Mittwoch, 15. November 2023

Hélène Grimaud am Flügel mit dem London Philharmonic Orchestra (Leitung: Edward Gardner) in der Alten Oper Frankfurt, 14.11.2023 (eine Veranstaltung von PRO ARTE)

Edward Gardner und Hélène Grimaud mit dem London Philharmonic Orchestra
(Foto: Hannoversche Allgemeine) 

Ganz auf Brahms eingestellt

Die französische Pianistin, Bauchautorin, vielfach preisgekrönt und Ritterin der französischen Ehrenlegion und seit Jahren regelmäßiger Gast in der Alten Oper Frankfurt, Hélène Grimaud (*1969), hatte von Johannes Brahms (1833-1897) sein erstes Klavierkonzert in d-Moll op.15 (1859) mitgebracht und wurde dabei vom renommierten London Philharmonic Orchestra unter der Leitung ihres Chefdirigenten Edward Gardner in bester Professionalität unterstützt.

Der gut besetzte Große Saal der Alten Oper Frankfurt hatte sich an diesem Abend ganz auf Brahms eingestellt und dabei auch die besonderen Begleitumstände der beiden Kompositionen (im zweiten Teil des Konzerts spielten die Philharmoniker noch Brahms´ Sinfonie Nr. 1 in c-Moll op 68 (1876)) durchaus im Blick.


Glänzend durchgefallen

So ist das erste Klavierkonzert alles andere als von Erfolg gekrönt. Fiel es doch bei seiner Uraufführung 1859 in Hannover, wie auch bei seiner zweiten Vorstellung im Gewandhaus Leipzig, mit Johannes Brahms höchstselbst am Flügel, Ende Januar völlig durch. So schreibt der Kritiker der Leipziger Musikalischen Welt unter anderem: „Und dieses Würgen und Wühlen, dieses Zerren und Ziehen, dieses Zusammenrücken und wieder Auseinanderreißen von Phrasen und Floskeln muss man über dreiviertel Stunde lang ertragen!“ Selbst Brahms muss eingestehen, schreibt er in einer Depeche an seinen Freund, den Dirigenten Joseph Joachim (1831-1907) „…, dass mein Konzert hier glänzend und entschieden – durchfiel.“

Edward Gardner (Foto: Benjamin Ealovega)

Ein gleichberechtigter Dialog mit Irritationen

Tatsächlich ist das Konzert schwere Kost, wenngleich von einer zukunftsweisenden Idee beseelt, nämlich das Klavier quasi mit dem Orchester verschmelzen zu lassen; einen gleichberechtigten Dialog zwischen Solo und Tutti herzustellen. Aber auch viel religiöse und romantische pastorale Element enthält das Werk. So ist das Adagio des zweiten Satzes eher ein Benedictus (Gelobt sei der Name des Herrn) im Stil eines Messsatzes (nicht von ungefähr findet die Melodie im Deutschen Requiem von 1869 seine Fortsetzung) verfasst. Auch ist das Schluss-Rondo mit eingebautem Fugato der Streicher und triumphalem, von Hornrufen begleitetem Finale, eher von düsterer Natur, als von optimistischer Voraussicht. Last but not least irritiert der Kopfsatz mit seinem langen einleitenden Maestoso des Orchesters und dem relativ späten Einsatz des Klaviers in Takt 91. Eigentlich erst kurz vor der Durchführung. Hier dominiert der Dialog zwischen pastoralen Jagdhornmotiven und solistischen Kontrasten wie virtuosen Oktavläufen mit einer kaum fesselnden Kadenz gegen Ende des Sonatenhauptsatzes.

 

Empathie-arm

Hélène Grimaud in Silberglitzerhose und schwarzem Shirt, hinterließ während ihrer Interpretation  eher einen unruhigen Eindruck. Offensichtlich passte ihre Sitzposition nicht so recht. Sie erschien auffallend blass. Ihr Tastenspiel wirkte eher kraftlos und wenig empathisch. Die schwierigen Oktavläufe und ausgedehnten Triller klapperten und ließen es an dynamischer Brillanz fehlen. Erst im abschließenden Rondo kam Leben in sie. Hier griff sie energisch in die Tastatur, wurde zur treibenden Kraft (manchmal zu sehr) und ließ ihre pianistische Ausnahmeerscheinung aufblitzen. Edward Gardner, der sich als souveräner und sehr aufmerksamer Dirigent erwies, hatte alle Hände voll zu tun, das Zusammenspiel zwischen Tutti und Solo zu harmonisieren.

Insgesamt konnte diese Vorstellung des Konzerts für Klavier und Orchester nicht recht überzeugen, wenngleich das Publikum sehr zufrieden zu sein schien. Immerhin gab Grimaud eine kurze Zugabe, die Nr. 2 C-Dur aus den acht Études tableaux op. 33 von Sergei Rachmaninow. Aber auch hier herrschte eher professionelle Ratio statt musikalische Empathie vor. Sie beließ es denn auch dabei. Ungewöhnlich.

Hélène Grimaud (Foto: Bonner Generalanzeiger)

Beethoven als Motivationsbremse

Bekanntlich ist die Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 68 (1876) von langandauenden Geburtswehen begleitet. Bereits Anfang der 1860er Jahre beschäftigt sich Brahms mit dem Gedanken einer Sinfonie nach dem Vorbild Ludwig von Beethovens. Dessen Neunte war es, die ihn motivierte, aber gleichzeitig auch lähmte. So war ihm das Erbe Beethovens zunächst eher ein Hindernis, denn eine Hilfe und nicht selten entschuldigte er sich bei Nachfrage über den Stand des Arbeitsprozesses mit der Feststellung, dass nach Beethoven eine Sinfonie zu komponieren nahezu unmöglich sei. Viele Briefwechsel begleiten die Komposition, bis sie endlich im Oktober 1876 ihren Abschluss findet und im November desselben Jahres in Mannheim zur Uraufführung kommt.

Hélène Grimaud (Foto: PRO ARTE)

Zwischen Offenbarung und Nüchternheit

Aber auch dieses Werk hat mit Geburtswehen zu kämpfen. Selbst seine engste Vertraute Clara Schumann (1819-1896) hatte Probleme mit dieser Sinfonie, wenn sie schreibt, es fehle ihr der „Melodien Schwung“. Ebenso bemängeln die zeitgenössischen Kritiker ihre „karge Ernsthaftigkeit“, es herrsche eine Nüchternheit, eine Askese vor. Man achte und respektiere sie mehr, als dass man sie liebe.

Unverkennbar ist die Sinfonie an Beethovens Neunter wie auch seiner Fünften und Sechsten orientiert, mit einer Programmatik im Sinne von per aspera ad astra, von einer melancholischen, ja pessimistischen Stimmung bis zum Durchbruch im Finalsatz, zum Jubel und Triumph, zum Alle Menschen sind Brüder. Ganz im Sinne Beethovens. Nicht von ungefähr nannte sie Hans von Bülow (1830-1894), Dirigent und Pianist wie auch Gatte von Cosima Wagner „Die zehnte Sinfonie“ und verortet sie zwischen Beethovens zweiter und dritter Sinfonie. Für den weltberühmten Dirigenten, Zubin Mehta (*1936), bedeutet diese Sinfonie gar „eine Offenbarung“.

Hélène Grimaud (Foto: Mat Hennek)

Von der Nacht zum Licht

Zwischen Offenbarung, 10. Sinfonie und Mangel an Schwung, Nüchternheit und Askese also alles vorhanden. Unter der brillanten Leitung von Edward Gardner (*1974) wurde dieses fast 50-minütige Werk zu einem ganz besonderen Erlebnis. Ihm gelingt es, alle vier Sätze miteinander zu verschränken und die Idee des Formprozesses von der Nacht zum Licht kongenial herauszuarbeiten. Erst im Schlusssatz, zwischen Adagio – piú Andante – un poco allegretto e grazioso – Piú Allegro, findet der Prozess seinen philosophischen Abschluss. Hier wird der Kontrast des Alphorns als Zeichen der Natur, und der Choral, als Zeichen der Religion, zum Kernpunkt der Gedankenwelt des ausgehenden 19. Jahrhunderts. War es in Beethovens Neunter noch das Kantische Prinzip des Bürgers, sich aus der selbstverschuldeten Knechtschaft zu befreien, so ist es jetzt eher, nach andauernder Machtlosigkeit der Menschen, ein Rückbesinnen auf die Natur und die Religion. Hier sind durchaus Parallelen zur heutigen Zeit zu erkennen, was diese Sinfonie auch immer noch aktuell sein lässt.

Edward Gardner (Dirigent) und das London Philharmonic Orchestra in der Alten Oper Frankfurt
(Foto: H.boscaiolo)

Zwischen Spätromantik und Moderne

Das London Philharmonic Orchestra mit seinen 73 Instrumentalisten (in der Mehrheit weiblich besetzt) schafften unter ihrem kongenialen Dirigenten Edward Gardner mit ihrer ganz speziellen Interpretation des op.68 ein stimmungsvolles Bild des Übergangs von der Spätromantik in die Moderne. Tatsächlich ein kontrastierendes Spiel zwischen Himmel hoch jauchzend und zu Tode betrübt. Wahrlich eine mitreißende Musikshow in einer Zeit des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Umbruchs.

Viel Beifall und natürlich eine Zugabe. Brahms Ungarischer Tanz Nr. 5 in cis-Moll sollte es sein. Frisch und die Köpfe reinigend nach der doch schweren Kost dieser „Offenbarung“.

 

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