Sonntag, 18. Februar 2024

CRESC … Festival für aktuelle Musik, Fadenspiele 2024 vom 16.02. bis zum 25.02.

 

Coptic Light, das hr-Sinfonieorchester (Leitung: Stefan Asbury) mit Werken von Tania León, Morton Feldman, George Benjamin und Sofia Gubaidulina (Lawrence Power, Viola), hr-Sendesaal, 17.02.2024

Morton Feldman (Foto: Soundohm)

Unterschiedlichste Kompositionen

Die große wie kleine Formation des hr-Sinfonieorchesters unter der Leitung von Stefan Asbury war am 2. Tag des CRESC-Festivals, Fadenspiele 2024, gefordert, denn die Kompositionen, die auf dem Programm standen, konnten nicht unterschiedlicher sein.

Stefan Asbury (Foto: Sebastian Reimold)

Cultural clashes

Beginnen wir gleich mit Àcana für Kammerorchester (2008) von der Kubanerin Tania León (*1943). In Havanna geboren beschreibt sie selbst ihre Musik als cultural clashes, worunter sie die historisch bedingten Einflüsse französischer, spanischer, chinesischer, afrikanischer wie auch nordamerikanischer Traditionen versteht, die alle in ihre Musik einfließen. Insofern passt der Titel des etwa 13-minütigen Werks bestens dazu. Àcana nämlich ist der Name eines Baumes, den der kubanische Dichter Nicolás Guillén (1902-1989) in einem gleichnamigen Gedicht beschreibt. Ein Baum mit weitausgreifenden Wurzeln und einem starken Zentrum, denn er bekommt bei gut 30 Meter Höhe einen Stammumfang von mehr als 10 Metern.

 

Tanz, Film und Folklore

León lässt in ihrer Komposition, sie wird übrigens an diesem Abend vom großen Orchester interpretiert, alle möglichen Elemente des Tanzes, der Filmmusik, der Folklore der Karibik mit einer schier endlosen Palette von instrumentaler Vielfalt voll zur Geltung kommen. Da hört man Samba, Rumba, Salsa, fühlt sich in den Broadway New Yorks versetzt, hört Geräusche einer Großstadt, es könnte Havanna, aber auch Beijing sein. Diese unglaublich lebendige und kraftvolle Musik schlägt Brücken, oder besser schafft Wurzelverbindungen in die verschiedensten Kulturen. Ein vital und beschwingt vorgetragener Auftakt in diesen Konzertabend.

Stefan Asbury und Mitglieder des hr-Sinfonieorchesters (Foto: Sebastian Reimold)

Minimalismus mal kontemplativ

Kontrastreich dazu das wohl letzte Werk des Minimalisten und musikalischen Pädagogen Morton Feldman (1926-1987), Coptic Light für großes Orchester (1986) - Motto dieses Konzertabends -, das wohl zu seinen typischsten und ausgereiftesten Kompositionen gehört. Feldman zählt zur Phalanx der Minimalisten der 1980er Jahre wie Terry Riley, Steve Reich, La Monte Young oder auch Philip Class. Dennoch unterscheidet er sich von ihnen durch seine funktionsfreien Klänge, seine Absicht, Klänge kontemplativ aufzunehmen, sie quasi wie Bilder zu betrachten. So auch in Coptic Lights. Hier bezieht er sich, als begeisterter Teppich- und Textilien-Sammler, der koptischen Flechtwerke aus Wolle oder Leinen, die mit kräftigen Naturfarben reich, aber in unvollkommener Symmetrie versehen sind.

hr-Sinfonieorchester (Foto: H.boscaiolo)

Die Vorahnung des eigenen Todes?

Daraus entsteht bei ihm ein gut 30-minütiges Tonflächenwerk, worin sich der Klang in winzigen Schritten weitertastet. Ein ständiges Atmen begleitet den Sound, ein Pulsieren der Bewegung, immer aufgelockert durch gut hörbare Arpeggien der Klaviere mit permanenter Pedalierung, alles aber im absoluten piano, ja pianissimo. Feldman nennt es Hell-Dunkel Effekt, Chiaroscuro, wenngleich das Dunkel mehr und mehr Oberhand gewinnt. Tatsächlich ist man an einen Todeskampf erinnert, das Atmen wird schneller, verlangsamt sich, geht zur Schnappatmung über und schließlich endet schließlich mit dem letzten Atemhauch. Vielleicht die Vorahnung seines eigenen Todes? Feldmans Musik, das sei an dieser Stelle ergänzt, hat in Film und Fernsehen Eingang gefunden, darunter in Martin Scorseses Film Shutter Island (2010), und gehört zu den Highlights der Minimalmusik, die heute weltweit ihre Anhänger hat.

hr-Sinfonieorchester und Stefan Asbury (Foto: H.boscaiolo)

Lesbar – Unlesbar

Der zweite Teil des Abends begann mit Palimpsest I (2000) von George Benjamin (*1960). Der Brite gehört zu den einflussreichsten Komponisten der Gegenwart und zeichnet sich durch eigenwillige Stilistik aus, die allerdings immer auf Hörbarkeit und Gefälligkeit ausgelegt ist. Mit Palimpsest I (ein zweites Werk kam später hinzu) rekurriert er auf die Problematik der historischen und prähistorischen Wissenschaften, Quellentexte zu dechiffrieren, die unter überschriebenen Texten existieren. Denn mit jeder weiteren Verwendung überschriebener Texte oder Quellen wird die ursprüngliche Schicht unlesbarer.

 

Von bester Lesbarkeit

In diesem kurzen, nur 8-minütigen Orchesterstück kreiert er, wie er selbst angibt, einen mittelalterlichen Gesang. Dazu hat er die Instrumentengruppen vollkommen ungestellt. So gibt es lediglich fünf Violinen, zwei Violen, dann aber neun Kontrabässe, zwei Harfen, drei Perkussionisten, ein Schlagzeug, eine Celesta, ein Klavier und last but not least, vier Klarinettisten, vier Flötisten, fünf Trompeten, zwei Posaunen und drei Hörner.

Vier Klarinettisten scheinen die Oberfläche der Quelle abzubilden und zugleich entstehen heftig kontrastierende Schichten, die fugatisch zusammengestellt sind. Unglaublich lebendig und abwechslungsreich wird das Stück schlussendlich von einer Soloeinlage der neun Kontrabassisten und einem Schlagzeugsolo heftig durchgerüttelt. 

Dann aber zurück zum Anfang. Die Oberfläche bekommt wieder Oberwasser. Glockenklänge und Bratschensolo lassen das Klarinettenquartett wieder hörbar werden und mit einer Schlussglocke endet das Palimpsest I irgendwie versöhnlich. Auch die letzte Schrift scheint erkannt zu sein. Ein aufwühlendes und spannungsgeladenes Stückchen von bester Lesbarkeit.   

Lawrence Power, Stefan Asbury und Mitglieder des hr-Sinfonieorchesters 
(Foto: Sebastian Reimold)

Ode an die eigenen Wurzeln

Höhepunkt des Konzertabends sollte das Konzert für Viola und Orchester (1996/2015) von Sofia Gubaidulina (*1931) werden. Die in Russland geborene Mystikerin – so bezeichnet sie sich selbst – mit jüdischen und tatarischen Wurzeln, lebt seit 1992 in Deutschland, und hat sich mit diesem Werk, das sie 2015 noch einmal gründlich überarbeitete, ein eigenes Denkmal gesetzt, denn es enthält alles, was an ihre eigenen Wurzeln erinnert: jüdischer Klezmer, tatarische Folklore, russischer Tiefsinn und deutsche Gründlichkeit.

Lawrence Power, Stefan Asbury und Mitglieder des hr-Sinfonieorchesters 
(Foto: Sebastian Reimold)

Eine kathedrale Klangtraube

Der Interpret, Lawrence Power (1977), gehört unzweifelhaft zu den führenden Bratschisten der Gegenwart. Er spielte in hinreißender Manier das vor allem auf Klangtiefe und Musikalität ausgelegte einsätzige, etwa 35-minütige Werk.

Es beginnt schlicht mit vier aufeinanderfolgenden Oktaven der Viola, die mit Seufzermotiven der Streicher beantwortet werden. Ein Dialog, der durch Triangel-Schläge in rhythmische Form gebracht wird.  Spannungsgeladen ist dieser Teil, der durchaus auch als Exposition einer Sonatenform durchgehen könnte. Die Durchführung ist geprägt von russischer Folklore, von unglaublich dynamischer Steigerung bis zum Einsatz der Wagnertuben. Eine kathedrale Klangtraube, die durch Mark und Bein ging. Ein Gott-sei-bei-uns-Zustand, der durchaus gewollt zu sein scheint.

 

Autobiographische Geschichte

Viola und Orchester sind absolut gleichberechtigt und dialogisieren in allen instrumentalen Bereichen. Zwischendurch allerdings ausdrucksstarke Soli mit Accompagnato-Begleitung von Celesta, Flöte und Streicher. Zwar spricht Gubaidulina von einem eingebauten Streichquartett, das sie „essentiell für die Intervall Verhältnisse“ hält. Als Hörer und Zuschauer war das leider nicht wahrnehmbar, aber die etwa zwanzigköpfige Streichergruppe gehörte zur absoluten vierstimmigen Dominanz in diesem Konzert.

Die quasi Reprise wurde nach einer langen Fermate durch ein Solo der neunköpfigen Kontrabässe eingeleitet und wuchs zu einem Tanz der Derwische aus. Ein wilder Rundtanz, der von virtuosen Tremoli des Interpreten bis zum musikalischen Ausbruch gesteigert wurde. Wagnertuben und Paukenschläge taten ihr Übriges. Die quasi Coda führte noch einmal zurück zum kargen Beginn, den Oktavgängen der Viola. Sie wurde allerdings erweitert durch eine neue, einfache Melodie, die in eine Schlusskadenz mündete. Hier zeigte Lawrence Power noch einmal seine technische Versiertheit, aber vor allem auch seine wunderbar ausgereifte Musikalität. Mit einem kurzen Glockenspiel, gefolgt vom Streicherseufzer endete diese eindrucksvolle autobiographische Geschichte einer Ausnahmekomponistin unsere Zeit, Sofia Gubaidulina.

Lawrence Power und Mitglieder des hr-Sinfonieorchesters 
(Foto: Sebastian Reimold)

Stehender Applaus für einen exzellenten Lawrence Power an seiner Viola, ein absolut präsentes hr-Sinfonieorchester mit einem, wie immer, äußerst aufmerksamen und souveränen Dirigenten, Stefan Asbury.  

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