) mit 19 Instrumentalisten des EM den Viererreigen eröffnete. Ein gewaltiger Trommelschlag mit düsterer, ja bedrohlicher Fortsetzung versetzte das Publikum gleich zu Anfang mitten in ein chaotisches Gewitter. Das dreiteilige Stück von gut 20 Minuten ist dem Instrumentenbauer und Musiker Walter Smetak (1913-1984) gewidmet, der 2017 auf den Ferienkursen vom EM wiederentdeckt wurde.

Madep Manteb hat Suryadi sein Stück genannt und versteht darunter Zahlenproportionen des javanischen Kalenders, der Jugend, Adoleszenz und Altersweisheit aufnimmt. Aber sein Ansinnen ist es vor allem, in einer Rückbesinnung auf die musique concrète eines Pierre Schaeffer aus den frühen 1960er Jahren, die Maschinenwelt und ihren Einfluss auf die menschliche Psyche musikalisch hörbar zu machen. Insofern strotzt diese Musik von martialischen, perkussiven Elementen, nicht unähnlich einer spannungsgeladenen Filmmusik. Der groovige Schluss, fauchend, hauchend und stimmlosem Blasen konnte denn doch ein wenig versöhnen.

Ensemble Modern (Foto: Christof Lemp)

Wir wohnen in unserer Wohnung

Anahita Abbasis Komposition beginnt ebenfalls mit einem Paukenschlag, wird aber in einer Art Mönchgesang aus dem Tibetischen Hochland fortgesetzt. Auch hier sind Gedankengänge durchaus mit der musique concrète vergleichbar, vor allem die Steinschläge, das ständige Knarren und Pochen, Reiben und Schieben. Atmosphärisch fühlt man sich durchweg in eine geheimnisvolle Gespensternacht versetzt. Präparierte Klaviere, Betonmischertöne aus Sand gefüllten Tamburinen, Sägeklänge, Sirenen und piepsenden Flageoletts, all das fasst die Komponistin unter den Titel: Situations XII – in our dwelling, we reside (in unserer Wohnung wohnen wir). Sie selbst meint, sie sei während der Sichtung des Archivmaterials auf Frank Zappa (1940-1993) und seine Zusammenarbeit mit dem EM gestoßen. Hieraus habe sich quasi architektonisch ihre Komposition entwickelt. Der Gedanke des Gestaltens einer Wohnung sei ihr dann gekommen, und daraus diese Musik entstanden. Immerhin waren ihre 25 Minuten ein Ritt durch die Fantasiewelt.

Am Pult: Ilia Volkov, Ensemble Modern (Foto: Christof Lemp)

Geschichten real – fiktional

Der letzte Komponist des ersten Premierenabends war der Chinese Yiran Zhao. Sein Werk für 12 Musiker nannte er fictional nonfictional, womit er thematisch voll ins Schwarze traf. Denn seine Musik setzte sich aus Geschichten Erzählungen zusammen, die mal logisch, mal unlogisch, mal real mal fiktional waren. Konkret ließ er dabei auf einer großen Leinwand Videos mit Mitgliedern des EM ablaufen, musikalisch untermalt mit heftigen Lautstärke-Wechseln, rhythmischem Knacken und pochender Taktfolgen. Alles beginnt dann mit Paul Cannon (Kontrabassist des EM), der in selbstironischer Art eigene Geschichten erzählt, Vorlieben und Abneigungen. Dazu verfolgt Zhao die Idee einer Skalenfolge von sieben Tönen, die sich in Permanenz aufwärtsbewegen, immer variierend und spannungsgeladen von verschiedenen Instrumenten (mal Geige, Viola, Violoncello etc.) gespielt, immer, aber angepasst an die Video Akteure des EM (darunter Rainer Römer, Schlagwerk, Eva Böcker, Violoncello, Christian Hommel, Oboe, Uwe Dierksen, Posaune, Giorgios Panagiotidis, Violine etc.). Ein Kaleidoskop der Charaktere und Selbstdarstellungen.

Auch die Ensemblemitglieder, so das Fazit, können sich gewaltig auf die Schippe nehmen. Die Lacher waren auf ihrer Seite. Zhao nennt diese Komposition auch dokufiktional, womit er auf sein Vorbild, den Konzeptkünstler Geng Jianyi (*1962), verweist, der in seiner Arbeit The Second State, eine Serie von vier großen Ölgemälden mit dem Gesicht eines Mannes in verschiedenen Momenten des Lachens, auf die Ausdrucksstärke von Gesichtern Bezug nimmt. Dies als Vorbild, habe er seine Interviews mit den EM-Musikern geführt, und aufzeigen wollen, was das Archiv nicht bieten kann, nämlich lebendige Charaktere. Eine sehr witzige Arbeit, musikalisch spannend, von großer Vielfalt und bester Ironie in Zeiten der allgegenwärtigen Depression.

 

Löschen – Wellen – Sinuskurven

Die Installation TILDE von Anda Kryeziu unter dem Titel Resonances II, musste aus Raumgründen in die Centralstation der Stadt Darmstadt verlegt werden. Sie nennt ihre Komposition auch Konzertinstallation, was auf die acht Instrumentalisten, lose positioniert in der großen Halle der Centralstation, hindeutet. Mit Instrumenten wie E-Geige (Jagdish Mistry), Kontrabassklarinette (Hugo Quirerós), Kontraforte (Olivia Palmer-Baker) Elektrische Gitarre (Alexey Potapov und Steffen Ahrens), Schlagwerk (David Haller und Rainer Römer sowie E-Kontrabass (Paul Cannon) war allein schon große Aufmerksamkeit des sich frei bewegenden Publikums gesichert. Dazu eine Riesen-Leinwand mit viel Text und Erklärungen.

Was hat die Komponistin zu dieser Arbeit bewegt? Sie selbst habe Krieg, Flucht und Migration am eigenen Leib erlebt und ihre Erfahrungen mit denen des EM in dieser verglichen. Archive, so ihre Auffassung, seien „Instrumente, um Narrative zu konstruieren, zu dekonstruieren, zu vergessen oder sogar zu verdrängen – je nachdem wer die Archive kontrolliert.“ Ihre Auseinandersetzung mit dem EM-Archiv habe ihr die Einsicht vermittelt, dass die Aktivitäten des EM parallel zu den politischen Weltereignissen abgespielt hätten. Das ist so wahr wie banal. Aber was macht sie aus dieser Erkenntnis?

Eine Installation mit Fotos zwischen 1981 und 1990 (wo war da der Jugoslawien Konflikt?), eine Tirade von Bits und Bytes, von Herz (Hz), Volt, Sinuskurven, Datenmengen und immer wieder die Einblendung des „I´m here now, I learned about burned Archivs, as a kid“. Es ist ein Kommen und Gehen der digitalen Daten (There are 2.5 Quadrillion Bytes of Dates) und die ständige Tild-Waves-Sines (Löschen-Wellen- Sinuskurven) Dreiheit. Alles sehr textlastig mit allerdings höchst interessanten Klangkombinationen. Zwar spielten alle Instrumentalisten lediglich einen Ton in unterschiedlicher Lage, und die beiden Perkussionisten bedienten neben minimalstem Schlagwerk noch einen CD-Turm und eine Waschmaschinentrommel. Auch ein Ölkanister durfte nicht fehlen. Alles in Allem eine 50-minütige Reise durch die digitale Archivwelt mit ihren Risiken und Nebenwirkungen. Dazu ein ständiges Grummeln im Bauch und immer wieder Klanglebnisse mit emotionaler Wirkung. Das Ganze endet mit einer langen, langen Pause, wie ein Erwachen aus dem digitalen Koma.

 

Am Pult: Ilia Volkov, Ensemble Modern (Foto: Christof Lemp)  

Ein gewagtes Projekt für die Archive

Alle vier Kompositionen wie auch alle vier Komponistinnen und Komponisten verdienen den vollen Respekt. Sie haben durchweg eine Mammutaufgabe erfüllt und das Gedächtnis von vierzig Jahren EM auf ihre ganz persönliche Weise reaktiviert und zumindest in einigen Punkten aktualisiert. Ein gewagtes Projekt, das, wie viele Musiken der Jetztzeit, weniger die Konzertbühnen erobern, sondern eher wieder Bestandteil der Musik-Archive werden wird.    

      

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