CRESC … Festival für aktuelle Musik, Fadenspiele 2024 vom 16.02. bis zum 25.02.
Eröffnungskonzert mit dem Ensemble Modern und dem hr-Sinfonieorchester (Leitung: Sylvain Cambreling), hr-Sendesaal, 16.02.2024
Gérard Grisey (Foto: Gramophone) |
Fadenspiele
– ein Konzept des Miteinanders
Das Motto
des diesjährigen Festivals lautet schlicht Fadenspiele. Was aber bedeuten
sie? Es sind Geschicklichkeitsspiele mit einer geschlossenen Kordel, auch Abnehme-
oder Abhebespiele genannt, deren ursprüngliche Herkunft unbekannt sind, die
aber, und das scheint gesichert, seit Urzeiten weltweit praktiziert werden. Die
bis heute umfangreichste Sammlung tausender dieser Spiele stammt von der
amerikanischen Ethnologin Caroline Augusta Furness-Jayne (1873-1909, veröffentlicht
1962 von Dover Publications). So nennt man sie beispielsweise in Australien
Känguru, in Afrika Leopard Fell, oder in Frankreich und
weitestgehend auch in Europa Eiffelturm.
Ihr Zweck
lässt sich simpel darin zusammenfassen, dass im Prozess der Musterfindung, des
Fallenlassens der Fäden, der Findung neuer, unbekannter Strukturen, des
ständigen Versuchs und Irrtums, Verständigungs- und Kommunikationsformen
gefunden werden, ohne Sprache, sozusagen über alle Sprachgrenzen hinweg.
Nicht von ungefähr betonten in ihrer Eröffnungsrede sowohl der Management-Chef des hr-Sinfonieorchesters, Michael Traub, wie der Geschäftsführer des Ensemble Modern (EM), Christian Fausch, das Konzept des Miteinanders, das in Zeiten der Spaltung und Trennung ein wichtiges Element der Inspiration und der Hoffnung sei.
Sylvain Cambreling (Foto: Marco Borggreve) |
Das
Wachsen des Klangs
Welche Musik passt dazu besser, als das Opus Magnum des leider viel zu früh verstorbenen Spektralisten Gérard Grisey (1946-1998) Les Espaces Acoustique, welches er im Laufe von elf Jahren, zwischen 1974 und 1985, in nicht chronologischer Kleinarbeit zu einem Gesamtkunstwerk wachsen ließ. Ja das Wachsen des Klangs beschreibt es vielleicht am eindrücklichsten. Denn das sechsteilige Werk beginnt mit einem schlichten Bratschensolo als Prolog und wächst sich sukzessive aus bis zum riesigen Orchesterapparat im Epilog.
Megumi Kasakawa (Foto: Sebastian Reimold) |
Solo mit Herzschlag
Gehen wir in die Einzelheiten. Wie gesagt, es beginnt mit einem Bratschensolo, gespielt vom EM-Mitglied Megumi Kasakawa. Ein etwa fünfzehn Minuten dauernder Prolog (Prologue, 1974), der sich im Wesentlichen melodisch zeigt, spiralförmig aufsteigt und immer wieder auf einen leicht veränderten Grundton zurückfällt. Man ist an einen Herzschlag erinnert, der durch Rhythmus Störungen unterbrochen wird. Nie aber bedrohlich, sondern vielmehr variativ erweiternd. Megumi Kasakawa strahlt eine meditative Ruhe aus trotz des ständigen Widerstreits zwischen den beiden Ebenen. Ohne elektronische oder technische Mittel (wie übrigens ebenfalls interpretatorisch vorgesehen) eine wahre Sisyphus Arbeit der wunderbaren Solistin.
Sylvain Cambreling und das Ensemble Modern im hr-Sendesaal (Foto: Sebastian Reimold) |
Spektrales
Spektakel
Dem Prolog
folgte in fließendem Übergang Périodes (Perioden, 1974) für sieben Instrumente.
Vier Streicher, eine Klarinette, eine Flöte und eine Posaune. Hier wird das
akustische Feld erweitert, neue Motivstrikturen entwickelt, aber die formale
Ähnlichkeit zum Prolog beibehalten. Gleiches geschieht in den folgenden Abschnitten
Partiels (Partialstimmen, 1975) für 18 Musiker und Modulations
(Modulationen, 1977) für 33 Musiker. Jetzt spielen die perkussiven Partien eine
wachsende Rolle, aber auch die Klangflächen, Schichtungen und spektralen
Auslotungen der Tonstrukturen der einzelnen Instrumente geben diesen Teilen
einen rauschhaften Charakter, den Grisey selbst als „Dialektik zwischen
Delirium und Form“ beschreibt. Vogelschwärme und pochende Schläge von Kontrabass
scheinen diesen Widerspruch am besten zu beschreiben. Wellenförmig steigert
sich das Klangerlebnis bis zum Extrem, untermalt von Hammondorgel und „antikem“
Lesley Verstärker, mit Harfen, Bongo, Trompeten, Vibraphon, Xylophon und Tuba.
Ein elend langer Orgelpunkt, langsam ins Morendo übergehend, setzt diesem spektralen Spektakel mit einem gewaltigen Beckenschlag einen vorläufigen Endpunkt.
Ensemble Modern im hr-Sendesaal (Foto: H.boscaiolo) |
Ein
Farbenteppich – eine Gemäldegalerie
Sicher
könnte man jedes einzelne Werk gesondert aufführen, ohne das Gefühl etwas
versäumt zu haben. Insofern war die Pause eher eine der Sammlung, um das Neue
Spektralerlebnis mit hr-Sinfonieorchester und Ensemble Modern gemeinsam
erleben zu dürfen. Gut 90 Musikerinnen und Musiker besetzten die riesige Bühne
des Sendesaals und ließen mit einem heftigen Tutti Einstieg das Publikum wieder
in höchste Aufmerksamkeit wechseln. Wir befinden uns jetzt in Transitoires
(Transitorien, 1981) für großes Orchester. Ein 21 Minuten dauerndes Klangerlebnis
der besonderen Art.
Tatsächlich waren jetzt die Bläser drei- und vierfach (die Hörner) besetzt. Ca. 50 Streicher und vier Perkussionisten, sowie ein E-Gitarrist, eine Akkordeonistin, ein Tastenspieler und eine Harfenistin kamen dazu. Jetzt kannte das Rauschen keine Grenzen mehr. Die Reibungen, flächigen Bordune und heftigen Ausschläge einzelner Instrumente und Instrumentengruppen ließen Form und Spektralklang miteinander verschmelzen und einen kurzweiligen, weil ständig wechselnden Farbenteppich entstehen. Wie eine Gemäldegalerie der Epochenstile, mal abstrakt, mal konkret, mal figuriert. Unglaublich, die Worte fehlen hier.
hr-Sinfonieorchester und das Ensemble Modern im hr-Sendesaal (Foto: H.boscaiolo) |
Kurzweilige
Längen
Der Epilogue (Epilog, 1985) für vier Hörner und großes Orchester rekurrierte zunächst auf den Prolog. Man entsann sich des Anfangs. Megumi Kasakawa spielte ihr Eingangssolo wenige Minuten an, erholsam nach dem herkulischen Klanggewitter, wurde aber dann von vier Hornisten vom erhöhten Background der Bühne abgelöst. Fanfarenartig mit kurzen eindringlichen Fünftonmotiven und chromatisch abfallenden Schlusspassagen übertönten sie das Orchester, das in einen Grundton, überwiegend im piano gehalten, verfiel. Ein Wahnsinnskontrast, der kurzzeitig sogar in einen jazzartigen, synkopisch verfremdeten von Militärtrommel und Snare begleiteten Schluss einmündete. Ein heftiger Becken- und Paukenschlag beendete das spektrale Erlebnis von gut 95 Minuten Länge, ohne nur eine Sekunde Langeweile aufkommen zu lassen. Sylvain Cambreling wie die beiden bestens aufgelegten Klangkörper hatten selbstverständlich ihren gewohnt exzellenten Beitrag dazu geleistet
hr-Sinfonieorchester und das Ensemble Modern im hr-Sendesaal (Foto: H.boscaiolo) |
Fadenspiel
– Strahlen der Wahrhaftigkeit
Ein wirklich angemessener Einstieg in das CRESC- Festival 2024. Das Fadenspiel kann beginnen. Weben wir doch den Frühling, die Sonne, die Strahlen der Wahrhaftigkeit in das Festival ein und träumen ein wenig von besseren Zeiten. Ein Anfang wurde gestern gemacht.
Horn-Quartett im Epilog von Espaces Acoustique, hr-Sendesaal (Foto: Sebastian Reimold) |
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen