Dienstag, 31. Oktober 2023

Sir András Schiff, Klavierrezital in der Alten Oper Frankfurt, 30.10.2023 (eine Veranstaltung der Frankfurter Bachkonzerte e. V.)

Sir András Schiff (Foto: Alte Oper Frankfurt)

Sir – vom Kopf bis zur Sohle

Sir András Schiff (*1953) ist bekannt für seine Soloauftritte mit Erläuterungen seiner gespielten Werke, beliebt, weil die Stücke erst vor Ort bekannt gegeben werden und immer mit einem kritischen Humor begleitet sind. So auch diese Mal im sehr gut besetzten Saal der Alten Oper Frankfurt. Bescheiden, wie der im Jahre 2014 von der Königin Elisabeth II. in den Adelsstand erhobenen Pianisten ist, setzte er sich an den fast schon antiken, sehr edel anzusehenden Blüthner Flügel Nr. 600 (1859) und bot dem Publikum das wohl bekannteste Präludium in C-Dur mit anschließender Fuge aus dem 1. Band des Wohltemperierten Klaviers BWV 846.

 

„Der größte Komponist aller Zeiten“

Sir András Schiff ist die Ruhe in Person. Seine Interpretation braucht keinerlei Pedal, sein Tempo ist gemäßigt, seine Transparenz sprichwörtlich. Vor allem die Fuge, vierstimmig im Vierviertel Takt und von ungeheurer Dichte, präsentiert er mit Leichtigkeit, trotz extremer Engführungen, denn das Thema wird hier allein 24-mal wiederholt, entsprechend der 24 Tonarten, was zu hoch komplexen technischen Anforderung führt. Allein der Flügel erscheint im Klang etwas blechern und schwach im Bassbereich, aber das sollte sich im Laufe des Abends grundlegend ändern.

Sir András Schiff (Foto: Lukas Beck)

Hommage an die Musikstadt Leipzig

Dann spricht er über Johann Sebastian Bach. Bach sei für ihn der größte Komponist aller Zeiten. Er selbst spiele täglich nach dem Frühstück mindestens eine Fuge von ihm. Warum er den 1859er Blüthner bespiele? Ganz einfach. Bach lasse sich auf allen Tasteninstrumenten bestens interpretieren, das habe die Geschichte bewiesen. Der „Blüthner“ allerdings ist ein Produkt der Leipziger Firma Julius Blüthner, 1853 gegründet, und der heutige Abend sei ganz der Stadt Leipzig gewidmet. Er sei eine Hommage an die Musikstadt Leipzig, die er weit über London, Paris, Wien und anderen Musikmetropolen stelle. Dort fände man die wichtigsten Musikverlage und nahezu alle berühmten Komponisten wären ohne Leipzig nie zu ihrem Ruhm gekommen.

 

Ein Abschiedsständchen an den geliebten Bruder

Das Capriccio B-Dur BWV 992 (1704) ist das nächste, selten gespielte Frühwerk des größten Komponisten. Ein Abschiedsständchen an seinen geliebten Bruder Johann Jacob (1682-1722), der eine Stelle als Hofmusikant in Stockholm antrat. Das Besondere an dieser Komposition ist seine Programmatik. In sechs kleinen Piecen mit improvisatorischen Elementen wird das Seelenleben der Zurückgebliebenen beschrieben. So der Versuch im ersten und zweiten Satz, den Bruder von der Reise abzuhalten. Es folgt ein wunderbares Lamento im 3. Satz und dann die Abfindung mit der Abreise im 4. Satz. Ein schlichtes Liedchen, ein Auf Wiedersehen im Volksliedton. Dann im 5. und 6. Satz das Horn des Postillions, Pferdegetrappel und eine Fuge, in der das Posthorn zum Thema wird.

So hat man Bach noch selten gehört und Sir András Schiff verstand es prächtig, mit gesanglicher Leichtigkeit und einem Schuss Schalk im Nacken, dieses einfallsreiche Werk eines Teenagers mit entsprechender Verve zu kredenzen.

Sir András Schiff in der Alten Oper Frankfurt (Foto. H.boscaiolo)

Chromatik und Improvisation

Die Chromatische Fantasie und Fuge d-Moll BWV 903 hat Bach zwar noch in Köthen komponiert, wohl um 1720, Schiff allerdings überträgt es bereits in seine Leipziger Zeit, ab 1723. Immerhin gehört dieses Werk zu den bedeutendsten Kompositionen des Meisters. Extrem virtuos und voller improvisatorischer Ideen. 

Schiff spielte die zweiunddreißigstel Noten mit unglaublich perlender Brillanz, kein Lauf ohne dramatische Zuspitzung und immer mit größter dynamischer Vielfalt. Hier kam ihm auch der immer bessere Flügel zu Hilfe, seine Leichtigkeit, sein müheloser Anschlag und vor allem sein „romantischer Klang“, den man allgemein den Blüthner Instrumenten nachsagt.

Die chromatische, höchst schwierige dreistimmige Fuge geriet unter seinen Händen zu einem Gedicht, akzentreich, transparent, von einer wunderbaren romantischen Lyrik. Eine fantastische Rezitation. An dieser Stelle sei bemerkt, dass Felix Mendelssohn Bartholdy 1740/41 in einer Konzertreihe im Leipziger Gewandhaus dieses Werk erstmals spielte und damit das Publikum begeisterte. Er war es auch, der Johann Sebastian Bach wieder hoffähig machte.

 

Zwischen Lachen und Weinen

Und jetzt sagt er Robert Schumanns Davidsbündlertänze op.6 (1837/38) an, ein Kontrast, wie er kaum extremer ausfallen könnte? Das Motto lautet ja: In Memoriam Leipzig. Und Schumann ist mit Leipzig kaum weniger verbandelt wie Bach. Diese Tänze allerdings schrieb Schumann für seine Verlobte Clara Wieck, voller Gegensätzlichkeiten, die er seinem Freund Carl Montag gegenüber als „Totentänze, Veitstänze, Grazien- und Koboldtänze“ bezeichnete. Seine Pseudonyme Eusebius und Florestan symbolisieren Lust und Leid. Schiff spricht vom Wechsel zwischen Humor und Weinen, und meint, auf den alten Spruch verweisend, der diesen Tänzen vorangestellt ist: „… bleibt fromm in Lust und seyd (sic.) dem Leid mit Muth (sic) bereit“, dass er versuchen wird, das Publikum zum Lachen wie zum Weinen zu bringen.

 

Mit gutem Humor den Geist aufgeben

In achtzehn kontrastreichen Charakterstudien bietet der fiktive Davidsbund abwechselnd aufbrausenden übermütigen Sturmlauf des Florestan und sanfte, zarte fast lyrisch balladeske Züge des Eusebius. Achtzehn Tänze von größter Intensität. Ja der Flügel konnte tatsächlich nicht mithalten bei so viel Gefühlsausbruch und versagte im 16. Tanz mit der Bezeichnung „Mit gutem Humor“. Das Pedal gab den Geist auf, und Sir András Schiff verließ die Bühne. Nach kurzer Reparatur macht er an der alten Stelle weiter. Phänomenal mit welcher Gelassenheit. Zumindest hatte er hier einige Lacher auf seiner Seite. Weinen brauchte man nicht, aber das Dionysische des Florestan und das Apollinische des Eusebius kam doch voll zur Geltung und beeindruckte tief.

Sir András Schiff in der Alten Oper Frankfurt (Foto. H.boscaiolo)

Mendelssohn und Wagner

Nach der Pause wieder ein Hammer. Diesmal Felix Mendelssohn Bartholdy. Auch hier hatte Sir András Schiff ein selten gespieltes Werk mitgebracht, die Variations sérieuses op.54 von 1842 (MWV U 156). In seinen Erläuterungen beklagte er zwar die seltenen Aufführungen von Werken dieses Komponisten und machte dafür vor allem Richard Wagner, „den Antisemiten“, verantwortlich. Beides aber lässt sich leicht widerlegen, denn Mendelssohns Werke gehören zum allgemeinen Repertoire der Konzerthäuser und Richard Wagner mag zwar ein Anti Judaist gewesen sein, aber kein Antisemit. Auch ist nicht bekannt, dass er Mendelssohn in irgendeiner Weise beeinträchtigt hätte. Als Mendelssohn starb war Wagner gerade einmal vierzehn Jahre alt. Und sein Pamphlet Das Judenthum in der Musik von 1850 hatte eine Auflage von unter 100. Aber das wird das Geheimnis des Tasten-Meister bleiben.

 

Von tiefer Romantik beseelt

In 18 Variationen, getragen von einer viertaktigen Melodie mit seufzenden Synkopen, versucht Mendelssohn, sich an den Stil Beethovens anlehnend, einen neuen, sehr virtuosen Variationsstil zu kreieren. Tatsächlich ist das kaum 13-Minuten dauernde Werk gespickt mit extremen Kontrasten, rasenden sechzehntel Triolen, komplexen Fugati, mehrstimmigen Kanons und ebenso wunderbaren kantablen Träumereien. Johannes Brahms soll sich diese Variationen als Vorbild für seine Paganini Variationen genommen haben. Und große Pianisten, wie Vladimir Horowitz, Swjatoslaw Richter oder auch Ferruccio Busoni hatten dieses Werk in ihr Repertoire aufgenommen. András Schiff spielte überzeugend und gewohnt leichtgängig, wie auch von tiefer Romantik beseelt.

Sir András Schiff (Foto: Brigitta Kowsky)

Vom lauen Lüftchen bis zum Sturm

Als Abschluss durfte auch Beethoven nicht fehlen. Seine Sonate  Nr. 17 op. 31/2 (1802), auch bekannt als Sturmsonate, sollte den Höhepunkt des Abends bilden. Bevor er sich an den Flügel setzte, verabschiedete er sich vom Publikum und wünschte allen einen schönen Abend. Auch bemerkte er noch, dass er viele Interpreten nicht verstehe, warum sie die Sturmsonate so schnell spielten. Nein! Sie sei, meinte er, wie ein leises Lüftchen, dass sich zu einem Sturm entwickelt und wieder abflaut bis zur Windstille. Sein Hinweis auf Shakespeares Sturm-Drama reduzierte sich auf die Rezitativeinlagen des Kopfsatzes, die er mit der Person des Prospero, den Strippenzieher der Ereignisse auf seiner Insel verband. Sei´s drum.


Ein Sturm im Wasserglas

Die Sonate beginnt tatsächlich mit einem Largo im Pianissimo und wird im piano fortgesetzt. Aber ein Allegro ist kein Moderato und ein Adagio ist kein Largo. So wird der Kopfsatz bei Schiff zu einem bedächtigen, fast nachdenklichen Teil der Sturm-Sonate, sehr akzentuiert und von größter dynamischer Kontrastierung zwar, aber doch eher getragen und fast träge. Ein Sturm im Wasserglas. Sein Adagio des zweiten Satzes wiederum ist von außerordentlich selten schöner Gesanglichkeit mit wunderbar angepasster Agogik.

Dann aber das abschließende Allegretto. So langsam habe ich diesen Schlussteil der Sonate noch nie gehört. Mehr als lauer Wind war da nicht drin. Schiff spielte mit angezogener Handbremse, mal wurde er schneller, dann besann er sich wieder auf die gebotene Langsamkeit. Wunderbare Herausarbeitung der einzelnen Thementeile, aber selten konnte ein Wind, geschweige denn ein Sturm aufkommen.

Der Blüthner Flügel Nr. 600 von 1859 (Foto: H.boscaiolo)


Immer ein Besuch wert

Der Beifall war überschwänglich. Sir András Schiff ist immer ein Besuch wert. Seine Kommentare sind geistreich und witzig, aber ins Politische sollte er nicht abschweifen. Das Schlagwort Antisemitismus treibt eh schon seine schlimmsten Blüten und entwertet den Begriff immer mehr. Richard Wagner konnte gar kein Antisemit sein. Er war allenfalls Anti Judaist, und das war Mode in seiner Zeit. Übrigens hatte er jüdische Freunde en masse und arbeitete gerne mit ihnen zusammen. 



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