Freitag, 26. April 2024

hr-Sinfonieorchester mit Nicholas Collon (musikalische Leitung) und Vadim Gluzman (Violine), Alte Oper Frankfurt, 25.04.2024

hr-Sinfonieorchester (Foto: Website)

Zwischen Alpen und Skandinavien

Der Konzertabend des hr-Sinfonieorchesters unter der Leitung des britischen Stardirigenten Nicholas Collon (*1983) firmierte unter dem Motto Alpensinfonie, und das nicht unbedingt zu Recht, denn, auch wenn Richard Straussens gleichnamige Komposition den Höhepunkt des Abends bildete, so standen doch zwei weitere Werke auf dem Programm.

Werke von zwei renommierten und weltbekannten skandinavischen Tonsetzern wie Magnus Lindbergs (*1958) Chorale (2001/02) sowie die Europäische Erstaufführung von Erkki-Sven Tüürs (*1959) 3. Violinkonzert (Gespräche mit dem Unbekannten), eine Auftragskomposition des hr, der Göteborger Symphoniker und des Oregon Symphony Orchestra, das bereits 2020 zur Uraufführung hätte kommen sollen, aber Corona bedingt seine Uraufführung am 27. Januar 2023 in Salem/US-Staat Oregon erfuhr.

Nicholas Collon (Foto: Chris Christodoulou)

Matrioschka

Chorale vom Finnen Magnus Lindberg ist eigentlich ein Präludium zu Alban Bergs Violinkonzert von 1935, worin er den viel zu frühen Tod der Manon Gropius (Mutter: Alma Mahler) beklagt. Berg übertitelte denn auch das Werk mit „Dem Andenken an einen Engel“. Kern des Konzerts ist der Bach Choral: Es ist genug aus dessen Kantate O Ewigkeit, du Donnerwort. Lindberg schrieb diese Miniatur quasi als Vorspiel zur Aufführung des Violinkonzerts im englischen Leicester 2002 unter der Leitung seines Freundes Esa-Pekka Salonen. Er selbst bezeichnet das Stück als „Musik über Musik über Musik“ und versteht darunter eine Art Matrioschka, eine Verschachtelung einer Figur bis zu ihrem Ursprung. Hier von Berg zu Bach, bis zum eigentlichen Verfasser des Kirchenlieds, Johann Rudolf Ahles (1625-1673), der den Choral bereits 1662 verfasste.

 

Impressionistischer Duktus

Lange Rede, kurzer Sinn. Das kleine Stück brauchte ein großes Orchester, worin die Blechbläser dominierten. Einem Fugato ähnlich wurde das Choralthema mehrere Male in unterschiedlichen Lagen angespielt und orchestral fortgesponnen. Man erlebte harmonische Strukturen, mitunter kontrapunktisch verarbeitet, aber insgesamt von sehr impressionistischem Duktus. Ein schöner Einstieg für Bergs Violinkonzert. Aber auch für das nun folgende 3. Violinkonzert vom Esten Erkki-Sven Tüür?

Vadim Gluzman (Foto: Tarisio)

Wie auf den Leib geschnitten

Sein Violinkonzert, das Tüür bereits Ende Januar 2020 abschloss, ist niemandem gewidmet, aber dem israelischen Geiger Vadim Gluzman (*1973) wie auf den Leib geschnitten. Der war es nämlich, der ihn zu dieser Komposition gebeten hatte und Tüür verliebte sich gleich in dessen außergewöhnliches Talent: „Seine Musikalität, seine Energie, seine Farbe (sein Klang) wirken auf mich, wie eine Quelle klanglicher Inspiration.“

 

Viel Dialog – Ausdrucksstark

Man spürt die lange Erfahrung Tüürs mit der groovigen Rockmusik (ehemals: In Spe). Er selbst legt Wert auf den Zusatz „Ein Gespräch mit dem Unbekannten“ - vielleicht ein Versuch, das Freud’sche psychologische Modell des Es, Ich und Über-Ich musikalisch zusammenzuführen. In einer Sonatenform, dreigeteilt in Langsam – Schnell – Langsam (Exposition, Durchführung, Reprise) dialogisiert er geschickt zwischen Geige und Orchestergruppen, überwiegend in polyphoner, linearer Struktur. Selten geht er ins Tutti, dafür aber glänzt das Werk durch ausdrucksstarke Partien zwischen Geige, Celesta, Xylophon, Harfe oder auch einfache Glockentöne.

 

Feeling des Über-Ichs

Gerade in den langsamen Teilen entsteht so ein Fließen mit unklaren, impressionistischen Schichtungen. Eine Flageolett-Kadenz am Ende des ersten Teils (Gluzman ist ein Meister auf seiner Stradivari ex-Leopold Auer Geige von 1690) leitet in einen rhythmusstarken, schnellen Teil über. Schlagzeug wie Perkussion (insgesamt vier Musiker) dominieren hier weitestgehend. Ein packender Beat mit synkopischen Verschiebungen lässt Tüürs Affinität zum Hardrock aufblitzen. 

Schließlich die Reprise. Eine Reminiszenz an die Exposition, aber mit vielen erkenntnisreichen Neuheiten. Sie kehrt die melodischen Linien um, wirkt so düsterer. Der Einsatz von Windmaschine, von Glissandi, langen dissonanten Flächen, ein clusterähnlicher Teppich-Patchwork, mit Celesta und Xylophon Einschüben, schafft ein Feeling des Über-Ichs, der moralischen Läuterung. Die Geige spielt einen weitausgreifenden gebrochenen Dreiklang in höchste Höhen und das Werk endet schließlich in einem Dreifachen-piano.

Mitte: Erkki-Sven Tüür (Blumenstrauß), Vadim Gluzman, Nicholas Collon,
hr-Sinfonieorchester (Foto: H.boscaiolo)


Impressionistisch und rockig

Ein Werk im Stil der Spätromantik und des Impressionismus mit Schnipseln der 1970er Rockmusik. Tüür, der seit Jahren eng mit dem hr-Sinfonieorchester zusammenarbeitet, hat mit seinem 3. Violinkonzert ein sehr gefälliges, in weiten Teilen impressionistisches Werk produziert. Ein Werk für einen versierten Violinisten allemal, denn es verlangt außergewöhnliche Virtuosität, aber auch ein großes musikalisches Verständnis. Das Zusammenspiel mit dem Orchester war nicht immer perfekt (was auch dem Dirigat von Collon geschuldet ist), die Dialoge zerfledderten einige Male, vor allem im langsamen ersten Teil. Insgesamt aber ein wunderbarer Geigenvortrag (leider keine Zugabe) und eine bemerkenswerte EEA.

 

Gigantomanie pur

Der Höhepunkt, nach einer langen Erholungspause: Die Alpensinfonie. Alles an ihr ist gigantomanisch. Die Größe des Orchesters (139 Personen), die Instrumentenauswahl: Orgel, Harfe, Wind- und Donnermaschine, Perkussion mit allen möglichen Geräuschmachern für sieben Musiker, mindestens 60 Streicher und 40 Bläser, darunter zwei Tuben, Englischhorn, Bassklarinette und Kontrafagott. Dazu hinter der Szene, heute aus dem Off, noch mindestens 16 Bläser, darunter 12 Hörner. Was will man mehr. Ein Aufgebot größer als bei Mahlers Sinfonie der Tausend oder bei Schönbergs Gurrelieder. Und nicht zuletzt die 22 Szenen.

Nicholas Collon (Foto: Website)

Eine Bergtour wird zur Musik

Strauss beschreibt in dieser Programmmusik in zweiundzwanzig Episoden sein Erlebnis als 14-jähriger Junge bei einer Besteigung eines Berges im oberbayerischen Murnau. War es der Laber Berg, der Kofel, das Hinter Hörnle? Egal, beeindruckt war er allemal, wenn er mehr als 30 Jahre später, nämlich 1911, erstmals den Gedanken hegt, den Auf- und Abstieg aus seiner Jugendzeit in Musik zu transformieren. Im Februar 1915 war die Alpensinfonie fertig, musste er doch dazwischen noch seine Oper Die Frau ohne Schatten in Angriff nehmen. Und gleich hatte sie durchschlagenden Erfolg.

 

Filmreife Szenerie

Sie beginnt in der Nacht: unmittelbar mit Besonderheiten, Clustern, Klangschleiern und exponierten Trompeten, Tuben und Posauneneinsätzen, und endet auch wieder dort.

Der anschließende Sonnenaufgang wird triumphal eingeleitet. Hier beginnt das Leitthema, das sich durch das gesamte, gut 50-Minuten dauernde Werk zieht, und immer wieder aufleuchtet. Einfach in drei Quint-Intervallen abwärts. Der Eintritt in den Wald wird durch 12 Jagdhörner aus dem Off begleitet, die Wanderung durch Feld und Wiesen und an Bächen vorbei mit fließenden Passagen der Geigen untermalt, der Wasserfall mit stark abfallenden Skalen der Bläser sowie Streichereinlagen – alles irgendwie filmreif. Man ist an Heimat- und Bergfilme aus den 30er bis 60er Jahren erinnert. Wer kennt sie nicht Die Stürme über dem Mont Blanc oder Grün ist die Heide, oder Der Förster vom Silberwald oder, oder?

 

Der Wahnsinn hat System

Ein Almenrauschen, ein wildes Durcheinander durch Gebüsch und Unterholz, ein Gefahrenmoment am Gletscher und endlich der Gipfel. Reminiszenzen an seine sinfonische Dichtung Also sprach Zarathustra. Erhabenheit, ein Triumph menschlichen Leistungsvermögens. 

Der Gipfel ist erobert, aber der Abstieg steht noch bevor. Nebel bilden sich, die Sonne wird verdunkelt und ein gewaltiges Unwetter überfällt die Bergsteiger. Hier kommen Wind- und Donnermaschinen zum Einsatz. Ein verwirrendes Tohuwabohu herrscht allüberall. Die sieben Perkussionisten bearbeiten Tamtam, Pauken, Trommeln, Schlagzeug, Becken und Klang-Bleche. Chromatik im Tutti schafft Angst und Schrecken, der Wahnsinn scheint die Welt, die Natur zu beherrschen. Endlich lässt das Unwetter nach.

Nicholas Collon, hr-Sinfonieorchester (Foto: H.boscaiolo)

Zurück zur Nacht – übermenschliche Leistung

Strauss erinnert sich, nach 12 strapaziösen Stunden, vollkommen durchnässt, in einem Bauernhaus „ein Nachtlager“ gefunden zu haben. Die Tonmalerei endet wieder in der Nacht. Nichts mehr von Eruptionen und Ängsten, sondern nur noch Ruhe. Das Leitthema wird in lyrischer Weise intoniert: Kurz-Lang – Kurz-Lang – Kurz-Lang, sehr romantisierend und versöhnlich. Die Orgel lässt den Mond aufgehen und ein langgezogener Bordun, begleitet von gedämpften Streichermotiven und dem langsamen Ersterben von Kontrabässen und Blechbläsern, beendet die aufwühlende Bergpartie.

Großes Lob an das hr- Sinfonieorchester und den Dirigenten Nicholas Collon, der mit seinem engagierten Dirigat seine Klasse bewies und das Orchester zu nahezu übermenschlichen Leistungen zu motivieren verstand.  

             

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