Vikingur Ólafsson, Klavierrezital mit Johann Sebastian Bachs (1685-1750) Goldberg Variationen (1741), Alte Oper Frankfurt, 09.10.2023 (eine Veranstaltung von PRO ARTE)
Vikingur Ólafsson (Foto: PRO ARTE) |
88 „Goldberg“
Konzerte auf 88 Tasten
Vikingur Ólafsson
(*1984) hat die Bachschen Goldberg Variationen (BWV 988) seit vielen Jahren in
seinem Repertoire, legte sie zeitweise beiseite, weil er der Auffassung war, sie
würden praktisch von jedem halbwegs bekannten Pianisten gespielt und kaum noch
als pianistische Besonderheit betrachtet. Erst jetzt, mit seinen fast vierzig
Jahren, fühle er sich reif, das Projekt Goldberg Variationen auf Anraten
seines Verlegers Deutsche Grammophon, neu zu interpretieren und die gesamte
Saison 2023/24 weltweit zu seinem einzigen Thema zu machen.
„Ich gebe in
dieser Spielzeit 88 „Goldberg“ Konzerte, und es gibt 88 Tasten auf dem modernen
Klavier, auf dem ich spiele. Das ist sehr symbolisch und hat mich berührt, denn
gerade Bach hatte ja seine Obsession für Zahlen und Symbole. Das hätte ihm
sicher gefallen. Und mir gefällt es auch.“ Das sagt Ólafsson in einem Interview
mit Manuel Brug in der Vorbereitung seiner Tournee.
Das Who
is Who im Hochbarock
Die Goldberg
Variationen sind wie das Who is Who des Hochbarock. Sie enthalten
alles Wesentliche und Besondere, was die Kunst dieser Epoche ausmacht. Von den unterschiedlichen
Tänzen, wie Gigue, Menuett, Passepied, oder Sarabande (um nur einige zu nennen)
der typischen Rhetorik dieser Zeit (den stile antico oder auch stile
concertato), den kirchenmusikalischen und operngerechten tonalen und ariosen Bezügen,
bis hin zu den höchst virtuosen und hexenhaft schwierigen Anlehnungen an
typische Exerzitien dieser Zeit, vor allem denjenigen von Domenico Scarlatti,
dessen Werke Bach durchaus bekannt waren. Hier vor allem die fünfte und
zwanzigste Variation. All dies ist Bestandteil
der Variationen, dazu in neun instrumentale Kanons unterteilt, und macht dieses
Werk, so Ólafsson, „ein wenig wie eine Oper mit absolut dramatischer Zuspitzung
im zweiten Akt, der mit der 16. Variation, der Ouvertüre, beginnt.
Europäische
Traditionen
Musikhistorisch
treffen sich in diesen Variationen italienische, französische und deutsche
Traditionen. Das Spektrum reicht von einfachen Liedern, Kanons, bis zu
komplexen polyphonen Techniken, vor allem in den Variationen 5, 14, 20, 23, und
28. Aber, und das ist Wesentlich, Sie bilden einen guten Ausgleich zwischen kunstvoller,
ja artifizieller Struktur und natürlicher Anmut, Freude und Ausgelassenheit,
wie beispielsweise im Quodlibet der 30. Variation, ein dreistimmiger
Chor, ein scherzhaftes Potpourri zweier Volkslieder.
Alles andere als aufheiternd und sanft
Bekanntlich
soll, so der Komponist und Bachbiograf Johann Nikolaus Forkel (1749-1818), Bach
die 30 Variationen für den Organisten Johann Gottlieb Goldberg (1727-1756) im
Auftrag seines Arbeitgebers, einem ehemaligen russischen Gesandten Graf Keyserlingk
(1725-1766) geschrieben haben: „Der Graf kränkelte viel und hatte dann“, so
Forkel, „schlaflose Nächte. Johann Gottlieb Goldberg, der Privatmusikus des
Grafen, der bei ihm im Hause wohnte, musste in solchen Zeiten im Nebenzimmer die
Nacht zubringen, um ihm während der Schlaflosigkeit etwas vorzuspielen.“
Angeblich bat der Graf J. S. Bach, dass er für seinen Goldberg Klavierstücke
komponiere, „die so sanften und etwas munteren Charakters wären, dass er
dadurch in seinen schlaflosen Nächten ein wenig aufgeheitert werden könnte.“
Eine Anekdote, die lediglich den Namen der Variationen erklären mögen, aber
auch nicht mehr. Denn sie sind alles andere als sanft und aufheiternd.
Viel
Herumgewerkele
Auch sei an
dieser Stelle noch erwähnt, dass die außerordentliche Länge und Anstrengung der
Variationen viele Interpreten und Komponisten dazu veranlassten, an der Komposition
herumzuwerkeln, das heißt sie zu kürzen (Wiederholungen auszulassen), Variationen
zusammenzulegen oder gar Teile regelrecht zu revidieren. So geschehen unter
anderem bei Josef Gabriel Rheinberger (1839-1901), Carl Czerny (1791-1857) oder
auch Ferruccio Busoni (1866-1924).
Die große
Version – streitbar
Vikingur Ólafsson dagegen hat sich für die große
Version entschieden. Ein Kraftakt von gut 75 Minuten. Hierüber lässt sich
meines Erachtens trefflich streiten. Dauerten doch die 15. und 25. Variation,
beide nahezu im Largo (statt im Andante bzw. Adagio)
vorgetragen, gut 20 Minuten und strapazierten doch arg das Nervenkostüm. Auch sein
Hang, das Ende der jeweils zweiteiligen Variationen mit einem sehr frühzeitig
einsetzten Ritardando einzuleiten und zu beenden, beeinträchtige oftmals die
Spannung und unterbrach den natürlichen Fluss.
Auch die
überaus schnell zu spielenden Variationen 5, 14, 20, 23, 26, 27 und 28 konnten
durch die starke Pedalierung nicht immer ihren perlenden Charakter zur Geltung
bringen. Kleine Ungenauigkeiten vor allem in der fünften, zeigten zumindest,
dass Ólafsson ein Mensch an den Tasten ist. Denn, und das sei hervorgehoben:
Seine Interpretation ist ein gewaltiges Experiment und nie fertig. So betont er selbst in seinem Interview: „Aber natürlich muss ich dieses Werk auch immer
wieder üben. Das muss präzise in den Fingerspitzen sein – wenn es nicht geputzt
ist, hört man es sofort.“ Großartige Selbsteinschätzung.
Große
Ruhe und hinreißende Abschnitte
Vikingur Ólafsson spielte mit großer Ruhe, vor allem die beiden Aria, zwei gravitätische Sarabanden, die das monumentale geschichtsträchtige und epochemachende Werk einrahmten. Seine lyrischen ja romantischen Interpretationen in Var. 13 (Arioso), 16 (Ouvertüre) und 21 (Lamento) mit etwas viel Rubato, dafür aber mit großer Hingabe gespielt, zeigten seine Experimentierfreudigkeit im Sinne von „Bach als Wegbereiter für kommende musikalische Epochen“. Hinreißend sein Quodlibet, die letzte der 30 Variationen. Ein Ausbund an Freude, ein Gesang mit Orchesterbegleitung. Der Steinway Flügel ächzte regelrecht unter seinen Händen. Einfach klasse.
„Ich kann
mich nicht wiederholen“
Ólafsson
beginnt gerade seine 88 Stationen in dieser Spielzeit und Frankfurt ist eines
seiner ersten Orte. Wer weiß, wie er die Variationen in der 88sten Vorstellung
spielen wird. Er selbst ist ebenfalls gespannt darauf, denn keine Interpretation
ist wie die andere, und jede Interpretation geht neue Wege. „Ich kann mich nicht
wiederholen“ meint er im Interview. Und Recht hat er. Das Publikum im fast voll
besetzten Großen Saal der Alten Oper Frankfurt war begeistert. Eine Zugabe war gewünscht,
aber es hätte nicht gepasst. Sein neuestes Album mit den Goldberg Variationen
erscheint bei der Deutsche Grammophon, jetzt im Oktober. Ich warte auf seine
Fortsetzung.
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