Ensemble Modern unter der Leitung von Sir George Benjamin und der Sopranistin Anna Prohaska, Alte Oper Frankfurt, 14.09.2023
Ensemble Modern, musikalischer Leiter: Sir George Benjamin (Foto: Wonge Bergmann) |
Die Suche
nach dem Ursound der Moderne
Es war ein
großartiger Auftakt der neuen Saison 2023/024 mit dem Bläserchor der Dresdner
Staatskapelle, der mit einem Medley bekannter Ohrwürmer von Johann Sebastian Bach
bis Cole Porter die parallele Veranstaltung mit Christian Thielmann vor und in
der Alten Oper Frankfurt vor ankündigte und das zahlreiche erschienene Publikum
in eine neue musikalische Zeit einstimmten.
Das Ensemble
Modern konnte nur von diesem Spektakel profitieren, hatte es sich doch selbst
zum Thema ihrer Saisoneröffnung die „Suche nach den Ursound der Moderne“ gegeben
und mit fünf herausragenden Kompositionen von Edgar Varèse (1883-1965), Sead
Haddad (*1972), Maurice Ravel (1875-1937), Johann Sebastian Bach (1685-1750),
bearbeitet von George Benjamin (*1960), sowie Arnold Schoenberg (1874-1951).
Den
amerikanischen Sound gefunden?
Gehen wir gleich in Media Res. Der sehr gut besetzte Mozart Saal wurde gleich mit einem epochemachenden Werk Edgar Varèses konfrontiert, mit Octandre (1923/1924), ein Oktett für sieben Bläser und einem Kontrabass, parallel entstanden zu Igor Strawinskys zur selben Zeit komponiertem Bläser-Oktett, ohne dass beide allerdings davon wussten. Warum dieser Vergleich? Zunächst ähneln sich beide in der Anlage und ihrem Sound eklatant, andererseits wollten sich die USA langsam vom europäischen Einfluss eines Strawinsky lösen und eine eigene neue Klangkultur entfalten, wobei Varèse, zwar Italiener, Franzose und Europäer in einer Person, als amerikanischer Staatsbürger durchaus in das Bild der Kulturschaffenden passte. Denn mit diesem nur sieben Minuten dauernden Stück hatte er, so meinte es zumindest der seinerzeit wichtigste Musikkritiker New Yorks, Paul Rosenberg, hatte er den Stil des neuen Zeitalters erfasst und die Musik aus den Fußstapfen Strawinskys befreit.
Ensemble Modern, musikalischer Leiter: Sir George Benjamin (Foto: Wonge Bergmann) |
Ein extremer
Ohrenöffner
Sei´s drum.
Immerhin lebt Octrande von heftigsten Dissonanzen, pochenden Rhythmen,
von schriller Klangschärfe, Straßenlärm ähnlichen Zuständen und härtesten
Konturen. Seine fließende Dreiteiligkeit wechselt von Prestissimo, eingeleitet
von einem Oboen Vierton-Motiv, über eine nervöse sehr lebendige Passage,
dominiert von Bassgeige, Fagott, Horn und Oboe, bis zum finalen Triumpf,
herzlich jubelnd. Ein extremer Ohrenöffner, der allerdings, wie es heißt, bei
seiner Uraufführung 1924 in New York mit großem Enthusiasmus gefeiert wurde.
Auch im Mozart Saal. Denn das Ensemble Modern unter Sir George Benjamin
überzeugte mit großer Verve und „harter Oberfläche“ (Paul Rosenberg).
„Wahre
Erinnerung kommt vom Abgrund des Vergessens“
Zurück zur Gegenwart.
Saed Haddad ist in Frankfurt kein Unbekannter. Gefeiert wurde er bereits 2018
mit seinem dramatischen Lamento A Wintery Spring im Bockenheimer Depot.
Seit 20 Jahren arbeitet er darüber hinaus erfolgreich mit dem Ensemble Modern
zusammen. Sein Streichquartett Mirage, Memoire, Mystere (2011/2012)
gehört zu seinen Schlüsselwerken, denn es ist wohl sein Persönlichstes. Er
bezeichnet sich als das Anders-Sein, als der kreative Geist, der nach
Unabhängigkeit und Individualität strebt. Erinnern ist dabei Ausdruck der
Selbstverwirklichung, ganz nach Marcel Proust: „Wahre Erinnerung kommt vom Abgrund
des Vergessens.“
Große
Seele musikalisch geöffnet
Mit diesem
Stück von Trugbild, Gedächtnis und Geheimnis, changiert Haddad zwischen
fließender Achtel- und Sechszehntel-Notation, Zupfen, Schlagen und Flageolett,
Soloeinlagen von Erster Geige und Bratsche, heftigen Kontroversen zwischen den
instrumentalen Stimmen und langen mit Dämpfer gedimmten Linien und
stimmungsreicher Mystik durch zarteste Streicherpassagen. Der abschließende Marche
funebre, eine tiefe Violoncello Linie unterbrochen durch das Saitenzupfen
der übrigen Streicher gilt als Hommage an den 2014 verstorbenen Armin Köhler, Leiter
der Donaueschinger Musiktage, einer, der Haddad förderte und dieses Stück
besonders schätzte. Großes Lob an die vier Solisten des Ensembles, Jagdish
Mistry, 1. Geige, Giorgos Panagiotidis, 2. Geige, Megumi Kasakawa,
Bratsche, Eva Böcker, Violoncello, die die große Seele dieses Stückes
musikalisch öffneten.
Von
ausgesprochener Einfühlsamkeit
Ein scheinbarer
Kontrast dazu die Trois Poems de Stéphane Mallarmé (1913) von Maurice
Ravel. Einer, der es wagte, die eh schon musikalisierten Gedichte dieses großen
Dichters Mallarmé (1842-1898) quasi ein zweites Mal in Musik umzusetzen.
Warum Kontrast? Ravel zeigt sich hier von seiner intensivsten impressionistischen Seite, höchst poesiereich und von ausgesprochener Einfühlsamkeit. Er selbst meinte dazu: Ich wollte die Dichtung Mallarmés in Musik übertragen. Und besonders diese Geziertheit voller Tiefgründigkeit, die Mallarmé so eigen ist“ (aus dem Programm).
Ensemble Modern, Anna Prohaska und Sir George Benjamin (Foto: Wonge Bergmann) |
Mehr
Enigma geht nicht
Gemeinsam
mit der Sopranistin Anna Prohaska (*1983) und dem neunköpfigen Ensemble konnte
diese Absicht nur gelingen. Ein dreiteiliges Lied beginnend mit einem Seufzer,
fortgesetzt mit einer törichten Bitte und beendet mit der geheimnisvollen
Sicht auf eine Vase, gelingt es der Sängerin, zunächst unauffällig zu
agieren. Sie erzählt verträumt, quasi im Stil eines Recitativo Accompagnato,
vom Herbst, wo ein „gelber Sonnenstrahl, ein letzter, langsam flieht“. Zutiefst
melancholisch, ein wenig depressiv. Dann folgt die törichte Bitte, ein
erdachtes Schäferstündchen, wo ihr Gesang, begleitet vom virtuosen Klavierspiel
(Ueli Wiget) dominanter wird, aufgeregter und erotischer. Schließlich das geheimnisvolle
dritte Lied. Ist es die Vase, oder ist es mehr als das?
„Sie bäumt
sich aber will ihn nicht, den scheuen Kuss aus dunklem Wissen. Und auch kein
Atemzug verspricht, die Rose in den Finsternissen.“
Mehr Enigma
geht nicht. Anna Prohaska verstand es mit ihrer variablen Stimme, klar
akzentuiert, ohne Vibrato, aber mit einem Feeling der besonderen Art, den Text
zu zelebrieren, wobei ihr das bestens eingestellte Ensemble, allen voran Ueli
Wiget mit seiner ausgezeichneten Begleitung am Flügel, ideal zur Seite stand.
Ein
romantischer Varèse!
Anna Prohaska freute sich sehr, nach vielen Jahren Abstinenz, wieder in Frankfurt auftreten zu dürfen. Sie gab eine sehr selten gesungene Zugabe aus der Feder Edgar Varèses, nämlich Un grand Sommeil noir (1906). Ein ungewöhnlich lyrischer Varèse. Bekanntlich sind fast alle seiner Werke durch einen Brand in seinem Berliner Domizil verbrannt. Dieses aber wurde gerettet, und zeigte einmal einen ganz anderen Komponisten. Zutiefst impressionistisch und von großer spätromantischer Attitüde. Tolles Duett zwischen Prohaska und Wiget.
Ensemble Modern, v. l.: Ueli Wiget, Anna Prohaska (Foto: Wonge Bergmann) |
Die Bach
Einlagen, eine Bearbeitung zweier Werke aus Johann Sebastian Bachs Kunst der
Fuge (BWV 1080) von Sir George Benjamin, nämlich den Kanon Hypodiapason
oder auch zweiter Canon alla Ottava den Sanguiniker genannt, sowie den Contrapunktus
VII. Beide Bearbeitungen lebten vom Cantus Firmus der beiden Hörner
und der Flöte. Die sechs Streicher wiederum verschafften den fugierten Rahmen
in Triolen, schnellen Sechszehnteln und vor allem in Contrapunktus VII
durch Zupfen und Reißen an den Saiten. Hier zeigte sich wieder einmal, wie
kompliziert ein Bach ist, und wie schnell man aus der Façon geraten kann, wie
vor allem in Kanon der Fall. Benjamin selbst befindet sich eigenen
Aussagen zufolge auf der „Suche nach dem heiligen Gral“. Ob er ihn bei Bach
findet, mag dahingestellt sein. Seine Bearbeitung allerdings überzeugte nur teilweise.
Ein
stilbegründendes Werk
Kommen wir
zur abschließenden Kammersymphonie Nr. 1 op 9 (1906) von Arnold Schoenberg.
Wirklich, das sei vorweggenommen ein Highlight des Abends. In E-Dur geschrieben
für 15 Solo-Instrumente, hielt Schoenberg es für sein stilbegründendes Werk,
obwohl er ihn später noch gründlich wandeln sollte. Was aber ist das Bemerkenswerte
dieses 22 Minuten dauernden Werkes?
Es sind vor
allem die neue polyphone Sprache sowie der neue Formgedanke. Schoenberg
konzentriert die vier üblichen Sätze einer Sinfonie in einem, verdichtet
extrem, überlagert die Themen, lässt sie quasi verschmelzen. Die Besonderheit
aber ist die Idee der Quartenharmonik. Aus ihr entwickelt er Motive und Themen.
Zwar ist das Werk in E-Dur geschrieben, aber mit der Quartenharmonik löst er
das Dur-Moll Schema auf, verlässt sukzessive die Tonart und zugleich die
Funktionsharmonik. Hier ist der erste Schritt zur Atonalität wie zur späteren Dodekaphone
gemacht.
Das Stück verlässt zwar die Sonatenhauptsatzstruktur von Exposition, Durchführung und Reprise nie, strotzt aber durch Abweichung und Ideenreichtum. Tänzerische Einlagen, Märsche, deftigen Arbeiterlieder und lyrischen Elemente zielen immer wieder auf die Quarten hin. Die Sinfonie strotzt nur so vor Kraft. Ein Kurt Weill, der zu diesem Zeitpunkt zwar erst sechs Jahre alt war, konnte mit Sicherheit aus diesem Werk eine Menge Ideen für seine herrlichen Songs und Moritate in den 1920er Jahren schöpfen.
Ensemble Modern, Probenfoto: Sir George Benjamin (Foto: Ensemble Modern Studio) |
Die Suche
nach dem Ursound wird weitergehen
Warum das Werk
so umstritten war und man sogar sein Verbot forderte – tatsächlich ist es
weniger provokativ als Varèses Octandre – lag wohl an der bekannten
Konservativität des Wiener Publikums, aber mit Sicherheit auch an der
mangelhaften Aufführungsqualität durch die damaligen Ensembles. Denn dieses Werk
verlangt höchste technische wie musikalische Meisterschaft. Die aber hat das Ensemble
Modern.
Ein
großartiger Abend wieder einmal. Die Suche nach dem Ursound der Moderne aber
wird weitergehen. Weitergehen müssen.
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