Dienstag, 30. Januar 2024

Happy New Ears, Portrait Johannes Kalitzke, Werkstattkonzert mit dem Ensemble Modern, Hochschule für Musik und Darstellende Kunst (HfMDK), 29.01.2024

Johannes Kalitzke (Foto: Nafez Rerhuf)

Die Werckmeisterschen Harmonien

Ein sehr komplexer Abend mit Johannes Kalitzke (*1959) höchstpersönlich sollte es werden. Denn es ging weniger um ein persönliches Portrait, sondern vielmehr um dessen Musik zum Film von Bela Tarr (*1955) Die Werckmeisterschen Harmonien (Werckmeister harmóniák) aus dem Jahre 2000.  

 

Ein umtriebiger Künstler

Johannes Kalitzke ist bekanntlich ein sehr umtriebiger Künstler auf diversen Parketten. Neben seiner dirigistischen Tätigkeit (zurzeit hat er eine Professur für Dirigieren an der Universität Mozarteum Salzburg inne) komponiert er Musiktheater, Opern und seit den 2000ern auch Filmmusiken. Darunter die Musik zu den Stummfilmen Die Weber (1927), Schatten (1923), Orlacs Hände (1924) oder auch Hoffmanns Erzählungen (1923). Es erübrigt sich zu erwähnen, dass er seit den 1990er Jahren regelmäßig mit dem Ensemble Modern kooperiert.

Ensemble Modern (Foto: Wonge Bergmann)

Zwischen Empathie und Barbarei

Jetzt zum Thema des Werkstattabends im vollbesetzten großen Saal der HfMDK. Wie immer bei solchen Werkstattkonzerten spielte das 12-köpfige Ensemble-Team zunächst eine sechsteilige musikalische Kompilation, oder besser: die klangliche Abbildung zu Werckmeister Harmonies (2020), die übrigens an diesem Abend die Deutsche Erstaufführung erfuhr. Ein 25 Minuten andauerndes Werk zu einem düsteren unheilvollen Ereignis in einem ungarischen Dorf. Aufgeteilt in Konjunktion, Bedrängnis, Spreizung, Auge, Marsch und Auslöschung, wurde der Hörer konfrontiert mit einem extrem stimmungsgeladenen, den Film charakterisierenden Werk, ergänzt durch elektronische Samples auf der Basis des Bachschen Präludiums aus dem wohltemperierten Klavier Nr. 1. Es-Moll BWV 552. Eine gewöhnungsbedürftige, weil sehr perkussiv (vier Perkussionisten), sehr flächig und extrem aufgeregt präsentierte Musik mit Spannungszuständen zwischen, so Kalitzke, „Empathie und Barbarei“, zwischen „Lyrik und auf die Pelle rücken“.

 

Ein harmoniebedürftiges Dorf

Aber worum geht es eigentlich? Der Film basiert auf der Erzählung eines Dorfereignisses der besonderen Art. Denn das Dorf sucht die Harmonie, die wirklich echte. Dazu stimmt der Dorfpianist, hier gespielt von Peter Fitz, seinen Flügel von der wohltemperierten in die pythagoreische Stimmung (die quintenreine Naturtonstimmung) um. Gleichzeitig kommt eine undurchsichtige Schaustellertruppe mit einem Walfischkadaver ins harmoniebedürftige Dorf und erzeugt Unruhe und Ressentiments, initiiert von einem unsichtbaren Prinzen. Diese weiten sich zu einem Massaker aus, welches den Pianisten zur Erkenntnis zwingt, die Menschheit könne keine Harmonie ertragen. Er entscheidet sich, sein Klavier wieder in die Werckmeister-Stimmung zu transponieren. Sie ist weitläufig identisch mit der heutigen üblichen wohltemperierten Stimmung auf 440 Hertz.

Johannes Kalitzke und Nina Goslar im Gespräch (Foto: H.boscaiolo)

„Film und Musik passen nicht zueinander“

Der Film, so heißt es, ist absolut barbarisch und kaum zu ertragen. Im Werkstattgespräch mit der pensionierten, ehemals in der ZDF-Filmredaktion tätigen Moderatorin, Nina Goslar, erklärte sich Kalitzke noch einmal ausdrücklich zu seiner Komposition, die mit dem Filmgeschehen nichts zu tun habe: „Film und Musik passen nicht zueinander.“ Ihm gehe es um die Spannungszustände, um die Verdeutlichung der Barbarei kontra Empathie, die er mit dem Wechsel zwischen den unterschiedlichen Stimmungen verdeutlichen wolle. Dabei erinnert er an die Vertreter des Spektralismus (Gérard Grisey oder Tristan Murail) wie auch an Helmut Lachenmann mit seiner Aufforderung, neue Instrumente zu bauen. Das versuche er durch entsprechende Aggregatzustände klanglicher wie rhythmischer Art zu verwirklichen, wozu ihm Samples, elektronische Zuspielungen und klangliche Verfremdung hilfreich seien.

 

Filmbeispiele

Frau Goslar, die bereits einige Filmprojekte mit Kalitzke produzierte, stellte zwei Sequenzen aus dem zweieinhalbstündigen Film vor (Musik übrigens von Mihály Vig), eine auf einem nebelverhangenen Platz mit einem mächtigen Lastwagen, aus dessen geöffneter Heckfront ein Walfischschwanz sichtbar wird. Eine gruselige Szene mit dem Schauspieler Lars Rudolf. Sie dauert drei Minuten. Und eine zweite mit Peter Fitz, dem Pianisten, der das es-Moll Präludium hört und seine pythagoreische Stimmung vorbereitet. Beide Szenen waren natürlich nicht kompatibel mit dem Instrumentalwerk, aber Kalitzke erläuterte an diesen Beispielen seine Grundgedanken zu Werckmeister Harmonies. Wert legt er z. B. auf den Aufbau der Unruhe im zweiten Teil der Bedrängnis durch vertikale Akkorde mit unterschiedlichen Metren. Auch ein verfremdetes Kalimba auf Pauke mit Sample gehörten dazu.

Ensemble Modern und Johannes Kalitzke im Großen Saal der HfMDK
(Foto: H.boscaiolo)

Film und Musik passen zueinander

Die Moderatorin, die sich vehement auf Filmbeispiele kaprizierte und mit keinem Wort auf die Erstaufführung einging, sorgte noch für eine drittes Sequenz aus dem Fantasy Drama Schatten (1923), das Kalitzke mit ihr 2016 produzierte. Ein Ausschnitt einer Liebesszene mit Fritz Kortner, die von einem Eifersüchtigen beobachtet wird. Hier, so der Kommentar, passe die Musik ausgezeichnet zur Handlung, sehr psychologisch und spiegelbildlich. Im Gegensatz zu Werckmeister Harmonies, wo er gänzlich davon Abstand nimmt. Dennoch benutze er vor allem in Auge, dem 4. Abschnitt, das Prinzip der Doppelung, um das Innere des Wals wie das der Menschen musikalisch zu veranschaulichen. Dabei verweist er auf Gioachino Rossini, der durch permanente Wiederholungen und Steigerungen Gefühle regelrecht aufzupeitschen in der Lage sei.

Ensemble Modern und Johannes Kalitzke im Großen Saal der HfMDK
(Foto: H.boscaiolo)

Poesie ist die einzige Antwort auf die Gewalt

Abschließend stand die Frage des Geschichtspessimismus im Raum, der diesen Film doch begleitet. Sicher, so Kalitzke, gehe es hier um das Phänomen von "Masse, Macht und Glaube". Und da gehöre der Film nicht gerade auf die Seite der Hoffnung. Aber er, als Dirigent, Komponist und Zeitgenosse könne sogar in der letzten Sequenz des Films - eine extreme Gewaltszene, die sofort in Apathie kippt, als die Meute einen alten nackten Mann zu Gesicht bekommt - Hoffnung schöpfen. Der Inbegriff der Sterblichkeit und Verletzlichkeit. Hier werde deutlich, wie manipulierbar Masse sei (vor Ort durch den unsichtbaren Prinzen), wie aber Gewalt in Sekundenschnelle in "friedlichen Fatalismus" wechseln kann. Seine persönliche Haltung sei schlicht die des poetischen Gegengewichts. Für ihn als Künstler sei Poesie die einzige Antwort auf Gewalt, Ungerechtigkeit und Totalitarismus.

 

Ein wenig werkbezogenes Gespräch

Ein Nachdenkens wertes Schlusswort in einem doch ziemlich akademischen und wenig werkbezogenen Gespräch. Die zweite Aufführung von Werckmeister Harmonies für Ensemble, und das ist ein immer wiederkehrendes Phänomen, geriet um Längen besser als die Erste. Woran das liegen mag, steht in den Sternen. Ist es das bessere Verständnis des musikalischen Gehalts oder lediglich nur die Gelöstheit der Instrumentalisten? Jedenfalls ließen sich die 25 Minuten wesentlich besser ertragen, als bei der Erstaufführung.

 

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