Freitag, 1. März 2024

Der Traumgörge (1907), Oper in zwei Akten und einem Nachspiel von Alexander Zemlinsky (1871-1942), Libretto Leo Feld (1869-1924), Premiere in der Oper Frankfurt am 25.02.2024, 2. Aufführung, 29.02.2024

AJ Glueckert (Görge) 
alle Fotos von Barbara Aumüller

Eine fast vergessene Oper

Traumgörge, ursprünglich ein Auftragswerk von Gustav Mahler (1860-1911), sollte erst 1980 in Nürnberg seine Uraufführung erleben. Das hatte viele Gründe: gesellschaftspolitische wie auch musikalische. Das damalige Wien, wie auch das gesamte Europa befanden sich im Fin de Siecle, zwischen narzisstischer Selbstbespiegelung (Stichwort: Sigmunds Freuds Traumdeutung) und nationalistischem Chauvinismus, der sich vor allem im Antisemitismus auswirkte. Und hier lag das eigentliche Problem. Die Anfeindungen, denen sich vor allem Gustav Mahler ausgesetzt sah, führten zur Absage der 1907 geplanten Uraufführung und zu dessen „Flucht“ in die USA. Und Alexander Zemlinsky (1871-1942), selbst jüdischer Herkunft, ließ das Werk sozusagen in der Schublade liegen. Dort verblieb es dann nahezu 75 Jahre.

 

Neue Sachlichkeit oder Überforderung

In der Frankfurter Oper sehen und hören wir die kritische Neuausgabe (2003) von Antony Beaumont (*1949). Und hier befinden wir uns im musikalischen Bereich. Traumgörge, das dritte von Zemlinskys Opern-Oeuvre, ist eine rätselhafte Komposition, von überbordender Symbolik, unglaublich vielschichtig und vor allem gespickt mit höchsten sängerischen wie technischen Schwierigkeiten für das Orchester. In Zeiten der Neuen Sachlichkeit und Schlichtheit eines Kurt Weill, Paul Hindemith oder auch Ernst Krenek, kamen die komplexen Werke Zemlinsky nicht unbedingt beim Publikum an. Sie erforderten – und erfordern noch heute – größte Aufmerksamkeit, wobei die Grenze der Überforderung bisweilen überschritten werden könnte. So war und ist man in Fachkreisen der Auffassung, dass die Partitur von Wagners Tristan gegen Traumgörge ein reiner Spaziergang sei.

AJ Glueckert (Görge) und Magdalena Hinterdobler (Grete)

Von surrealer Aktualität

Sicher ist diese Oper einerseits ein symbolträchtiges, ja surreales und an Absurditäten reiches Musiktheater, andererseits aber auch von einer ungeheuren Strahlkraft, von rauschhafter, ja narkotisierender Stimmung und nicht zuletzt von erschreckender Aktualität.

Worum geht es? Traumgörge, ein lebensfremder Bücher- und Märchennarr, verlässt sein Heimatdorf und die ihm dort zugedachte Braut, Grete. Er läuft einer Vision, einem Traumzustand nach, die ihn fern von seiner Heimat führt, zum Vagabunden macht und in seltsame Abenteuer verstrickt. Er gerät in eine aufrührerische, revolutionäre Widerstandgruppe, die ihn zum Anführer wählt, rettet eine der Brandstiftung und Hexerei beschuldigte Frau, Gertraud, vor der Lynchjustiz des Mobs, flieht mit ihr, kehrt in sein Dorf zurück, wo er seine ererbte Mühle mit Erfolg bewirtschaftet, hohes Ansehen erwirbt und ein scheinbar biedermeierliches Leben mit seiner Gattin führt. Ist es Parodie, ist es Ironie, ist es die typische Entwicklung vom Revolutionär zum Reaktionär?

Zuzana Marková (Gertraud) und AJ Glueckert (Görge)

Hinreißendes Staunen

Alles bleibt offen. Das Frankfurter Team um Tilmann Köhler (Regie), Markus Poschner (musikalische Leitung), Karly Risz (Bühnenbild), Susanne Uhl (Kostüme), Tilman Michael (Chor) und nicht zuletzt Zsolt Horpácsy (Dramaturgie) haben sich eine spannungsgeladene Szenerie ausgedacht, großartige Sängerinnen und Sänger (alle Debütanten) ausgewählt und eine hinreißende musikalische Interpretation hingelegt, die Staunen ließ.

So befindet man sich in einer Art Guckkasten, aus Kiefernbrettern gezimmert, alles geradlinig und nur durch schräge Durchgänge unterbrochen. Eine Projektion zwischen Angepasstheit und Anders Sein, zwischen Realität und Traum? Die Kostüme entsprechen der Jahrhundertwende des Fin de Siecle, vor allem in schwarz-weiß gehalten. Allerdings sind Bezüge zum Biedermeier unverkennbar, vor allem in der Schlussszene des Nachspiels. Das Libretto besteht vorwiegend aus einer reichhaltigen Märchensammlung (22 an der Zahl) von Richard von Volkmann (1830-1889), die er während der Monate der Belagerung von Paris (bekannt als Pariser Kommune) im Jahre 1871 zusammenstellte und teils neu erfand, um die Menschen zu unterhalten. Viele Allusionen, Schattenspiele und symbolhafte Bezüge also und damit auch viele Interpretationsmöglichkeiten.

AJ Glueckert (Görge), Zuzana Marková (Prinzessin)

Fantastisches Duo

Die Gesangpartien lassen den Begriff der Arie und des Liedes gar nicht erst zu. Man ist erinnert an Richard Wagners Tristan und Isolde mit der unendlichen Melodie sowie deren Leitmotivik. Alles changiert zwischen Erzählung, rezitativischem Gesang und traumhafter Lyrik. Hier haben vor allem die beiden Hauptprotagonisten, AJ Glueckert (Tenor) als Görge und Zuzana Marková (Sopran) in der Doppelrolle als Prinzessin und Gertraud, nahezu unmenschliches zu leisten. Beide stehen fast drei Stunden auf der Bühne, immer präsent, und beide singen und spielen fantastisch. Glueckert, ein ausgesprochen lyrischer Tenor mit herrlichen Höhen, aber leichter Stimme, die nicht immer dem riesigen Orchester standhielt, und Marková mit einem dramatischen Sopran, der klar akzentuiert, ohne störendes Vibrato in die letzten Winkel des Opernsaals drang. Sie ist der Star dieser Vorstellung, unbestritten.

 

Ein gesangliches wie schauspielerisches Erlebnis

Herausragend noch Magdalena Hinterdobler (Sopran) als Grete mit wunderschönem, klarem Timbre und frischer Gestik, sowie das Revolutionstrio um Michael Porter (Tenor) als Züngl, Iain Mac Neil (Bariton) als Kaspar und Mikolaj Trabka (Bariton) als Mathes. Ein extrem stimmgewaltiges Trio und dazu noch von überzeugender Agilität. Drei echte Revoluzzer.

Alle nicht genannten Akteure erhalten ebenfalls das Prädikat „Super“. Auch der Chor und Kinderchor unter Tilman Michael und Álvaro Corral Matute gehören dazu. Ein gesangliches wie schauspielerisches Erlebnis (Gal Fefferman, Choreographie und Jan Hartmann, Licht).

v. l.: Michael Porter (Züngl), AJ Glueckert (Görge) und Iain MacNeil (Kaspar)

Die Musik – der Höhepunkt der Oper

Die Musik. Ja, sie ist der eigentliche Höhepunkt dieser Oper. Und hier gebührt dem bereits genannten musikalischen Leiter, Markus Poschner, größte Referenz. Er machte aus einer der wohl schwierigsten Partituren für großes Orchester (83 Musiker an diesem Abend) ein transparentes, filigranes und nicht zuletzt farbenreiches Hörerlebnis zwischen Impressionismus, Spätromantik und Neuer Musik. Bekanntlich war Zemlinsky hochgeachteter Lehrer, Musiktheoretiker und Komponist seiner Zeit. Gustav Mahler, Alban Berg, Arnold Schoenberg oder auch Anton Webern schätzten ihn sehr. Zemlinsky selbst verehrte Richard Wagner in höchstem Maße, und in der Welt der Künste und Hochkultur gehörte er zur Crème de la Crème, zumindest in Wien. Seine große Liebe, Alma Schindler, sollte sich zwar nicht erfüllen. Bekanntlich war sie mit Mahler, Walter Gropius und später auch Franz Werfel liiert, aber die Musik ist dennoch Ausdruck seiner emotionalen Lage in dieser Zeit. Nicht wenige behaupten, der Traumgörge sei eine Art Autobiographie, die drei Frauenfiguren ein Abbild seiner Liebesempfindungen zwischen Traum (Prinzessin) Realität (Grete) und Außenseiterdasein (Gertraud), alles Eigenschaften seiner Alma, aber auch im musikalischen Bereich durchaus herauszuhören. Alle drei Figuren singen in unterschiedlichen Tonarten und haben jeweils eigene Leitmotive. Alle drei können charakterlich kaum unterschiedlicher sein, was auch durch ihre Kleidung hervorgehoben wird.

auf dem Tisch Magdalena Hinterdobler (Grete), AJ Glueckert (Görge),
Liviu Holender (Hans; in der Hocke) sowie Ensemble

Träume leer – Pragmatismus siegt?

Musikalisch also ein Leckerbissen. Görges Gesangsrolle erhielt zwar ein klares Leitmotiv von ständigen Tonartwechseln durchwirkt, war aber insgesamt eher defensiv, von Innerlichkeit und Weltabwesenheit geprägt. Keine Identitätsfigur Figur im eigentlichen Sinne. Das war eher die Prinzessin und Gertraud in einer Person. Dafür aber ist er ein Protagonist der Zeitläufte, ein Mensch, der nicht erwachsen werden will und in kindlichen Träumen verbleibt, sich ein Königreich in einer feindlichen egozentrischen, gewalttätigen modernisierenden Gesellschaft konstruiert. Sind also seine Träume leer? Wie er am Ende konzediert und kehrt er in den Pragmatismus der realen Welt zurück?

Zuzana Marková (Gertraud) und AJ Glueckert (Görge)
 im Hintergrund Ensemble

Zwischen Parsifal und Tristan

Hier gibt es einige Kritik anzumelden. Tatsächlich ähnelt die Oper am Ende mehr und mehr Wagners Parsifal. Gertraud mutiert zur Kundry und Görge bekommt Züge von Amfortas, der Tod wunde, der nur durch den reinen, unschuldigen Parsifal erlöst und der Gral gerettet werden kann. Stichwort: „Aus Mitleid wissend.“ Hier jetzt die makellose Traumprinzessin, die ihn von allem Leid erlöst. Stichwort: „Die Welt ist weit, ich habe dich lieb!“, und Görge: „Nimm meinen armen ruhelosen Leib.“

 sitzend AJ Glueckert (Görge) und Zuzana Marková (Prinzessin Gertraud),
dahinter Liviu Holender (Hans), Magdalena Hinterdobler (Grete; mit weißem Hut)
sowie Ensemble

Nachspiel - werdet wie die Kinder

Viel Wagner am Schluss. Und das Nachspiel? Eine Ironie der Geschichte? Alles ist biedermeierlich gestaltet. Das Pfingstfest wird gefeiert. Der Geist Gottes berührt die Köpfe. 

Beide befinden sich auf ausgebreiteter goldener Decke. Ein bisschen Claude Monet Atmosphäre Frühstück im Grünen. Man lobt sich seiner wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leistungen. Die Ernte ist eingefahren. Es erscheint die Dorfgemeinschaft. Grete und ihr Ehemann Hans (Liviu Holender, ein heller Bariton) sind mitten unter ihnen. Lobeshymnen werden gesungen und alles scheint "in Butter". 

Nein, so ist es wohl nicht. Wir werden alsbald in die Traumszene des ersten Aktes zurückversetzt. Gertraud wird zur Prinzessin, der Traum einer vermeintlich besseren Welt bekommt wieder Oberhand. Gertraud sitzt auf einer Schaukel im jetzt nach hinten geöffnetem Guckkasten. Lediglich die symbolträchtige rote Rose verbindet sie noch. Glitzergold schwebt von der Decke, Kids laufen auf die Bühne, versammeln sich um Görge und spielen gemeinsam ein Spiel. Das biblische Motto liegt in der Luft: Werdet wie die Kinder, denn ihnen gehört das Himmelreich.

 AJ Glueckert (Görge) mit Kinderchor der Oper Frankfurt,
auf der Schaukel Zuzana Marková (Prinzessin Gertraud)

Virtual Reality – holen wir unser Königskind

Lassen wir es gut sein. Der Gral ist gerettet – oder auch nicht. Die Prinzessin lebt – oder auch nicht. Immerhin im Traum ist alles weiterhin vorhanden. Eine Metapher auf die Virtual Reality des postmodernen Menschen? Wie sagte doch Görge am Ende des ersten Aktes: „Märchen müssen lebendig werden. Ich hol mir mein Königskind.“ Sollte es Gertraud sein?  Wer denn dann? Der Vorhang fällt … viele Fragen offen

       

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