Sonntag, 3. September 2023

36. Rheingau Musik Festival vom 24.06. bis zum 02.09.2023

 

Abschlusskonzert des Rheingau Musik Festivals (RMF), mit dem Gewandhausorchester Leipzig unter der Leitung von Herbert Blomstedt, Kloster Eberbach, 02.09.2023

Gewandhausorchester Leipzig, rechts: Herbert Blomstedt (Foto: Ansgar Klostermann)

Ein bemerkenswerter Festival-Abschluss

Wer oder was war wichtiger an diesem bemerkenswerten Festivalabschluss 2023 in der vollbesetzten Basilika des Klosters Eberbach? War es das epochale Werk Anton Bruckners (1824-1896), seine Siebenten Sinfonie E-Dur (1881-83/1884 im Leipziger Opernhaus uraufgeführt)? War es das legendäre Gewandhausorchester Leipzig, das älteste seiner Art auf der Welt und bekannt durch seine singuläre Klangfarbe, oder war es der Dirigent, Herbert Blomstedt (*1927), der mit seinen sage und schreibe 96 Jahren mit erstaunlichem Elan und höchster Konzentration durch dieses gut 70-minütige Meisterwerk führte?

Mitglieder des Gewandhausorchester Leipzig, Mitte: Herbert Blomstedt
(Foto: Ansgar Klostermann)

Ein unsichtbares Band der Genialität

Tatsächlich wurden alle drei Levels wie ein unsichtbares Band zusammengehalten, obwohl Herbert Blomstedt am Ende wie ein Superstar aus der Sport- und Musikszene gefeiert wurde. Allerdings wäre das ohne die geniale Musik eines bis dahin als „sinfonischer Sonderling“ verschriener Anton Bruckner und ohne die professionelle und von höchster Qualität zeugende Interpretation der Musikerinnen und Musiker des Gewandhausorchesters Leipzig schier undenkbar gewesen.

 

Die Siebente ändert alles

Aber kommen wir zur Komposition. Wie bereits gesagt, besaß Bruckner mit seinen gut 60 Jahren und seinen, bis dahin sechs fertiggestellten Sinfonien, den Ruf eines Außenseiters, eines Bratschisten und Organisten, der das Metier der sinfonischen Kompositionstechnik nur unzureichend beherrsche und zu eigenartigen, um nicht zu sagen zu speziellen Kompositionsmodellen und -techniken neige. Dies änderte sich abrupt mit seiner Siebenten.

Starke Anlehnungen an seinen Meister Richard Wagner und mit großer Unterstützung der weltberühmten Dirigenten Arthur Nikisch (1855-1922), der die Uraufführung 1884 leitete und sogar Korrekturen an der Partitur vornehmen durfte, und Hermann Levi (1839-1900), der die Sinfonie wenige Monate später in München durchsetzte und davon sprach, die Sinfonie sei "das bedeutendste Werk seit Beethovens Tod", machten das Werk schnell bekannt und beliebt.

Gewandhausorchester Leipzig, rechts: Herbert Blomstedt (Foto: Ansgar Klostermann)


Eine Synthese zwischen musikalischem Material und musikphilosophischen Ideen

Es gibt viele Gründe für den Erfolg dieser Sinfonie. Einer der wichtigsten ist die Kombination der extremen Glaubenswelt Bruckners (bekanntlich war er als Katholik von solcher Gottesgläubigkeit beseelt, dass sogar Brahms einmal feststellte, Bruckner sei ein armer, verrückter Mensch, den die Pfaffen von St. Florian – ein Stift in der Nähe von Linz, wo Bruckner lebte – auf dem Gewissen hätten.) mit der mystischen Erfahrung des Wagnerschen Klangtempels aus dem Parsifal, dem Ring, dem Tristan sowie dem Tannhäuser (Bruckner kannte alle diese Opern und verarbeitete sie in dieser Siebenten). Diese Verbindung traf offensichtlich den Zeitgeist. Trost und Erlösung, Liebestod und märchenhafte Verzauberungen (verkörpert in der Person Ludwig II, dem Bruckner die Siebente widmet) bedeuteten Rückzugsgebiete aus den Klauen des Modernismus und Existentialismus, aus der Gott- und Religionsvergessenheit. Nicht umsonst sagt man dieser Komposition nach, dass sie zu einer Synthese zwischen kompositorischem Material und musikphilosophischer Ideen führe.

 

Wagnersche Einstimmung

Die Siebente Sinfonie beginnt gleich mit einer Wagnerschen Einstimmung, einer unendlichen Melodie, grundiert mit leisen Tremoli der Streicher und Rufen der Hörner und Holzbläser. Zwei Seitenthemen folgen, wechseln ins H-Dur, ehe die Durchführung die Themen umkehrt und Reminiszenzen an Wagners Meistersinger erkennen lässt. Bemerkenswert die Schlusscoda der Reprise, die von einem endlosen Paukenwirbel getragen wird und in erhabenem Tutti im Forte-Fortissimo endet. Hier lernt man das Gemäuer der Basilika schätzen, das die Klangfülle und Farbigkeit der Instrumente in voller Pracht zur Geltung kommen lässt.

Gewandhausorchester Leipzig, rechts Mitte: Herbert Blomstedt (Foto: Ansgar Klostermann)

Eine bittere Trauerzeit

So auch im Adagio des zweiten Satzes. Vier Wagner-Tuben eröffnen diesen in cis-Moll gehaltenen Teil mit herrlicher melodischer Linie, aber voll tiefer Trauer. Die „Todesverkündungsszene“ aus der Walküre ist das Vorbild für diese Trauermusik. Bruckner selbst betont, dass er dieses Adagio in der Vorahnung des Todes seines Meisters und Vorbilds Wagners sowie die Instrumentierung und die Musik „zum Andenken meines unerreichbaren Ideals in jener so bitteren Trauerzeit“ geschrieben habe. Ein Part von größter Intensität, von heftigster Kontrastierung und extremer Dynamik endet schließlich in einem hellen C-Dur, begleitet von einem heftigen Beckenschlag und Paukenwirbel. Ekstase, Feierlichkeit und Totenklage – der Satz gehört neben dem Trauermarsch aus Beethovens Eroika und dem des toten Siegfrieds in der Wagnerschen Götterdämmerung wohl zum Aufwühlendsten dieser Zeit.

 

Freudig und optimistisch

Im Scherzo des dritten Satzes herrscht ein wirkungsvoller Jagdruf vor. Alles in a-Moll, aber freudig und optimistisch. Hat hier vielleicht die Hand Mendelssohn-Bartholdys den Komponistengeist geführt? Das lyrische Trio in F-Dur könnte ein österreichischer Ländler sein, im flotten Dreiviertel Takt. Zurück zur Grundidee des Jagdmotivs endet dieses relativ kurze Teil in einer ausufernden Chromatik. Auffallend besonders hier das konzentrierte und differenzierte Dirigat von Herbert Blomstedt, der dieses tollkühne Scherzo mit Leichtigkeit bewältigte.

 

Zwischen Choral und Drama

Fortsetzung folgt im Finalsatz. Ein, wie es heißt, „bewegt, aber doch nicht schnell“ zu absolvierender Schlussteil zwischen Choral und Drama, ein Dies Irae, ein Zorn Gottes mit der Reminiszenz an die unendliche Melodie neben Anklängen an Wagners Meistersinger aus dem ersten Satz, dem Allegro moderato. Ein Fugato mit langen Trommelpassagen steigert das Finale bis zu seinem fantastischen Schluss, wo zwischen gnadenlosem Absturz und himmlischem Aufstieg kaum noch zu unterscheiden war.

Die besondere Akustik der Basilika tat ihr Übriges. Selten so einen farbigen Klang, so eine phantasmagorische Stimmung erlebt wie bei dieser Interpretation der Siebenten Sinfonie.

 

Sparsam, zielgerichtet – von ungeheurer Kraft

Uneingeschränktes Lob an den Klangkörper des Gewandhausorchesters und an die dirigistische Genialität von Herbert Blomstedt, der mit sparsamen, aber zielgerichteten Einsätzen dieser Musik Leben von ungeheurer Kraft einzuflößen vermochte.

Der tiefreligiöse Bruckner, der sich als „Gefäß Gottes, als Mittler zwischen Tod und Leben“ verstand, passt gerade heute, in Zeiten der Extreme von Krieg, Krankheit, Flucht, Armut und Hunger, bestens in den Zustand der Gesellschaft, der Weltgesellschaft. Gewollt oder ungewollt lässt dieser Abschlussabend, das Finale der äußerst erfolgreichen 36. RMF (130.000 Besucher), unter dem Motto Ein Sommer voller Musik, möglicherweise ein nachdenkliches, skeptisches, vielleicht sorgenvolles Publikum zurück.

Verleihung des Rheingau Musikpreises: v. r. n. l.: Michael Herrmann, Herbert Blomstedt, Marsilius Graf von Ingelheim (Foto: Ansgar Klostermann)

Ein Vorbild, ein Mutmacher

Der Beifall jedenfalls galt besonders dem Dirigenten, Herbert Blomstedt. Einer, der bereits 1996 erstmals auf dem RMF mit dem NDR-Sinfonieorchester erschien und 2022 mit dem Rheingau Musikpreis (ausgehändigt am 02.09.2023) ausgezeichnet wurde. Einer, der als Sohn schwedischer Eltern 1954 sein Debüt in Basel gab und seitdem nahezu alle Orchester dieser Welt bedient und beglückt hat. Ein Großer unserer Zeit, ein Vorbild, ein Mutmacher. Herbert Blomstedt ist das Siegel der Zukunft des RMF. Möge er ein Kraftzentrum für das RMF bleiben.     

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