Dienstag, 10. Oktober 2023

Vikingur Ólafsson, Klavierrezital mit Johann Sebastian Bachs (1685-1750) Goldberg Variationen (1741), Alte Oper Frankfurt, 09.10.2023 (eine Veranstaltung von PRO ARTE)

Vikingur Ólafsson (Foto: PRO ARTE) 

88 „Goldberg“ Konzerte auf 88 Tasten

Vikingur Ólafsson (*1984) hat die Bachschen Goldberg Variationen (BWV 988) seit vielen Jahren in seinem Repertoire, legte sie zeitweise beiseite, weil er der Auffassung war, sie würden praktisch von jedem halbwegs bekannten Pianisten gespielt und kaum noch als pianistische Besonderheit betrachtet. Erst jetzt, mit seinen fast vierzig Jahren, fühle er sich reif, das Projekt Goldberg Variationen auf Anraten seines Verlegers Deutsche Grammophon, neu zu interpretieren und die gesamte Saison 2023/24 weltweit zu seinem einzigen Thema zu machen.

„Ich gebe in dieser Spielzeit 88 „Goldberg“ Konzerte, und es gibt 88 Tasten auf dem modernen Klavier, auf dem ich spiele. Das ist sehr symbolisch und hat mich berührt, denn gerade Bach hatte ja seine Obsession für Zahlen und Symbole. Das hätte ihm sicher gefallen. Und mir gefällt es auch.“ Das sagt Ólafsson in einem Interview mit Manuel Brug in der Vorbereitung seiner Tournee.

 

Das Who is Who im Hochbarock

Die Goldberg Variationen sind wie das Who is Who des Hochbarock. Sie enthalten alles Wesentliche und Besondere, was die Kunst dieser Epoche ausmacht. Von den unterschiedlichen Tänzen, wie Gigue, Menuett, Passepied, oder Sarabande (um nur einige zu nennen) der typischen Rhetorik dieser Zeit (den stile antico oder auch stile concertato), den kirchenmusikalischen und operngerechten tonalen und ariosen Bezügen, bis hin zu den höchst virtuosen und hexenhaft schwierigen Anlehnungen an typische Exerzitien dieser Zeit, vor allem denjenigen von Domenico Scarlatti, dessen Werke Bach durchaus bekannt waren. Hier vor allem die fünfte und zwanzigste Variation.  All dies ist Bestandteil der Variationen, dazu in neun instrumentale Kanons unterteilt, und macht dieses Werk, so Ólafsson, „ein wenig wie eine Oper mit absolut dramatischer Zuspitzung im zweiten Akt, der mit der 16. Variation, der Ouvertüre, beginnt.

 

Europäische Traditionen

Musikhistorisch treffen sich in diesen Variationen italienische, französische und deutsche Traditionen. Das Spektrum reicht von einfachen Liedern, Kanons, bis zu komplexen polyphonen Techniken, vor allem in den Variationen 5, 14, 20, 23, und 28. Aber, und das ist Wesentlich, Sie bilden einen guten Ausgleich zwischen kunstvoller, ja artifizieller Struktur und natürlicher Anmut, Freude und Ausgelassenheit, wie beispielsweise im Quodlibet der 30. Variation, ein dreistimmiger Chor, ein scherzhaftes Potpourri zweier Volkslieder.

 

Alles andere als aufheiternd und sanft

Bekanntlich soll, so der Komponist und Bachbiograf Johann Nikolaus Forkel (1749-1818), Bach die 30 Variationen für den Organisten Johann Gottlieb Goldberg (1727-1756) im Auftrag seines Arbeitgebers, einem ehemaligen russischen Gesandten Graf Keyserlingk (1725-1766) geschrieben haben: „Der Graf kränkelte viel und hatte dann“, so Forkel, „schlaflose Nächte. Johann Gottlieb Goldberg, der Privatmusikus des Grafen, der bei ihm im Hause wohnte, musste in solchen Zeiten im Nebenzimmer die Nacht zubringen, um ihm während der Schlaflosigkeit etwas vorzuspielen.“ Angeblich bat der Graf J. S. Bach, dass er für seinen Goldberg Klavierstücke komponiere, „die so sanften und etwas munteren Charakters wären, dass er dadurch in seinen schlaflosen Nächten ein wenig aufgeheitert werden könnte.“ Eine Anekdote, die lediglich den Namen der Variationen erklären mögen, aber auch nicht mehr. Denn sie sind alles andere als sanft und aufheiternd.

 

Viel Herumgewerkele

Auch sei an dieser Stelle noch erwähnt, dass die außerordentliche Länge und Anstrengung der Variationen viele Interpreten und Komponisten dazu veranlassten, an der Komposition herumzuwerkeln, das heißt sie zu kürzen (Wiederholungen auszulassen), Variationen zusammenzulegen oder gar Teile regelrecht zu revidieren. So geschehen unter anderem bei Josef Gabriel Rheinberger (1839-1901), Carl Czerny (1791-1857) oder auch Ferruccio Busoni (1866-1924).

 

Die große Version – streitbar

Vikingur Ólafsson dagegen hat sich für die große Version entschieden. Ein Kraftakt von gut 75 Minuten. Hierüber lässt sich meines Erachtens trefflich streiten. Dauerten doch die 15. und 25. Variation, beide nahezu im Largo (statt im Andante bzw. Adagio) vorgetragen, gut 20 Minuten und strapazierten doch arg das Nervenkostüm. Auch sein Hang, das Ende der jeweils zweiteiligen Variationen mit einem sehr frühzeitig einsetzten Ritardando einzuleiten und zu beenden, beeinträchtige oftmals die Spannung und unterbrach den natürlichen Fluss.

Auch die überaus schnell zu spielenden Variationen 5, 14, 20, 23, 26, 27 und 28 konnten durch die starke Pedalierung nicht immer ihren perlenden Charakter zur Geltung bringen. Kleine Ungenauigkeiten vor allem in der fünften, zeigten zumindest, dass Ólafsson ein Mensch an den Tasten ist. Denn, und das sei hervorgehoben: Seine Interpretation ist ein gewaltiges Experiment und nie fertig. So betont er selbst in seinem Interview: „Aber natürlich muss ich dieses Werk auch immer wieder üben. Das muss präzise in den Fingerspitzen sein – wenn es nicht geputzt ist, hört man es sofort.“  Großartige Selbsteinschätzung.

 

Große Ruhe und hinreißende Abschnitte

Vikingur Ólafsson spielte mit großer Ruhe, vor allem die beiden Aria, zwei gravitätische Sarabanden, die das monumentale geschichtsträchtige und epochemachende Werk einrahmten. Seine lyrischen ja romantischen Interpretationen in Var. 13 (Arioso), 16 (Ouvertüre) und 21 (Lamento) mit etwas viel Rubato, dafür aber mit großer Hingabe gespielt, zeigten seine Experimentierfreudigkeit im Sinne von „Bach als Wegbereiter für kommende musikalische Epochen“.  Hinreißend sein Quodlibet, die letzte der 30 Variationen. Ein Ausbund an Freude, ein Gesang mit Orchesterbegleitung. Der Steinway Flügel ächzte regelrecht unter seinen Händen. Einfach klasse.



„Ich kann mich nicht wiederholen“

Ólafsson beginnt gerade seine 88 Stationen in dieser Spielzeit und Frankfurt ist eines seiner ersten Orte. Wer weiß, wie er die Variationen in der 88sten Vorstellung spielen wird. Er selbst ist ebenfalls gespannt darauf, denn keine Interpretation ist wie die andere, und jede Interpretation geht neue Wege. „Ich kann mich nicht wiederholen“ meint er im Interview. Und Recht hat er. Das Publikum im fast voll besetzten Großen Saal der Alten Oper Frankfurt war begeistert. Eine Zugabe war gewünscht, aber es hätte nicht gepasst. Sein neuestes Album mit den Goldberg Variationen erscheint bei der Deutsche Grammophon, jetzt im Oktober. Ich warte auf seine Fortsetzung.

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