hr-Sinfonieorchester mit Nicholas Collon (musikalische Leitung) und Vadim Gluzman (Violine), Alte Oper Frankfurt, 25.04.2024
hr-Sinfonieorchester (Foto: Website) |
Zwischen
Alpen und Skandinavien
Der
Konzertabend des hr-Sinfonieorchesters unter der Leitung des britischen
Stardirigenten Nicholas Collon (*1983) firmierte unter dem Motto Alpensinfonie,
und das nicht unbedingt zu Recht, denn, auch wenn Richard Straussens gleichnamige
Komposition den Höhepunkt des Abends bildete, so standen doch zwei weitere Werke
auf dem Programm.
Werke von zwei renommierten und weltbekannten skandinavischen Tonsetzern wie Magnus Lindbergs (*1958) Chorale (2001/02) sowie die Europäische Erstaufführung von Erkki-Sven Tüürs (*1959) 3. Violinkonzert (Gespräche mit dem Unbekannten), eine Auftragskomposition des hr, der Göteborger Symphoniker und des Oregon Symphony Orchestra, das bereits 2020 zur Uraufführung hätte kommen sollen, aber Corona bedingt seine Uraufführung am 27. Januar 2023 in Salem/US-Staat Oregon erfuhr.
Nicholas Collon (Foto: Chris Christodoulou) |
Matrioschka
Chorale vom Finnen Magnus Lindberg ist eigentlich
ein Präludium zu Alban Bergs Violinkonzert von 1935, worin er den viel
zu frühen Tod der Manon Gropius (Mutter: Alma Mahler) beklagt. Berg übertitelte
denn auch das Werk mit „Dem Andenken an einen Engel“. Kern des Konzerts ist der
Bach Choral: Es ist genug aus dessen Kantate O Ewigkeit, du
Donnerwort. Lindberg schrieb diese Miniatur quasi als Vorspiel zur
Aufführung des Violinkonzerts im englischen Leicester 2002 unter der Leitung
seines Freundes Esa-Pekka Salonen. Er selbst bezeichnet das Stück als „Musik
über Musik über Musik“ und versteht darunter eine Art Matrioschka, eine
Verschachtelung einer Figur bis zu ihrem Ursprung. Hier von Berg zu Bach, bis zum
eigentlichen Verfasser des Kirchenlieds, Johann Rudolf Ahles (1625-1673), der
den Choral bereits 1662 verfasste.
Impressionistischer
Duktus
Lange Rede, kurzer Sinn. Das kleine Stück brauchte ein großes Orchester, worin die Blechbläser dominierten. Einem Fugato ähnlich wurde das Choralthema mehrere Male in unterschiedlichen Lagen angespielt und orchestral fortgesponnen. Man erlebte harmonische Strukturen, mitunter kontrapunktisch verarbeitet, aber insgesamt von sehr impressionistischem Duktus. Ein schöner Einstieg für Bergs Violinkonzert. Aber auch für das nun folgende 3. Violinkonzert vom Esten Erkki-Sven Tüür?
Vadim Gluzman (Foto: Tarisio) |
Wie auf
den Leib geschnitten
Sein Violinkonzert,
das Tüür bereits Ende Januar 2020 abschloss, ist niemandem gewidmet, aber dem israelischen
Geiger Vadim Gluzman (*1973) wie auf den Leib geschnitten. Der war es
nämlich, der ihn zu dieser Komposition gebeten hatte und Tüür verliebte
sich gleich in dessen außergewöhnliches Talent: „Seine Musikalität, seine
Energie, seine Farbe (sein Klang) wirken auf mich, wie eine Quelle klanglicher Inspiration.“
Viel
Dialog – Ausdrucksstark
Man spürt die lange Erfahrung Tüürs mit der groovigen Rockmusik (ehemals: In Spe). Er selbst legt Wert auf den Zusatz „Ein Gespräch mit dem Unbekannten“ - vielleicht ein Versuch, das Freud’sche psychologische Modell des Es, Ich und Über-Ich musikalisch zusammenzuführen. In einer Sonatenform, dreigeteilt in Langsam – Schnell – Langsam (Exposition, Durchführung, Reprise) dialogisiert er geschickt zwischen Geige und Orchestergruppen, überwiegend in polyphoner, linearer Struktur. Selten geht er ins Tutti, dafür aber glänzt das Werk durch ausdrucksstarke Partien zwischen Geige, Celesta, Xylophon, Harfe oder auch einfache Glockentöne.
Feeling
des Über-Ichs
Gerade in den langsamen Teilen entsteht so ein Fließen mit unklaren, impressionistischen Schichtungen. Eine Flageolett-Kadenz am Ende des ersten Teils (Gluzman ist ein Meister auf seiner Stradivari ex-Leopold Auer Geige von 1690) leitet in einen rhythmusstarken, schnellen Teil über. Schlagzeug wie Perkussion (insgesamt vier Musiker) dominieren hier weitestgehend. Ein packender Beat mit synkopischen Verschiebungen lässt Tüürs Affinität zum Hardrock aufblitzen.
Schließlich die Reprise. Eine Reminiszenz an die Exposition, aber mit vielen erkenntnisreichen Neuheiten. Sie kehrt die melodischen Linien um, wirkt so düsterer. Der Einsatz von Windmaschine, von Glissandi, langen dissonanten Flächen, ein clusterähnlicher Teppich-Patchwork, mit Celesta und Xylophon Einschüben, schafft ein Feeling des Über-Ichs, der moralischen Läuterung. Die Geige spielt einen weitausgreifenden gebrochenen Dreiklang in höchste Höhen und das Werk endet schließlich in einem Dreifachen-piano.
Mitte: Erkki-Sven Tüür (Blumenstrauß), Vadim Gluzman, Nicholas Collon, hr-Sinfonieorchester (Foto: H.boscaiolo) |
Impressionistisch
und rockig
Ein Werk im
Stil der Spätromantik und des Impressionismus mit Schnipseln der 1970er
Rockmusik. Tüür, der seit Jahren eng mit dem hr-Sinfonieorchester
zusammenarbeitet, hat mit seinem 3. Violinkonzert ein sehr gefälliges, in
weiten Teilen impressionistisches Werk produziert. Ein Werk für einen versierten
Violinisten allemal, denn es verlangt außergewöhnliche Virtuosität, aber auch
ein großes musikalisches Verständnis. Das Zusammenspiel mit dem Orchester war
nicht immer perfekt (was auch dem Dirigat von Collon geschuldet ist), die
Dialoge zerfledderten einige Male, vor allem im langsamen ersten Teil.
Insgesamt aber ein wunderbarer Geigenvortrag (leider keine Zugabe) und eine
bemerkenswerte EEA.
Gigantomanie pur
Der Höhepunkt, nach einer langen Erholungspause: Die Alpensinfonie. Alles an ihr ist gigantomanisch. Die Größe des Orchesters (139 Personen), die Instrumentenauswahl: Orgel, Harfe, Wind- und Donnermaschine, Perkussion mit allen möglichen Geräuschmachern für sieben Musiker, mindestens 60 Streicher und 40 Bläser, darunter zwei Tuben, Englischhorn, Bassklarinette und Kontrafagott. Dazu hinter der Szene, heute aus dem Off, noch mindestens 16 Bläser, darunter 12 Hörner. Was will man mehr. Ein Aufgebot größer als bei Mahlers Sinfonie der Tausend oder bei Schönbergs Gurrelieder. Und nicht zuletzt die 22 Szenen.
Nicholas Collon (Foto: Website) |
Eine Bergtour
wird zur Musik
Strauss beschreibt
in dieser Programmmusik in zweiundzwanzig Episoden sein Erlebnis als
14-jähriger Junge bei einer Besteigung eines Berges im oberbayerischen Murnau.
War es der Laber Berg, der Kofel, das Hinter Hörnle? Egal, beeindruckt war er
allemal, wenn er mehr als 30 Jahre später, nämlich 1911, erstmals den Gedanken
hegt, den Auf- und Abstieg aus seiner Jugendzeit in Musik zu transformieren. Im Februar
1915 war die Alpensinfonie fertig, musste er doch dazwischen noch seine Oper
Die Frau ohne Schatten in Angriff nehmen. Und gleich hatte sie
durchschlagenden Erfolg.
Filmreife
Szenerie
Sie beginnt
in der Nacht: unmittelbar mit Besonderheiten, Clustern, Klangschleiern
und exponierten Trompeten, Tuben und Posauneneinsätzen, und endet auch wieder
dort.
Der anschließende Sonnenaufgang wird triumphal eingeleitet. Hier beginnt das Leitthema, das sich durch das gesamte, gut
50-Minuten dauernde Werk zieht, und immer wieder aufleuchtet. Einfach in drei Quint-Intervallen
abwärts. Der Eintritt in den Wald wird durch 12 Jagdhörner aus
dem Off begleitet, die Wanderung durch Feld und Wiesen und an Bächen
vorbei mit fließenden Passagen der Geigen untermalt, der Wasserfall
mit stark abfallenden Skalen der Bläser sowie Streichereinlagen – alles irgendwie
filmreif. Man ist an Heimat- und Bergfilme aus den 30er bis 60er Jahren
erinnert. Wer kennt sie nicht Die Stürme über dem Mont Blanc oder Grün
ist die Heide, oder Der Förster vom Silberwald oder, oder?
Der Wahnsinn
hat System
Ein Almenrauschen, ein wildes Durcheinander durch Gebüsch und Unterholz, ein Gefahrenmoment am Gletscher und endlich der Gipfel. Reminiszenzen an seine sinfonische Dichtung Also sprach Zarathustra. Erhabenheit, ein Triumph menschlichen Leistungsvermögens.
Der Gipfel ist erobert, aber der Abstieg steht noch bevor. Nebel bilden sich, die Sonne wird verdunkelt und ein gewaltiges Unwetter überfällt die Bergsteiger. Hier kommen Wind- und Donnermaschinen zum Einsatz. Ein verwirrendes Tohuwabohu herrscht allüberall. Die sieben Perkussionisten bearbeiten Tamtam, Pauken, Trommeln, Schlagzeug, Becken und Klang-Bleche. Chromatik im Tutti schafft Angst und Schrecken, der Wahnsinn scheint die Welt, die Natur zu beherrschen. Endlich lässt das Unwetter nach.
Nicholas Collon, hr-Sinfonieorchester (Foto: H.boscaiolo) |
Zurück
zur Nacht – übermenschliche Leistung
Strauss
erinnert sich, nach 12 strapaziösen Stunden, vollkommen durchnässt, in einem
Bauernhaus „ein Nachtlager“ gefunden zu haben. Die Tonmalerei endet wieder in
der Nacht. Nichts mehr von Eruptionen und Ängsten, sondern nur noch
Ruhe. Das Leitthema wird in lyrischer Weise intoniert: Kurz-Lang – Kurz-Lang –
Kurz-Lang, sehr romantisierend und versöhnlich. Die Orgel lässt den Mond
aufgehen und ein langgezogener Bordun, begleitet von gedämpften Streichermotiven
und dem langsamen Ersterben von Kontrabässen und Blechbläsern, beendet die aufwühlende
Bergpartie.
Großes Lob
an das hr- Sinfonieorchester und den Dirigenten Nicholas Collon,
der mit seinem engagierten Dirigat seine Klasse bewies und das Orchester
zu nahezu übermenschlichen Leistungen zu motivieren verstand.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen