Dienstag, 16. April 2024

2 x Hören: Dean, Eclipse, Streichquartett Nr. 1 (2003), Doric String Quartet, Moderation Dr. Markus Fein, Alte Oper Frankfurt, 15.04.2024

v. l.: Alex Redington, Ying Xue, Hélène Clément, John Myerscough (Foto: Salar Baygan)

Jetzt mal zeitgenössisch

Kaum ein Monat ist vergangen, und schon hat sich der Intendant der Alten Oper Frankfurt, Dr. Markus Fein, ein neues Werkstattkonzert ausgedacht. War es im März Felix Mendelsohn Bartholdys einziges Streichoktett, so ist es dieses Mal der australische Komponist und Bratschist, Brett Dean, geboren 1961 und fast 15 Jahre lang Orchestermitglied der Berliner Philharmoniker, bevor er 2000 nach Australien zurückging und sich seither als sehr umtriebiger Komponist weltweit einen Namen machte.

 

Musik und Gesellschaftspolitik

Immerhin kann sich sein Werkverzeichnis mit mehr als 100 Werken aller Musikgattungen durchaus sehen lassen. Besonderes Kennzeichen seiner Musik ist ihre außermusikalische Bezugnahme. So transportiert sie oft gesellschaftspolitische Botschaften aus dem Bereich der Umweltzerstörung oder der Verwerfungen globaler Machtstrukturen. Vorgestellt und diskutiert wird sein erstes Streichquartett Eclipse (2003), eine Antwort quasi auf die sogenannte Tampa-Krise von 2001, das Australien wie die gesamte Welt bewegte.

Kurz dazu: 433 Flüchtlinge wurden vor der Küste Australiens von dem norwegischen Frachter Tampa gerettet, durften aber nicht den Boden Australiens betreten. Lange Rede kurzer Sinn: Australien entschied nach wochenlanger Beratung und menschenunwürdigem Verbleib der Menschen auf dem viel zu kleinen Frachter, die Flüchtlinge grundsätzlich abzuweisen und zukünftig Flüchtlingsboote vom Militär aufzugreifen und sie umgehend zurückzuschicken, ohne Ausnahme.

Doric String Quartet (Foto: Salar Baygan)


Wendepunkt zwischen Leben und Tod

Das zur Idee von Eclipse. Eclipse kommt begrifflich aus der Astronomie und umschreibt den Zustand zwischen Sonnen- und Mondfinsternis, den Wendepunkt von Hell zu Dunkel. Dean interpretiert ihn als „Wendepunkt zwischen Leben und Tod“ und lässt in diesem Sinne seine Musik sprechen.

 

Ein Quartett der Vielseitigkeit

Das Doric String Quartet arbeitet seit einigen Jahren mit Brett Dean zusammen. Man hat sogar seit der Aufnahme von Eclipse in das Repertoire ein freundschaftliches Verhältnis zu ihm (Dean widmete ihnen sogar sein drittes Streichquartett „Hidden Agendas“, 2019). Das britische Streichquartett wurde bereits 1998 in London gegründet und spielt seit 2003 in der jetzigen Besetzung zusammen: Das sind Alex Redington, erste Geige, Ying Xue, 2. Violine, Hélène Clément, Viola und John Myerscough, Violoncello. Vier großartige Künstler, die nicht allein die Klassik bedienen, sondern vor allem zeitgenössische Komponisten wie John Adams, Peter Adès, Peter Maxwell Davies und, wie gesagt, Brett Dean auf ihrem Repertoireschild führen. Letztmals war das Quartett in der Alten Oper vor 10 Jahren, was der Moderator ausdrücklich bedauert.

Doric String Quartet, in der Mitte Dr. Markus Fein (Foto: Salar Baygan)

Spannungsgeladen, aber gewöhnungsbedürftig

Eclipse ist beim ersten Hören, es dauert gut 15 Minuten, schwierig zu verstehen, ja befremdlich in seiner Anlage und Ausdrucksweise. Würde man seine Zusammenhänge nicht kennen, wäre es durchaus vergleichbar mit den ersten Streichquartetten Arnold Schoenbergs um die Jahrhundertwende oder auch mit dem 2. Streichquartett von Morton Feldman von 1983. Dann aber erkennt man alsbald Struktur, Absätze, gedankliche Wendepunkte und vor allem eine besondere Art der Material-, Takt und Rhythmusbehandlung. Extreme Kontraste von dreifachem Piano und dreifachem Forte, ein ständiges Changieren zwischen Tonalität, Atonalität und dazu kaum erträglichen Bruitismus. Im Mittelteil wechseln ständig die Taktfolgen von 6/16 bis 9/16, was nur durch Annäherung und synkopisches Atmen zu bewerkstelligen ist, ein wenig an den free Jazz erinnernd. Spannungsgeladen allemal, aber auch sehr gewöhnungsbedürftig.

 

Ganz Australier, leidenschaftlicher Komponist und kritisch

Um hier Klarheit und neue Erkenntnisse zu sammeln, dazu gehört das analytische Gespräch. Wie gewohnt, setzte sich Dr. Markus Fein in die Mitte des Ensembles und befragt es über seine Erfahrung mit dem Stück und vor allem auch mit dem Komponisten. Die Mitglieder sprechen englisch und betonen ihre Schwierigkeiten beim Entstehen der Interpretation, wobei Dean detaillierte Unterstützung gewährt habe. Allerdings sei er erst auf sie aufmerksam geworden, als seine Frau das Stück im Radio hörte, begeistert ihren Mann rief, der umgehend darauf Kontakt mit ihnen aufgenommen habe. Große verständliche Lobeshymnen mit einem eingestreuten Video, in dem Dean höchstpersönlich über seine Pastoral Symphonie (2000) spricht und im Vergleich mit der gleichnamigen Sechsten von Beethoven seine Affinität zur Vogelwelt betont, aber auch ihre Fragilität und die Gefahr der Zerstörung.

 

Detailanalyse

Fein nimmt diese Bemerkung zum Anlass, ins analytische Detail zu gehen, erklärt das Programm von Eclipse und hebt sechs „Vokabeln“ die das Stück beherrscht, heraus. Das sind Motivgesten bestehend aus verschiedenen Intervallen, Tremoli, heftig schnelle Tonwiederholungen, um Risse und Destabilisation zu erreichen, Glissandi, als bedrohliche Floskeln, Rhythmuswechsel und Überschichtungen zur Attacke und Nervenaufreibung konzipiert und last but not least melodische Passagen, die tief in die Seele gehen sollen. Alles mit Spiel und Notenbeispielen versehen. Alla Bonheur.

Doric String Quartet, in der Mitte Dr. Markus Fein (Foto: Salar Baygan)


Spezielles Notenbild

Überhaupt versteht es Dr. Markus Fein, das Publikum mit dem Notenbild vertraut zu machen, was zwar einen Überblick verschafft, aber für Nichtkenner durchaus wie Mandarin Schrift wirken muss. Auffallend hier die genauen Tempo- und Spielanweisungen. So ist der Prolog der dreiteiligen Komposition mit Slow, spacious, secretive übertitelt (langsam, raumgreifend, geheimnisvoll). Die ersten 15 Takte sind zudem spezifiziert in col legno (mit Holz streichen), sul ponticello (direkt am Steg spielen) oder calm and expressive (ruhig und ausdruckvoll), alles seit der romantischen Musik eigentlich üblich, hier aber auf wenige Takte konzentriert. Das praktische Umsetzen des Ensembles machte das alles sehr anschaulich und auch hörbar-nachvollziehbar.

Fein zog noch Passagen aus Wagners Rheingold und Debussys La Mer hinzu, um das Klangklima an bekannter und auch tonaler Musik zu verdeutlichen.

Doric String Quartet und Lutz Mandler (Foto: Salar Baygan)

Überraschungsgast

Dann, wie immer, der Überraschungsgast. Es ist Lutz Mandler, eigentlich Trompeter von Hause aus, aber auch jemand, so Fein, der „überall reinbläst, und dabei wunderbare Musik erzeugt“. Er kam zunächst mit einem Schneckenrohr (überdimensionierte Kauri-Muschel) auf die Bühne, das neben der Flöte wohl älteste Instrument auf dem Globus. Die Schneckenmuschel hat 1995 in Kalifornien gefunden und nutzt sie seitdem als Blasinstrument. Ein satter, hornähnlicher Klang, der die letzten Hörmembrane in Schwingungen versetzt.

Man versuchte sich in einem Quintett und spielte dazu die ersten 35 Takte. Tolle Bereicherung des Klangs möchte man meinen, zumal die Langsamkeit und die Raumfüllende Musik durch die Muschel eine neue Farbenuance bekam.

 

Nervöses Rasen

Dann der Mittelteil. Er ist übertitelt mit Unlikely flight, Presto nervoso (unwahrscheinlicher Flug, nervöses Rasen). Hier verdeutlichte Fein noch einmal an diversen Partiturstellen das Bild der Glissandi mit Spielbeispielen, sowie die komplexen Rhythmusfolgen. Mit der Auswahl von drei berühmten Gemälden: Théodore Géricault Das Floß der Medusa, Caspar David Friedrich Der Mönch am Meer sowie von Gerhard Richter See, sollten die Vier den Mittelteil noch einmal spielen. Die Wahl fiel auf Richters See, ein brodelndes Meer mit wilder Wolkenbildung, alles in metallenem Silber gehalten, bedrohlich und doch faszinierend, wie eine echte Fotografie. Mit diesem Bild vor Augen konnte man noch einmal die Seelenbilder wirken lassen, bevor Lutz Mandler mit einem Baumarkt-Didgeridoo diesen Part noch einmal ergänzte. Ein wenig zu viel zwar und nicht gerade so klanglich erweiternd wie zuvor die Kauri-Muschel, aber immerhin auch ein Experiment und eine Weltpremiere.

v. l.: Dr. Markus Fein, Lutz Mandler, Ying Xue, Alex Redington,
John Myerscough, Hélène Clément
(Foto: H. boscaiolo)


Tröstend und optimistisch – unvollendet

Der abschließende dritte Teil des Werks, ein Epilog, hat eindeutig tröstenden und eher optimistischen Charakter. Kein Happy End zwar, aber insgesamt eine neue Betrachtung des vorangegangenen Materials, fragmentarisch aufbereitet von Fermaten (Pausen) unterbrochen und einem langen Liegeton der Streicher mit melodischen Aufhellungen des Violoncellos. Ein Zurück zum Anfang, ohne ihn zu imitieren. Aus der Sicht des Komponisten, „die einzig gangbare Sichtweise einer unvollendeten Saga“.

Das zweite Hören war wie immer intensiver, wesentlich verständlicher im Detail und damit auch erkenntnisreicher. Allerdings muss man den Zusammenhang mit der Tampa-Affäre nicht kennen, um dem Werk eine große Qualität im Sinne der Moderne des 21. Jahrhunderts und in der Nachfolge von Arnold Schoenberg und Morton Feldman zu geben. Das Publikum des leider nur mäßig besuchten Mozart-Saals war restlos begeistert und das zu Recht. Das gilt auch für den Kritiker. 

 

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