Dienstag, 14. November 2023

Alexandre Kantorow, Klavierrezital in der Alten Oper Frankfurt, 13.11.2023

Foto: ARTE.tv)

Ungläubiges Staunen

Man erinnert sich gerne an den Debütauftritt von Alexandre Kantorow (*1997) im Oktober 2022 mit den Münchner Philharmonikern unter Thomas Hengelbrock zurück. Eine hochkarätige Zusammensetzung, in der Kantorow dennoch dominierte und den exorbitanten Klangkörper nebst seinem überragenden Dirigenten förmlich in den Schatten stellte. Er spielte damals, hemdsärmelig, lässig und mit wilder Mähne Rachmaninows 1. Klavierkonzert und hinterließ, schlicht ausgedrückt, ungläubiges Staunen, denn tatsächlich hätte er das Orchester nicht gebraucht. Er war das Orchester. Das, auf den Punkt gebracht, und ohne die Klasse seiner musikalischen Mitstreiter nur annähernd zu schmälern.

 

Ein Programm von kaum be-spielbaren Kompositionen

Jetzt trat er solistisch auf und hatte ein Programm in der Tasche, das von kaum bespielbaren Kompositionen nur so strotzte und die er dennoch in gut zweieinhalb Stunden mit einem Spannungsbogen präsentierte, der keine Sekunde Langeweile oder gar Überforderung aufkommen ließ.

Sechs Werke von Johannes Brahms, Franz Liszt, Béla Bartók, Sergej Rachmaninow und Johann Sebastian Bach. Und keines davon ist von der sprichwörtlichen Stange.

Alexandre Kantorow (Archivfoto)

Die Pausen sind seine Stärke

Unprätentiös wie der junge Mann auftritt, ohne jegliche Allüren, begann er zum Einspielen mit Johannes Brahms´(1833-1897) 1. Rhapsodie in h-Moll op.79 Nr. 1. (1879). Hier muss man eine kleine Korrektur anlegen, denn die beiden Rhapsodien von Brahms gehören tatsächlich zum gängigen Repertoire der meisten Pianisten. Jetzt kommt allerdings das Aber: Alexandre Kantorow spielte sie nicht allein in rasendem Tempo, wie es wohl auch Brahms bevorzugte, sondern auch in unglaublicher Langsamkeit, vor allem im Mittelteil der klar strukturierten Erzählung, wie es wohl Clara Schumann bei ihrer Interpretation bevorzugte. Kantorow erzählte, theatralisierte, machte lange Pausen zwischen den unterschiedlichen Themen, scheute sich nicht vor extremen Tempowechseln und changierte unbefangen zwischen Dreifach forte und dreifach piano. Extrem spannende neun Minuten luden dann zu Franz Liszts (1811-1886) virtuosen Studien ein.

 

Entfesselte Wildheit und tiefe Verzweiflung

Zuerst die Chasse neige (Schneetreiben), die zwölfte und letzte aus seinen Études d´execution transcendente (1837), eine irrlichternde, nahezu bodenlose Studie von entfesselter Wildheit und tiefer Verzweiflung. Kantorow beherrschte die dominanten Tremoli und die komplexe Chromatik mit einer schwindelerregenden Leichtigkeit. Auffallend bereits hier seine Kunst der Pause. Immer mal wieder gedankliche Erholung, bevor er sich in neue oktavierende konturreiche Abenteuer stürzt.

Alexandre Kantorow (Archivfoto)

Gefühle, reine Gefühle

Dann ohne Übergang zum Vallée d´Obermann aus Franz Liszts Pilgerjahren (Années de Pèlerinage). Es ist das Sechste aus seinem ersten Reisejahr in der Schweiz und zwischen 1835/36 entstanden. Ein Zyklus von neun Reiseerlebnissen. Hier aber bezieht sich Liszt auf eine 1804 erschienen Briefroman Oberman von Ètienne Pivert de Senancour (1770-1846), ein Kultautor seiner Zeit, der die Gefühle der Romantik publikumswirksam literarisch zu fassen wusste. Hier geht es um Gefühle, um reine Gefühle.

Kantorow verstand es, die Empfindsamkeit der Romantik voll zur Geltung zu bringen. Ist der erste Teil noch von einem spannungsgeladenen Adagio beseelt, mit wunderbaren Pauseneinlagen, besticht der zweite Teil durch eine melodische Volksweise. Zunächst im Lento präsentiert, führt sie sukzessive zur Erregung bis zum Wahnsinn. Unglaublich, wie der Pianist den Flügel zum Donnern bringt und dann, quasi unvermittelt, schönst Lyrik anbietet. Und dazwischen immer wieder die erzählenden Pausen, Fermaten von ungeheurer Wirkung. Ein aufmüpfiger Schluss lässt den Flügel noch einmal zum Orchester mutieren. Man fragt sich, wie das Gerät diese unbändige Kraft des äußerlich doch eher fragil erscheinenden Pianisten aushält.

Alexandre Kantorow (Foto: Gürzenich Orchester Köln)

„Eine wüste Abschiedsfeier“

Den Abschluss des ersten Teils bildete Béla Bartóks (1881-1945) Rhapsodie op.1 (1904). Ein gut 20-minütiges Werk, selten aufgeführt, aber von exorbitanter Wirkkraft. Bartók feiert hier förmlich eine „wüste Abschiedsfeier“ (siehe Programm) von der damals herrschenden Salonkultur der sogenannten Ungarischen Rhapsodien und Tänze. Man hört viel Skrjabin und Liszt heraus, beide Komponisten waren Bartók wohl bekannt und von ihm sehr geschätzt.

Es ist ein janusköpfiges Werk, zumindest im ersten Teil, dem Adagio molto, das nur bedingt zutrifft, aber von Kantorow in unfassbarer Dynamik und schwierigsten Oktavläufen vorgetragen wird. Hier ist Bartók kaum erkennbar, quasi noch der alte, der sich am Mainstream der Kompositionsstile orientiert. Erst im zweiten Teil, dem Allegretto spürt man die Aufbruchstimmung des Komponisten. Hier dominieren bereits die folkloristischen Elemente, hier kommen Csárdás und Verbunkos, klassische ungarisch-rumänische Werbetänze zum Tragen. 1904 ist das kompositorische Wendejahr Bartóks. Jetzt orientiert er sich an der realen Folklore seiner Heimat, wissenschaftlich prägnant und authentisch. Hier aber dekonstruiert er quasi diese Tänze, führt sie in virtuose Abgründe, reduziert sie zur Unkenntlichkeit, und dennoch führt die Raserei schlussendlich zu einem sphärischen, ja versöhnlichen Schluss. Bartók und Kantorow: Beide bewegen sich in musikalischen Grenzbereichen, der eine in seiner Notation, der andere über seine Interpretation. Kantorow ist ein Phänomen.

Alexandre Kantorow (Foto: Sasha Cusov)

Eine sinfonische Dichtung der besonderen Art

Kommen wir zu Sergeij Rachmaninow (1873-1943). Seine Sonate Nr. 1 in d-Moll (1908) könnte auch als sinfonische Dichtung bezeichnet werden. Sie ist mit Goethes Faust verknüpft (vergleichbar mit Liszts Faust Sinfonie) und erzählt, mitunter langatmig, in Charakterbildern die Gegensätzlichkeiten der Hauptprotagonisten Faust, Gretchen und Mephisto. Rachmaninow selbst war mit diesem Werk – was allerdings sehr seine Klavierkonzerte drei und vier beeinflusste – wenig einverstanden und meinte dazu: „Das Werk wird wegen seiner Schwierigkeit und Länge niemals gespielt.“ Tatsächlich dauert es auch nach energischer Kürzung immer noch gut 35 Minuten und gehört wohl zum Schwierigsten der existierenden Klavierliteratur, was die meisten Pianisten von der Beschäftigung damit abhält.

 

Alexandre Kantorow (Foto: Daniel Dittus)

Großes Musiktheater

Kantorow allerdings versteht es, aus diesem gigantischen fast undurchschaubaren Monstrum mit angedeuteten Selbstmordgedanken, Szenen aus dem Auerbach Keller, der Walpurgisnacht und nicht zuletzt dem Weltenende des Dies Irae, dies illa, ein großes Musiktheater zu zaubern. Faust als verzweifelter Sucher nach Erkenntnis, Gretchen, die Träumerin einer heilen Welt und Mephisto, der Vertreter des letzten, leeren Augenblicks, der sowohl das Gretchen, wie auch Faust hinters Licht führt und deren Seelen zu verführen sucht. Das Weltenende, der mittelalterliche Mönchsgesang vom Jüngsten Gericht, dominiert den Schlussteil und der Pianist scheint in extremstem Prestissimo und unglaublicher Lautstärke, ein gefühltes vierfach forte, die Welt aus den Angeln heben zu wollen. Höchste Anspannung und gleichzeitig die Zeit festhaltend, lässt dieses martialische Werk zu einem dramatischen Krimi werden.

Alexandre Kantorow in der Alten Oper Frankfurt (Foto: H.boscaiolo)

Ein spannungsgeladener Steigerungslauf

Große Ruhe und tiefe Hingabe dann bei der Bachschen Chaconne d-Moll für Violine solo aus der d-Moll Partita BWV 1004 in der Bearbeitung von Johannes Brahms für die linke Hand am Klavier (1877/78).

Clara Schumann, hatte sich eine Sehnenscheidenentzündung eingehandelt, konnte ihre rechte Hand also nicht gebrauchen. Brahms schrieb, das war im Jahre 1877, für sie die Chaconne, die er als eines seiner Lieblingsstücke bezeichnete, für die linke Hand um, einfach, mit wenigen Veränderungen vom Original, und erreichte damit einen ungeahnten Erfolg. Er nahm diesen gut 16-minütigen spanischen Tanz deshalb auch in sein fünftes Heft der Studien für das Pianoforte 1878 auf.

Die allseits bekannte Chaconne wird allerdings auf den Klaviertasten sehr, sehr selten präsentiert. Kantorow, der es sehr langsam angehen ließ machte auch hier aus dem sich ständig wiederholenden Ostinato einen spannungsgeladenen Steigerungslauf. Immer expressiver, immer orchestraler, immer voluminöser. Ein Tanz, der zwischendurch zu virtuosen Ausschweifungen abglitt und schlussendlich in unfassbarer Fülle in einem triumphalen d-Moll Oktav-Fall sein finales Leuchtfeuer erfährt.


Er gehört in den Parnass der besten Pianisten auf dem Globus

Sprachlos klatscht man diesem Ausnahmekünstler zu, sogar wildes Lobgeschrei, wie sonst üblich, bleibt aus. Alle stehen zwar, aber stumm vor Begeisterung.

Zwei Zugaben lässt sich Kantorow nicht nehmen, und die haben es ebenfalls in sich. Aus den Années de Pèlerinage spielt er noch aus dem ersten Band seiner Pilgerreise die Nummer 8 Le mal du pays (Heimweh) und die Nummer 9 Le Cloches de Genève (die Glocken von Genf). Echte Ohrwürmer, aber mit perfekter Brillanz und tiefer Hingabe vorgetragen. Dieser junge Mann gehört nun endgültig in den Parnass der besten Pianisten auf diesem Globus. Und das ist keine Übertreibung.

 

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