CRESC … Festival für aktuelle Musik, Fadenspiele 2024 vom 16.02. bis zum 25.02.
Coptic Light, das hr-Sinfonieorchester (Leitung: Stefan Asbury) mit Werken von Tania León, Morton Feldman, George Benjamin und Sofia Gubaidulina (Lawrence Power, Viola), hr-Sendesaal, 17.02.2024
Morton Feldman (Foto: Soundohm) |
Unterschiedlichste
Kompositionen
Die große wie kleine Formation des hr-Sinfonieorchesters unter der Leitung von Stefan Asbury war am 2. Tag des CRESC-Festivals, Fadenspiele 2024, gefordert, denn die Kompositionen, die auf dem Programm standen, konnten nicht unterschiedlicher sein.
Stefan Asbury (Foto: Sebastian Reimold) |
Cultural
clashes
Beginnen wir
gleich mit Àcana für Kammerorchester (2008) von der Kubanerin Tania
León (*1943). In Havanna geboren beschreibt sie selbst ihre Musik als cultural
clashes, worunter sie die historisch bedingten Einflüsse französischer,
spanischer, chinesischer, afrikanischer wie auch nordamerikanischer Traditionen
versteht, die alle in ihre Musik einfließen. Insofern passt der Titel des etwa
13-minütigen Werks bestens dazu. Àcana nämlich ist der Name eines Baumes,
den der kubanische Dichter Nicolás Guillén (1902-1989) in einem gleichnamigen Gedicht
beschreibt. Ein Baum mit weitausgreifenden Wurzeln und einem starken Zentrum,
denn er bekommt bei gut 30 Meter Höhe einen Stammumfang von mehr als 10 Metern.
Tanz, Film
und Folklore
León lässt in ihrer Komposition, sie wird übrigens an diesem Abend vom großen Orchester interpretiert, alle möglichen Elemente des Tanzes, der Filmmusik, der Folklore der Karibik mit einer schier endlosen Palette von instrumentaler Vielfalt voll zur Geltung kommen. Da hört man Samba, Rumba, Salsa, fühlt sich in den Broadway New Yorks versetzt, hört Geräusche einer Großstadt, es könnte Havanna, aber auch Beijing sein. Diese unglaublich lebendige und kraftvolle Musik schlägt Brücken, oder besser schafft Wurzelverbindungen in die verschiedensten Kulturen. Ein vital und beschwingt vorgetragener Auftakt in diesen Konzertabend.
Stefan Asbury und Mitglieder des hr-Sinfonieorchesters (Foto: Sebastian Reimold) |
Minimalismus
mal kontemplativ
Kontrastreich dazu das wohl letzte Werk des Minimalisten und musikalischen Pädagogen Morton Feldman (1926-1987), Coptic Light für großes Orchester (1986) - Motto dieses Konzertabends -, das wohl zu seinen typischsten und ausgereiftesten Kompositionen gehört. Feldman zählt zur Phalanx der Minimalisten der 1980er Jahre wie Terry Riley, Steve Reich, La Monte Young oder auch Philip Class. Dennoch unterscheidet er sich von ihnen durch seine funktionsfreien Klänge, seine Absicht, Klänge kontemplativ aufzunehmen, sie quasi wie Bilder zu betrachten. So auch in Coptic Lights. Hier bezieht er sich, als begeisterter Teppich- und Textilien-Sammler, der koptischen Flechtwerke aus Wolle oder Leinen, die mit kräftigen Naturfarben reich, aber in unvollkommener Symmetrie versehen sind.
hr-Sinfonieorchester (Foto: H.boscaiolo) |
Die
Vorahnung des eigenen Todes?
Daraus entsteht bei ihm ein gut 30-minütiges Tonflächenwerk, worin sich der Klang in winzigen Schritten weitertastet. Ein ständiges Atmen begleitet den Sound, ein Pulsieren der Bewegung, immer aufgelockert durch gut hörbare Arpeggien der Klaviere mit permanenter Pedalierung, alles aber im absoluten piano, ja pianissimo. Feldman nennt es Hell-Dunkel Effekt, Chiaroscuro, wenngleich das Dunkel mehr und mehr Oberhand gewinnt. Tatsächlich ist man an einen Todeskampf erinnert, das Atmen wird schneller, verlangsamt sich, geht zur Schnappatmung über und schließlich endet schließlich mit dem letzten Atemhauch. Vielleicht die Vorahnung seines eigenen Todes? Feldmans Musik, das sei an dieser Stelle ergänzt, hat in Film und Fernsehen Eingang gefunden, darunter in Martin Scorseses Film Shutter Island (2010), und gehört zu den Highlights der Minimalmusik, die heute weltweit ihre Anhänger hat.
hr-Sinfonieorchester und Stefan Asbury (Foto: H.boscaiolo) |
Lesbar – Unlesbar
Der zweite Teil
des Abends begann mit Palimpsest I (2000) von George Benjamin (*1960).
Der Brite gehört zu den einflussreichsten Komponisten der Gegenwart und
zeichnet sich durch eigenwillige Stilistik aus, die allerdings immer auf Hörbarkeit
und Gefälligkeit ausgelegt ist. Mit Palimpsest I (ein zweites Werk kam
später hinzu) rekurriert er auf die Problematik der historischen und
prähistorischen Wissenschaften, Quellentexte zu dechiffrieren, die unter
überschriebenen Texten existieren. Denn mit jeder weiteren Verwendung
überschriebener Texte oder Quellen wird die ursprüngliche Schicht unlesbarer.
In diesem
kurzen, nur 8-minütigen Orchesterstück kreiert er, wie er selbst angibt, einen mittelalterlichen
Gesang. Dazu hat er die Instrumentengruppen vollkommen ungestellt. So gibt es
lediglich fünf Violinen, zwei Violen, dann aber neun Kontrabässe, zwei Harfen,
drei Perkussionisten, ein Schlagzeug, eine Celesta, ein Klavier und last but
not least, vier Klarinettisten, vier Flötisten, fünf Trompeten, zwei Posaunen
und drei Hörner.
Vier Klarinettisten scheinen die Oberfläche der Quelle abzubilden und zugleich entstehen heftig kontrastierende Schichten, die fugatisch zusammengestellt sind. Unglaublich lebendig und abwechslungsreich wird das Stück schlussendlich von einer Soloeinlage der neun Kontrabassisten und einem Schlagzeugsolo heftig durchgerüttelt.
Dann aber zurück zum Anfang. Die Oberfläche bekommt wieder Oberwasser. Glockenklänge und Bratschensolo lassen das Klarinettenquartett wieder hörbar werden und mit einer Schlussglocke endet das Palimpsest I irgendwie versöhnlich. Auch die letzte Schrift scheint erkannt zu sein. Ein aufwühlendes und spannungsgeladenes Stückchen von bester Lesbarkeit.
Lawrence Power, Stefan Asbury und Mitglieder des hr-Sinfonieorchesters (Foto: Sebastian Reimold) |
Ode an die eigenen Wurzeln
Höhepunkt des Konzertabends sollte das Konzert für Viola und Orchester (1996/2015) von Sofia Gubaidulina (*1931) werden. Die in Russland geborene Mystikerin – so bezeichnet sie sich selbst – mit jüdischen und tatarischen Wurzeln, lebt seit 1992 in Deutschland, und hat sich mit diesem Werk, das sie 2015 noch einmal gründlich überarbeitete, ein eigenes Denkmal gesetzt, denn es enthält alles, was an ihre eigenen Wurzeln erinnert: jüdischer Klezmer, tatarische Folklore, russischer Tiefsinn und deutsche Gründlichkeit.
Lawrence Power, Stefan Asbury und Mitglieder des hr-Sinfonieorchesters (Foto: Sebastian Reimold) |
Eine kathedrale
Klangtraube
Der Interpret,
Lawrence Power (1977), gehört unzweifelhaft zu den führenden
Bratschisten der Gegenwart. Er spielte in hinreißender Manier das vor allem auf
Klangtiefe und Musikalität ausgelegte einsätzige, etwa 35-minütige Werk.
Es beginnt
schlicht mit vier aufeinanderfolgenden Oktaven der Viola, die mit Seufzermotiven der Streicher beantwortet werden. Ein Dialog, der durch Triangel-Schläge in
rhythmische Form gebracht wird. Spannungsgeladen
ist dieser Teil, der durchaus auch als Exposition einer Sonatenform durchgehen
könnte. Die Durchführung ist geprägt von russischer Folklore, von unglaublich
dynamischer Steigerung bis zum Einsatz der Wagnertuben. Eine kathedrale Klangtraube,
die durch Mark und Bein ging. Ein Gott-sei-bei-uns-Zustand, der durchaus
gewollt zu sein scheint.
Autobiographische Geschichte
Viola und
Orchester sind absolut gleichberechtigt und dialogisieren in allen instrumentalen Bereichen.
Zwischendurch allerdings ausdrucksstarke Soli mit Accompagnato-Begleitung von
Celesta, Flöte und Streicher. Zwar spricht Gubaidulina von einem
eingebauten Streichquartett, das sie „essentiell für die Intervall Verhältnisse“
hält. Als Hörer und Zuschauer war das leider nicht wahrnehmbar, aber die etwa
zwanzigköpfige Streichergruppe gehörte zur absoluten vierstimmigen Dominanz in diesem Konzert.
Die quasi Reprise
wurde nach einer langen Fermate durch ein Solo der neunköpfigen Kontrabässe
eingeleitet und wuchs zu einem Tanz der Derwische aus. Ein wilder Rundtanz, der
von virtuosen Tremoli des Interpreten bis zum musikalischen Ausbruch gesteigert
wurde. Wagnertuben und Paukenschläge taten ihr Übriges. Die quasi Coda führte
noch einmal zurück zum kargen Beginn, den Oktavgängen der Viola. Sie wurde
allerdings erweitert durch eine neue, einfache Melodie, die in eine Schlusskadenz mündete. Hier zeigte Lawrence Power noch einmal seine
technische Versiertheit, aber vor allem auch seine wunderbar ausgereifte
Musikalität. Mit einem kurzen Glockenspiel, gefolgt vom Streicherseufzer endete
diese eindrucksvolle autobiographische Geschichte einer Ausnahmekomponistin
unsere Zeit, Sofia Gubaidulina.
Lawrence Power und Mitglieder des hr-Sinfonieorchesters (Foto: Sebastian Reimold) |
Stehender
Applaus für einen exzellenten Lawrence Power an seiner Viola, ein
absolut präsentes hr-Sinfonieorchester mit einem, wie immer, äußerst
aufmerksamen und souveränen Dirigenten, Stefan Asbury.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen