Follies, Musical von Stephen Sondheim und Harold Prince nach dem Buch von James Goldmann, Premiere im Staatstheater Wiesbaden, 21.01.2023
vorne: Pia Douwes (Sally), Dirk Weiler (Buddy), hinten v. l.: Larissa Hartmann (Phyllis jung), Niklas Roling (Buddy jung), Johannes Summer (Ben jung), Kelly Panier (Sally jung) Foto: Lena Obst |
Erotik
war ihr Verkaufsschlager
Allein der Titel kann schon zur Verwirrung beitragen. Steckt doch in ihm das englische Wort Folly für Torheit, was allerdings nur nebenbei Bedeutung gewinnt. Im eigentlichen Sinne bezieht sich der Titel auf die 1907 gegründete Florenz Ziegfeld Follies-Revue, ein Varieté Spektakel mit Show Nummern, die bis in die 1940er Jahre das New Yorker Showgeschäft beherrschte. Erotik war ihr Verkaufsschlager und sogar Josephine Baker trat 1936 in einer ihrer Revuen auf. Lediglich Rassenvorurteile, sagt man, hinderten sie an ihrem Erfolg.
Dirk Weiler (Buddy), Pia Douwes (Sally), hinten: Thomas Maria Peters (Ben), Jacqueline Macaulay (Phyllis) Foto: Lena Obst |
Statt
heitere Show, echte Provokation
Was ist das Besondere an Follies? Im Jahre 1971, dem Jahr der Uraufführung des Musicals am Broadway im Winter Garde Theatre hatten das Duo Stephen Sondheim (1930-2021, Musik und Text) und Harold Prince (1928-2019, Regie) ihren Traum erfüllt, ein revolutionäres Musical (nach dem Buch von James Goldmann, 1927-1998) zu präsentieren, entgegen der üblichen Musicalpraxis, ein Musiktheater mit sozialpolitscher Attitüde. Kein oberflächlicher Humor mit heiterer Show, sondern eine echte Provokation und Herausforderung des Publikums sollte Follies sein. In einer Zeit des Vietnamkrieges, der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und des Gay-Liberation Movement, ein Wink mit dem Zeitgeist und eine Option für einen echten Kassenschlager.
v. l.: Annette Luig (Solange), Pia Douwes (Sally), Andrea Baker (Hattie), Sharon Kempton (Heidi) Foto: Lena Obst |
Zu groß,
zu teuer
Aber leider sollte es anders kommen. Die Produktion hatte eine immense Größenordnung von über 50 Teilnehmern und fast 30 Musikern. Ein Kostümvolumen von mehr als 140 Variationen und trotz sagenhafter 522 Aufführungen konnte dieses Musical keinen Cent Gewinn machen. Dies ist wohl der eigentliche Grund, warum es bis in die 1990er Jahre in Europa keinen Fuß fassen konnte und bis heute kaum auf den Spielplänen der Theater und Musikhallen steht. Auf der anderen Seite hat dieses Musical tatsächlich das Genre Musical revolutioniert und gilt als Schlüsselwerk der modernen Musicalgeschichte.
Thomas Maria Peters, Jacqueline Macaulay, hinten: Johannes Summer (Ben jung), Larissa Hartmann (Phyllis jung) Foto: Lena Obst |
Follies
heute in Zeiten des Umbruchs
Das
Staatstheater Wiesbaden hat die Gelegenheit genutzt, in einer Zeit des Umbruchs
und der kulturellen Schieflage, dieses Mammutmusical aus der Schublade zu
ziehen und ein fast dreistündiges, von surrealen, abstrakten wie von düsteren
tragischen Elementen durchzogenes Musiktheater anzubieten. Worum geht es in
diesem Drama?
Es geht
darum, schreibt in einem Satz der amerikanische Produzent, Promoter und
Moderator Ted Chapin (*1950), „herauszufinden wer wir damals glaubten zu sein,
wer wir heute sind, was wir uns damals erhofft haben und womit wir uns heute
herumschlagen müssen.“ (aus dem Programm)
Ines Behrendt (Emily Whitman), John Holyoke (Theodore Whitman), Ensemble Foto: Lena Obst |
Eine
nostalgische und selbstkritische Rückschau
Die Handlung
spielt in einem vom Abriss gezeichneten Weismann Theater (ein Parkhaus soll es
ersetzen), dessen Impresario (Weismann alias Albert Horne) zu einer
Abschiedsparty einlädt. Zu den Gästen gehören ehemalige Revuetänzerinnen und
ihre Gatten. Hauptdarsteller sind die beiden Paare Sally (Pia Douwes)
und Buddy (Dirk Weiler) sowie Phyllis (Jacqueline Macaulay) und
Ben (Thomas Maria Peters). Da es um eine nostalgische wie selbstkritische
Rückschau geht, sind die vier noch vertreten durch ihre jugendlichen Alter-Egos
wie er jungen Sally (Kelly Panier), Phyllis (Larissa Hartmann)
sowie dem jungen Buddy (Nikolas Roling) und Ben (Johannes Summer).
Wie gesagt, alle menschlichen Schwächen und Stärken sind hier geballt
vertreten, wozu auch die gealterten Revue Ladies und ihre Männer gehören. Dazu später.
Thomas Maria Peters und Ensemble (Foto: Lena Obst) |
Ein
schlichtes: Weiter So
Fazit des
Durcheinanders und wachsenden Missverhältnisses zwischen Realität und Traum,
zwischen Wunsch und surrealen Verrücktheiten bis zur Groteske ist ein
schlichtes: Weiter so. Nachdem man sich zunächst den Tod, dann die Scheidung
und schließlich alles Unheil der Welt gewünscht hat, kehrt die Realität zurück.
Dazu Phyllis zu Ben: „Komm, wir gehen nachhause!“ und Buddy zu Sally: „Lass uns
gehen, ausruhen und einen Plan für Morgen machen!“ Antwort Sally: „Es ist schon
Morgen.“ Banal, und doch das, was das
Leben weitestgehend ausmacht.
Zwischen
Abweisung und Überschwang
Tatsächlich hat dieses Musical von Anfang an die Kritiker in zwei Lager gespalten. Das eine war grausam und abweisend, das andere euphorisch und überschwänglich. Wie wird es heute sein? Dieses Musical lebt einerseits von der Nostalgie und den menschlichen Schwächen, andererseits ist es vollgestopft von Erinnerungen, Eitelkeiten, gefühligen Melangen und explosiven Szenarien. Eine schier endlose wachsende Pyramide, die vor allem den zweiten Teil, hat man das banale Ende vor Augen, zu einem Perpetuum mobile ausreizte. Alle acht Protagonisten durften noch einmal ausgiebig in solistischen Szenen mit überbordender Kostümierung (Kostüme: Jannik Kurz) und ausgiebigen Tanzeinlagen (Choreographie: Myriam Lifka), dazu vor einer mehrstöckigen Drehbühne mit diversen Lichteffekten und eingeblendeten Videos im Erinnerungsmodus (Licht: Oliver Porst und Video: Eduardo Mayorga) ihr Bestes geben. Alles ein wenig zu überladen und fürs Auge anstrengend gar ermüdend. Vielleicht wäre hier weniger im Ergebnis doch etwas mehr gewesen (Regie: Tom Gerber).
Ensemble (Foto: Lena Obst) |
Ein
musikalisches Kaleidoskop der Stile
Auch die
Musik spielt in dieser Produktion eine besondere Rolle. Sondheim unterteilt sie
in Buchmusik (worunter er die an den Charakter angepasste Musik versteht) und
Pastiche (für ihn ein Musikstil aus der Zeit genommen, imitiert für konkrete
Situationen). Tatsächlich entlehnt er seine Songs und durchkomponierten Szenen den
damals berühmten Broadway Evergreens von Cole Porter (The Story of Lucie and
Jessy), George Gershwin (Losing my Mind), Jerome Kern (Love Land),
Irvin Berlin (Beautiful Girls) und vielen anderen mehr und schafft so
ein Potpourri seiner Zeit zwischen Swing, Latin Dance und jazzigen Broadway Hits wie Rain
on the Roof, Bolero D’Amour oder auch Broadway Baby.
Alles in allem ein musikalisches Kaleidoskop (musikalische Leitung und Chor: Albert Horne) von außerordentlicher historischer Relevanz, aber mitnichten von spezifischer Besonderheit für dieses Musicals. Die Musik steht quasi außerhalb des Theaters, ist lediglich Beiwerk oder Ergänzung der handelnden Personen auf der Bühne. Die Livemusik der Combo des Wiesbadener Staatsorchesters wirkte dennoch professionell und wirkungsvoll.
Ensemble (Lena Obst) |
„Spieglein,
Spieglein an der Wand“
An dieser Stelle müssen die fünf alternden Revue Damen, Carlotta (April
Hailer), Hattie (Andrea Baker), Heidi (Sharon Kempton), Emily
(Ines Behrendt) und Solange (Annette Luig) erwähnt werden, die
offensichtlich viel Spaß auf der Bühne hatten, wunderbar schräg sangen und schauspielerische
Eleganz wie menschliche Größe demonstrierten. Sie waren vor allem mit ihrem
Song: „Spieglein, Spieglein an der Wand“, einer der Highlights dieser Premiere.
Noch Luft
nach oben
Auch die
Idee der Alter Egos gehörte zum gelungenen Kunstgriff der Inszenierung. Wunsch, Traum, kognitive
Dissonanzen, aber auch surreale und illusionäre Gedanken lassen sich damit
ausgezeichnet bildlich darstellen, in historische Zusammenhänge bringen. Das
ist der Regie auch gelungen und gehört zum Positivanteil der Premiere. Die vier
Hauptdarsteller, Ben, der Liebesunfähige, Phyllis, die Gefühlskalte, Sally, die
romantisch in Ben Verliebte und Buddy, der Familienmensch, konnten nicht in
allen Belangen überzeugen. Gesanglich hervorzuheben sind vor allem Buddy alias Dirk
Weiler mit einem resonanten Bariton und Phyllis alias Jacqueline
Macaulay mit einem frechen wie frischen Mezzo. Auch konnten beide
Letztgenannten durch ihre Charakterdarstellung glänzen, was leider bei Sally alias
Pia Douwes und Ben alias Thomas Maria Peters weniger überzeugte.
Insgesamt gaben
die Tänzerinnen und Tänzer, wie auch die gesamte Apanage ihr Bestes. Ein fast
schon gigantisches Aufgebot, das die üppige Drehbühne bevölkerte.
Dirk Weiler und Ensemble (Foto: Lena Obst) |
Kein
revolutionäres Musical
Ob das
Musical heute noch zu den revolutionären gehört, kann kurz und knapp verneint
werden. Dass es allerdings das Tor zu neuen Musical-Richtungen aufstieß, sei
unbestritten. Hollywood hat da bereits in der Masse wie in der Klasse ganze
Arbeit geleistet. Man denke nur an das bürgerliche Familiendrama Der Gott
des Gemetzels aus dem Jahre 2011, oder an Der Vorname (2012) wie
auch an American Pie 4 das Klassentreffen (2012).
Nein.
Heutige Musicals schwimmen durchweg im sozialpolitischen, psychosozialen und
weltverbesserlichen Bereichen. Auch die heftige Kritik der 1970er Jahre zwischen
absoluter Ablehnung und bedingungsloser Befürwortung wird heute so nicht mehr ablaufen, da Lebens-Bilanzierung, kritische Rückblicke und nostalgische
Schwärmereien zum Grundrepertoire fast aller modernen Musiktheater geworden sind.
Warum dann heute noch Follies?
Follies ist Spannung pur ohne Überfrachtung
Weil Follies alles enthält, was ein spannendes Musiktheater braucht: Liebe, Drama und Wahnsinn. Nur birgt Follies das Manko, absolut überladen und in jeder Beziehung überbordend daherzukommen. Es ist zu lang, zu dick besetzt und vor allem zu überfrachtet. Jeder hat seine Packung auszutragen und der Verwirrungen und Verirrungen sind keine Grenzen gesetzt.
Albert Horne (Foto: Lena Obst) |
Kurzer existentialistischer
Gehalt
Das Team um Tom
Berger (Inszenierung) und dem Dramaturgen Florian Delvo hat in Follies an nichts gespart. Drei Stunden Glamour und Glitzer haben denn
auch die Akteure auf der Bühne wie im Publikum ermüdet. Hätte man den existentialistischen
Gehalt – auf die Formel gebracht: sich sinnlos zu betrinken und dann gemeinsam
nach Hause gehen – knapp und pointiert zugespitzt, es hätte ein ertragreicher,
gedankenreicher und erkenntnisreicher Abend werden können. So aber war das
Sitzfleisch stark strapaziert und die Coda fand kein Ende.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen