Freitag, 15. September 2023

Ensemble Modern unter der Leitung von Sir George Benjamin und der Sopranistin Anna Prohaska, Alte Oper Frankfurt, 14.09.2023

Ensemble Modern, musikalischer Leiter: Sir George Benjamin (Foto: Wonge Bergmann)

Die Suche nach dem Ursound der Moderne

Es war ein großartiger Auftakt der neuen Saison 2023/024 mit dem Bläserchor der Dresdner Staatskapelle, der mit einem Medley bekannter Ohrwürmer von Johann Sebastian Bach bis Cole Porter die parallele Veranstaltung mit Christian Thielmann vor und in der Alten Oper Frankfurt vor ankündigte und das zahlreiche erschienene Publikum in eine neue musikalische Zeit einstimmten.

Das Ensemble Modern konnte nur von diesem Spektakel profitieren, hatte es sich doch selbst zum Thema ihrer Saisoneröffnung die „Suche nach den Ursound der Moderne“ gegeben und mit fünf herausragenden Kompositionen von Edgar Varèse (1883-1965), Sead Haddad (*1972), Maurice Ravel (1875-1937), Johann Sebastian Bach (1685-1750), bearbeitet von George Benjamin (*1960), sowie Arnold Schoenberg (1874-1951).

 

Den amerikanischen Sound gefunden?

Gehen wir gleich in Media Res. Der sehr gut besetzte Mozart Saal wurde gleich mit einem epochemachenden Werk Edgar Varèses konfrontiert, mit Octandre (1923/1924), ein Oktett für sieben Bläser und einem Kontrabass, parallel entstanden zu Igor Strawinskys zur selben Zeit komponiertem Bläser-Oktett, ohne dass beide allerdings davon wussten. Warum dieser Vergleich? Zunächst ähneln sich beide in der Anlage und ihrem Sound eklatant, andererseits wollten sich die USA langsam vom europäischen Einfluss eines Strawinsky lösen und eine eigene neue Klangkultur entfalten, wobei Varèse, zwar Italiener, Franzose und Europäer in einer Person, als amerikanischer Staatsbürger durchaus in das Bild der Kulturschaffenden passte. Denn mit diesem nur sieben Minuten dauernden Stück hatte er, so meinte es zumindest der seinerzeit wichtigste Musikkritiker New Yorks, Paul Rosenberg, hatte er den Stil des neuen Zeitalters erfasst und die Musik aus den Fußstapfen Strawinskys befreit.

Ensemble Modern, musikalischer Leiter: Sir George Benjamin (Foto: Wonge Bergmann)

Ein extremer Ohrenöffner

Sei´s drum. Immerhin lebt Octrande von heftigsten Dissonanzen, pochenden Rhythmen, von schriller Klangschärfe, Straßenlärm ähnlichen Zuständen und härtesten Konturen. Seine fließende Dreiteiligkeit wechselt von Prestissimo, eingeleitet von einem Oboen Vierton-Motiv, über eine nervöse sehr lebendige Passage, dominiert von Bassgeige, Fagott, Horn und Oboe, bis zum finalen Triumpf, herzlich jubelnd. Ein extremer Ohrenöffner, der allerdings, wie es heißt, bei seiner Uraufführung 1924 in New York mit großem Enthusiasmus gefeiert wurde. Auch im Mozart Saal. Denn das Ensemble Modern unter Sir George Benjamin überzeugte mit großer Verve und „harter Oberfläche“ (Paul Rosenberg).

 

„Wahre Erinnerung kommt vom Abgrund des Vergessens“

Zurück zur Gegenwart. Saed Haddad ist in Frankfurt kein Unbekannter. Gefeiert wurde er bereits 2018 mit seinem dramatischen Lamento A Wintery Spring im Bockenheimer Depot. Seit 20 Jahren arbeitet er darüber hinaus erfolgreich mit dem Ensemble Modern zusammen. Sein Streichquartett Mirage, Memoire, Mystere (2011/2012) gehört zu seinen Schlüsselwerken, denn es ist wohl sein Persönlichstes. Er bezeichnet sich als das Anders-Sein, als der kreative Geist, der nach Unabhängigkeit und Individualität strebt. Erinnern ist dabei Ausdruck der Selbstverwirklichung, ganz nach Marcel Proust: „Wahre Erinnerung kommt vom Abgrund des Vergessens.“

 

Große Seele musikalisch geöffnet

Mit diesem Stück von Trugbild, Gedächtnis und Geheimnis, changiert Haddad zwischen fließender Achtel- und Sechszehntel-Notation, Zupfen, Schlagen und Flageolett, Soloeinlagen von Erster Geige und Bratsche, heftigen Kontroversen zwischen den instrumentalen Stimmen und langen mit Dämpfer gedimmten Linien und stimmungsreicher Mystik durch zarteste Streicherpassagen. Der abschließende Marche funebre, eine tiefe Violoncello Linie unterbrochen durch das Saitenzupfen der übrigen Streicher gilt als Hommage an den 2014 verstorbenen Armin Köhler, Leiter der Donaueschinger Musiktage, einer, der Haddad förderte und dieses Stück besonders schätzte. Großes Lob an die vier Solisten des Ensembles, Jagdish Mistry, 1. Geige, Giorgos Panagiotidis, 2. Geige, Megumi Kasakawa, Bratsche, Eva Böcker, Violoncello, die die große Seele dieses Stückes musikalisch öffneten.

 

Von ausgesprochener Einfühlsamkeit

Ein scheinbarer Kontrast dazu die Trois Poems de Stéphane Mallarmé (1913) von Maurice Ravel. Einer, der es wagte, die eh schon musikalisierten Gedichte dieses großen Dichters Mallarmé (1842-1898) quasi ein zweites Mal in Musik umzusetzen.

Warum Kontrast? Ravel zeigt sich hier von seiner intensivsten impressionistischen Seite, höchst poesiereich und von ausgesprochener Einfühlsamkeit. Er selbst meinte dazu: Ich wollte die Dichtung Mallarmés in Musik übertragen. Und besonders diese Geziertheit voller Tiefgründigkeit, die Mallarmé so eigen ist“ (aus dem Programm).

Ensemble Modern, Anna Prohaska und Sir George Benjamin (Foto: Wonge Bergmann)

Mehr Enigma geht nicht

Gemeinsam mit der Sopranistin Anna Prohaska (*1983) und dem neunköpfigen Ensemble konnte diese Absicht nur gelingen. Ein dreiteiliges Lied beginnend mit einem Seufzer, fortgesetzt mit einer törichten Bitte und beendet mit der geheimnisvollen Sicht auf eine Vase, gelingt es der Sängerin, zunächst unauffällig zu agieren. Sie erzählt verträumt, quasi im Stil eines Recitativo Accompagnato, vom Herbst, wo ein „gelber Sonnenstrahl, ein letzter, langsam flieht“. Zutiefst melancholisch, ein wenig depressiv. Dann folgt die törichte Bitte, ein erdachtes Schäferstündchen, wo ihr Gesang, begleitet vom virtuosen Klavierspiel (Ueli Wiget) dominanter wird, aufgeregter und erotischer. Schließlich das geheimnisvolle dritte Lied. Ist es die Vase, oder ist es mehr als das?

„Sie bäumt sich aber will ihn nicht, den scheuen Kuss aus dunklem Wissen. Und auch kein Atemzug verspricht, die Rose in den Finsternissen.“

Mehr Enigma geht nicht. Anna Prohaska verstand es mit ihrer variablen Stimme, klar akzentuiert, ohne Vibrato, aber mit einem Feeling der besonderen Art, den Text zu zelebrieren, wobei ihr das bestens eingestellte Ensemble, allen voran Ueli Wiget mit seiner ausgezeichneten Begleitung am Flügel, ideal zur Seite stand.

 

Ein romantischer Varèse!

Anna Prohaska freute sich sehr, nach vielen Jahren Abstinenz, wieder in Frankfurt auftreten zu dürfen. Sie gab eine sehr selten gesungene Zugabe aus der Feder Edgar Varèses, nämlich Un grand Sommeil noir (1906). Ein ungewöhnlich lyrischer Varèse. Bekanntlich sind fast alle seiner Werke durch einen Brand in seinem Berliner Domizil verbrannt. Dieses aber wurde gerettet, und zeigte einmal einen ganz anderen Komponisten. Zutiefst impressionistisch und von großer spätromantischer Attitüde. Tolles Duett zwischen Prohaska und Wiget.   

Ensemble Modern, v. l.: Ueli Wiget, Anna Prohaska (Foto: Wonge Bergmann)


Die Suche nach dem heiligen Gral

Die Bach Einlagen, eine Bearbeitung zweier Werke aus Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge (BWV 1080) von Sir George Benjamin, nämlich den Kanon Hypodiapason oder auch zweiter Canon alla Ottava den Sanguiniker genannt, sowie den Contrapunktus VII. Beide Bearbeitungen lebten vom Cantus Firmus der beiden Hörner und der Flöte. Die sechs Streicher wiederum verschafften den fugierten Rahmen in Triolen, schnellen Sechszehnteln und vor allem in Contrapunktus VII durch Zupfen und Reißen an den Saiten. Hier zeigte sich wieder einmal, wie kompliziert ein Bach ist, und wie schnell man aus der Façon geraten kann, wie vor allem in Kanon der Fall. Benjamin selbst befindet sich eigenen Aussagen zufolge auf der „Suche nach dem heiligen Gral“. Ob er ihn bei Bach findet, mag dahingestellt sein. Seine Bearbeitung allerdings überzeugte nur teilweise.

 

Ein stilbegründendes Werk

Kommen wir zur abschließenden Kammersymphonie Nr. 1 op 9 (1906) von Arnold Schoenberg. Wirklich, das sei vorweggenommen ein Highlight des Abends. In E-Dur geschrieben für 15 Solo-Instrumente, hielt Schoenberg es für sein stilbegründendes Werk, obwohl er ihn später noch gründlich wandeln sollte. Was aber ist das Bemerkenswerte dieses 22 Minuten dauernden Werkes?

Es sind vor allem die neue polyphone Sprache sowie der neue Formgedanke. Schoenberg konzentriert die vier üblichen Sätze einer Sinfonie in einem, verdichtet extrem, überlagert die Themen, lässt sie quasi verschmelzen. Die Besonderheit aber ist die Idee der Quartenharmonik. Aus ihr entwickelt er Motive und Themen. Zwar ist das Werk in E-Dur geschrieben, aber mit der Quartenharmonik löst er das Dur-Moll Schema auf, verlässt sukzessive die Tonart und zugleich die Funktionsharmonik. Hier ist der erste Schritt zur Atonalität wie zur späteren Dodekaphone gemacht.

Das Stück verlässt zwar die Sonatenhauptsatzstruktur von Exposition, Durchführung und Reprise nie, strotzt aber durch Abweichung und Ideenreichtum. Tänzerische Einlagen, Märsche, deftigen Arbeiterlieder und lyrischen Elemente zielen immer wieder auf die Quarten hin. Die Sinfonie strotzt nur so vor Kraft. Ein Kurt Weill, der zu diesem Zeitpunkt zwar erst sechs Jahre alt war, konnte mit Sicherheit aus diesem Werk eine Menge Ideen für seine herrlichen Songs und Moritate in den 1920er Jahren schöpfen.

 Ensemble Modern, Probenfoto: Sir George Benjamin (Foto: Ensemble Modern Studio)

Die Suche nach dem Ursound wird weitergehen

Warum das Werk so umstritten war und man sogar sein Verbot forderte – tatsächlich ist es weniger provokativ als Varèses Octandre – lag wohl an der bekannten Konservativität des Wiener Publikums, aber mit Sicherheit auch an der mangelhaften Aufführungsqualität durch die damaligen Ensembles. Denn dieses Werk verlangt höchste technische wie musikalische Meisterschaft. Die aber hat das Ensemble Modern.

Ein großartiger Abend wieder einmal. Die Suche nach dem Ursound der Moderne aber wird weitergehen. Weitergehen müssen.     

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