Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (SBR) unter Sir Simon Rattle, Alte Oper Frankfurt, 21.04.2024
Sir Simon Rattle und das SBR (Foto: Tibor-Florestan Pluto) |
Ein
Hammerprogramm
Ein
Hammerprogramm hatte Sir Simon Rattle (*1955) und sein Symphonieorchester des
Bayerischen Rundfunks für das Frankfurter Publikum im Koffer. Vielleicht
ein wenig überbordend, wenn nicht überflüssig, aber dafür mit Gustav Mahlers Sinfonie
Nr. 6 a-Moll, auch „Die Tragische“ genannt, ein musikalisches Werk von
außergewöhnlicher Intensität, galanter Schönheit und beeindruckender
Expressivität.
Kitschig,
laut, trivial – Ein Weckruf
Aber gehen wir ins Detail. Der Konzertabend beginnt im voll besetzten Großen Saal der Alten Oper Frankfurt mit Ragtime (wohltemperiert) aus dem Jahre 1921 von Paul Hindemith (1895-1963). Ein dreieinhalb minütiger Scherz über ein Fugenthema aus Johann Sebastian Bachs Wohltemperierten Klavier Teil 1. Konkret, die Fuge c-Moll Nr. 2 BWV 847. Ein scheppernder, lauter Einstieg in den Sonntagabend, trivial, laut und nach den Worten des Komponisten selbst „kitschig“. Dafür aber ein Weckruf par excellence.
Sir Simon Rattle, Lester Lynch und SBR (Foto: Tibor-Florestan Pluto) |
Jüdische
und afrikanische Solidarität
Dann folgten
von Alexander Zemlinsky (1871-1942) Symphonische Gesänge op.20 (1929), eine
Hommage an die Harlem Renaissance, eine sozio-kulturelle Bewegung
afroamerikanischer Künstler New Yorks in den 1920er Jahren, und, wie es heißt,
eine ganz persönliche Reaktion auf eine amerikanische Anthologie (Hrsg.: Anna
Nussbaum) unter dem Titel Afrika singt, die eben zu dieser Zeit für Aufregung
in Wien sorgte, zumal der Antisemitismus (Zemlinsky war Jude) fröhliche Urständ
feierte und Ausbeutung, Rassismus, Unterdrückung wie Gewalttätigkeiten aktuelle
Themen auch in der Noch-Republik Österreich waren.
Neue musikalische
Sachlichkeit
In sieben
kurzen Episoden beschreiben die kurzen Gesänge die Gefühlslage der
Schwarzafrikaner in den USA, in der Alten Oper gesungen von dem farbigen Bariton
Lester Lynch (*1960). Zemlinsky – ein fast vergessener Komponist,
erlebte er doch erst kürzlich mit Traumgörge in der Oper Frankfurt ein
phänomenales Come back. Auch hat er bekanntlich die Musik der Zweiten Wiener Schule
nicht unerheblich beeinflusst – setzt in dieser Gesangsfolge wesentlich auf die
Neue Sachlichkeit seiner Zeit, das heißt, auf strenge, reduzierte Stilmittel,
sehr expressiv zwar, aber so gar nicht musikantisch, wie in Hindemiths Ragtime.
Es fehlt das Tänzerische und Jazzige, dafür aber glänzen diese, seiner gerade
verstorbenen Frau Ida gewidmeten symphonischen Gesänge durch sensible, filigrane
und hochdifferenzierte Farbigkeit des instrumentalen Klangs. Der Gesang des US-amerikanischen Starbaritons dazu
konnte leider nicht so recht überzeugen. Die Stimme Lester Lynchs war
sehr kehlig, in der Höhe gepresst und in der Tiefe kaum zu hören. Textlich war
eigentlich nichts zu verstehen – auch weil das Orchester vielleicht etwas zu dick
besetzt war – was aber zum Nachvollzug der Gesänge notwendig gewesen wäre.
Warum den
Koffer zu vollstopfen?
Warum die
beiden Kompositionen Mahlers Sechster vorangestellt wurden, bleibt wohl
im Dunkeln. Allein der jüdische Bezug scheint doch sehr artifiziell und dem
politischen Zeitgeist unterworfen zu sein, was auch die zeitlichen und persönlichen
Unterschiede belegen. Allein die Mahlersche Sinfonie Nr. 6 a-Moll
hätte den Konzertabend bestens ausgefüllt. Und das tat sie denn auch in vollem
Umfang.
Sir Simon Rattle und das SBR (Foto: Tibor-Florestan Pluto) |
Das
Rätsel der Tragischen
Dieses fast
90 Minuten umfassende Werk wird „Die Tragische“ genannt, obwohl in einer Zeit
des Erfolgs und des familiären Glücks geschrieben. Zwischen 1903 und 1904 in
Wien entstanden, betrachtete sie Gustav Mahler (1860-1911) allerdings als Rätselaufgabe. „Meine
VI.“, soll er gesagt haben, „wird Rätsel aufgeben, an die sich nur die
Generation heranwagen darf, die meine ersten fünf (gemeint: Sinfonien, d. V.)
in sich aufgenommen und verdaut haben.“
Und das kann man mit Fug und Recht Sir Simon Rattle unterstellen. Er, der eigenen Aussagen zufolge, dieses tragische Werk schon seit über vierzig Jahren dirigiert, dürfte wohl Mahlers bester Schüler in der Lösung des Rätselhaften dieser vielleicht düstersten Sinfonie, die er je geschrieben hat, sein.
Rattle
geht es gleich fast aggressiv an. Heftiges Pochen in marschähnlichem Duktus
beherrscht die Anfangstakte. Sehr konturenreich, klangwuchtig und
holzschnittartig geht er das Allegro des in Sonatenhauptsatzform gehaltenen
Ersten Satzes an. Mahlers Spielangaben, heftig und markig, übererfüllt
er quasi durch dynamische Überbetonung der pochenden Passagen und extrem
überzogenen Wechseln von Fortissimo zu Pianissimo. Herausragend das immer
wieder neu einsetzende, sehr eingängige, fast simple Schicksalsmotiv,
das das gesamte Werk wie ein Leitmotiv durchzieht.
Sir Simon Rattle,
ein Meister der Nuance
Rattle kann aber auch lyrisch, ja lieblich, vor allem wenn die Celesta und die Kuhglocken einsetzen. Ein Voralpen Panorama erster Güte. Er dirigiert sparsam, ohne Partitur, und vor allem mit großer Voraussicht auf jede einzelne dynamische und instrumentale Nuance achtend. Ein Meister der Gefühlslage, denn, und das fällt auf, er betont auch das optimistische, das Naturnahe und Friedliche. Nie kommt man auf den Gedanken des Tragischen, zumindest nicht im ersten Satz, der im Marschrhythmus mit einem schmetternden Paukenschlag endet.
Sir Simon Rattle und das SBR in der Alten Oper Frankfurt (Foto: H.boscaiolo) |
Nichts
von Tragik und Düsterkeit
Statt des angegebenen Scherzos folgt das Andante moderato. Dieser Tausch ist eine gute Wahl, denn jetzt setzt erst einmal eine große Beruhigung ein. Ein Raumspiel des fast 120 Musikerinnen und Musiker starken Orchesters mit herrlichen Melodien vor allem der Holzbläser und Hörner (10 an der Zahl) dominiert diesen Satz. Ein Ländler als Zwischenspiel, Herdenglocken und natürlich Hinweise auf das Schicksalsmotiv, beherrschen die Stimmung von teilweise erhabener, ja galanter Schönheit und ergreifender Innerlichkeit. Man atmet förmlich auf, nichts von Tragik und Düsterkeit.
Kontinuitätslos,
aber Spannungsgeladen
Das Scherzo knüpft wieder an den pochenden Marschrhythmus des ersten Satzes an. Nur dieses Mal im schnellen Dreiviertel Takt. Tuba, Hörner, Posaunen geben sich ein Stelldichein. Es stampft aufmüpfig bis zum ersten Trio. Ein Schreittempo mit extremen Rubati, Ritardandi und Accelerandi, ungemein spannend. Mit permanenten Taktwechseln, mal 4/4, 6/8, oder 3/4, immer schwankend und irgendwie unruhig und kontinuitätslos. Das alles wiederholt sich zweimal, ehe der Satz ohne Pause ins Finale überleitet.
Sir Simon Rattle und das SBR in der Alten Oper Frankfurt (Foto: H.boscaiolo) |
Zwei
Hammerschläge und vier Becken
Ein Finale, Allegro
moderato, auf das sich die gesamte Komposition hinbewegt zu haben scheint.
Wieder das marschähnliche Pochen, wieder das tragische Schicksalsmotiv, wieder
Celesta und Kuhglocken. Reminiszenzen an die vorherigen Sätze. An vielen
Stellen fühlt man sich an Richard Wagners typische Orchestrierung erinnert.
Englisch Horn, Hörner, Posaunen und Trompeten, Kontrafagott und Bassklarinette
satt. Eine spezifische Klangfülle im Dreifach-Forte, transparent und doch
extrem dicht.
Alles spitzt
sich dramatisch zu bis zum ersten, Schicksal geschwängerten Hammerschlag. Ein Vorschlaghammer
lässt den Saal erzittern. Nach kurzer Beruhigung wieder ein dynamischer
Steigerungsprozess bis zum zweiten markerschütternden Hammerschlag. Man wartet auf den dritten,
entscheidenden Hammerschlag. Aber - der wird von vier Beckenschlägen ersetzt.
Alma, Mahlers Ehefrau, hatte ihn darum gebeten, weil der dritte Schlag das
Schicksal mit dem Tod besiegelt, so der allgemeine Aberglaube. Eine geschickte
Umgehung, sollte doch der dritte Schlag das gesamte musikalische Geschehen unwiederbringlich
zerstören. In der Version Sir Simon Rattles findet das Ausweglose nicht statt. Eine
starke, langgezogene Coda mit langsam zerbröselnden Schicksalsmotiv-Fetzen aus allen Instrumentengruppen, schafft eine zwar trauernde, ja mystisch abgehobene
Stimmung. Man fühlt sich leer und ausgelaugt, wird aber durch einen lärmenden
Schlussakkord im Orchestertutti quasi wieder zum realen Leben erweckt.
Verzweiflung
oder Hoffnung?
Ob das Werk in Ausweglosigkeit und Verzweiflung endet, das sei dem Hörer überlassen. Lassen wir Sir Simon Rattle sprechen: „Sie ist extrem, aber über weite Strecken weniger wild als alles andere von ihm, obwohl sie eine zerschmetternde Botschaft vermittelt … Ich dirigiere die Sechste jetzt schon seit 40 Jahren und habe mit der Zeit gemerkt, dass sie auch Hoffnung in sich trägt.“ Dem gibt es nichts hinzuzufügen.
Sir Simon Rattle und das SBR in der Alten Oper Frankfurt (Foto: H.boscaiolo) |
Ein heilsamer Schock
Nach dem
Schlussakkord will nicht so recht Verzweiflung aufkommen, sondern es bleibt
eher der Gedanke eines Schocks lebendig. Man geht aus dem Saal und fühlt sich
leer und schwankend, aber auch gleichzeitig ermutigt, mit neuem Elan die notwendigen
Dinge anzugehen. Dank sei Sir Simon Rattle gezollt für die einmalige Interpretation
dieser Sechsten, die heute noch so mitreißend aktuell ist wie vor 120 Jahren.
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