Montag, 22. April 2024

Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (SBR) unter Sir Simon Rattle, Alte Oper Frankfurt, 21.04.2024

Sir Simon Rattle und das SBR (Foto: Tibor-Florestan Pluto)

Ein Hammerprogramm

Ein Hammerprogramm hatte Sir Simon Rattle (*1955) und sein Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks für das Frankfurter Publikum im Koffer. Vielleicht ein wenig überbordend, wenn nicht überflüssig, aber dafür mit Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 6 a-Moll, auch „Die Tragische“ genannt, ein musikalisches Werk von außergewöhnlicher Intensität, galanter Schönheit und beeindruckender Expressivität.

 

Kitschig, laut, trivial – Ein Weckruf

Aber gehen wir ins Detail. Der Konzertabend beginnt im voll besetzten Großen Saal der Alten Oper Frankfurt mit Ragtime (wohltemperiert) aus dem Jahre 1921 von Paul Hindemith (1895-1963). Ein dreieinhalb minütiger Scherz über ein Fugenthema aus Johann Sebastian Bachs Wohltemperierten Klavier Teil 1. Konkret, die Fuge c-Moll Nr. 2 BWV 847. Ein scheppernder, lauter Einstieg in den Sonntagabend, trivial, laut und nach den Worten des Komponisten selbst „kitschig“. Dafür aber ein Weckruf par excellence.

Sir Simon Rattle, Lester Lynch und SBR 
(Foto: Tibor-Florestan Pluto)

Jüdische und afrikanische Solidarität

Dann folgten von Alexander Zemlinsky (1871-1942) Symphonische Gesänge op.20 (1929), eine Hommage an die Harlem Renaissance, eine sozio-kulturelle Bewegung afroamerikanischer Künstler New Yorks in den 1920er Jahren, und, wie es heißt, eine ganz persönliche Reaktion auf eine amerikanische Anthologie (Hrsg.: Anna Nussbaum) unter dem Titel Afrika singt, die eben zu dieser Zeit für Aufregung in Wien sorgte, zumal der Antisemitismus (Zemlinsky war Jude) fröhliche Urständ feierte und Ausbeutung, Rassismus, Unterdrückung wie Gewalttätigkeiten aktuelle Themen auch in der Noch-Republik Österreich waren.

 

Neue musikalische Sachlichkeit

In sieben kurzen Episoden beschreiben die kurzen Gesänge die Gefühlslage der Schwarzafrikaner in den USA, in der Alten Oper gesungen von dem farbigen Bariton Lester Lynch (*1960). Zemlinsky – ein fast vergessener Komponist, erlebte er doch erst kürzlich mit Traumgörge in der Oper Frankfurt ein phänomenales Come back. Auch hat er bekanntlich die Musik der Zweiten Wiener Schule nicht unerheblich beeinflusst – setzt in dieser Gesangsfolge wesentlich auf die Neue Sachlichkeit seiner Zeit, das heißt, auf strenge, reduzierte Stilmittel, sehr expressiv zwar, aber so gar nicht musikantisch, wie in Hindemiths Ragtime. Es fehlt das Tänzerische und Jazzige, dafür aber glänzen diese, seiner gerade verstorbenen Frau Ida gewidmeten symphonischen Gesänge durch sensible, filigrane und hochdifferenzierte Farbigkeit des instrumentalen Klangs. Der Gesang des US-amerikanischen Starbaritons dazu konnte leider nicht so recht überzeugen. Die Stimme Lester Lynchs war sehr kehlig, in der Höhe gepresst und in der Tiefe kaum zu hören. Textlich war eigentlich nichts zu verstehen – auch weil das Orchester vielleicht etwas zu dick besetzt war – was aber zum Nachvollzug der Gesänge notwendig gewesen wäre. 

 

Warum den Koffer zu vollstopfen?

Warum die beiden Kompositionen Mahlers Sechster vorangestellt wurden, bleibt wohl im Dunkeln. Allein der jüdische Bezug scheint doch sehr artifiziell und dem politischen Zeitgeist unterworfen zu sein, was auch die zeitlichen und persönlichen Unterschiede belegen. Allein die Mahlersche Sinfonie Nr. 6 a-Moll hätte den Konzertabend bestens ausgefüllt. Und das tat sie denn auch in vollem Umfang.

Sir Simon Rattle und das SBR (Foto: Tibor-Florestan Pluto)

 

Das Rätsel der Tragischen

Dieses fast 90 Minuten umfassende Werk wird „Die Tragische“ genannt, obwohl in einer Zeit des Erfolgs und des familiären Glücks geschrieben. Zwischen 1903 und 1904 in Wien entstanden, betrachtete sie Gustav Mahler (1860-1911) allerdings als Rätselaufgabe. „Meine VI.“, soll er gesagt haben, „wird Rätsel aufgeben, an die sich nur die Generation heranwagen darf, die meine ersten fünf (gemeint: Sinfonien, d. V.) in sich aufgenommen und verdaut haben.“

Und das kann man mit Fug und Recht Sir Simon Rattle unterstellen. Er, der eigenen Aussagen zufolge, dieses tragische Werk schon seit über vierzig Jahren dirigiert, dürfte wohl Mahlers bester Schüler in der Lösung des Rätselhaften dieser vielleicht düstersten Sinfonie, die er je geschrieben hat, sein. 

Rattle geht es gleich fast aggressiv an. Heftiges Pochen in marschähnlichem Duktus beherrscht die Anfangstakte. Sehr konturenreich, klangwuchtig und holzschnittartig geht er das Allegro des in Sonatenhauptsatzform gehaltenen Ersten Satzes an. Mahlers Spielangaben, heftig und markig, übererfüllt er quasi durch dynamische Überbetonung der pochenden Passagen und extrem überzogenen Wechseln von Fortissimo zu Pianissimo. Herausragend das immer wieder neu einsetzende, sehr eingängige, fast simple Schicksalsmotiv, das das gesamte Werk wie ein Leitmotiv durchzieht.

 

Sir Simon Rattle, ein Meister der Nuance

Rattle kann aber auch lyrisch, ja lieblich, vor allem wenn die Celesta und die Kuhglocken einsetzen. Ein Voralpen Panorama erster Güte. Er dirigiert sparsam, ohne Partitur, und vor allem mit großer Voraussicht auf jede einzelne dynamische und instrumentale Nuance achtend. Ein Meister der Gefühlslage, denn, und das fällt auf, er betont auch das optimistische, das Naturnahe und Friedliche. Nie kommt man auf den Gedanken des Tragischen, zumindest nicht im ersten Satz, der im Marschrhythmus mit einem schmetternden Paukenschlag endet.

Sir Simon Rattle und das SBR in der Alten Oper Frankfurt 
(Foto: H.boscaiolo)

Nichts von Tragik und Düsterkeit

Statt des angegebenen Scherzos folgt das Andante moderato. Dieser Tausch ist eine gute Wahl, denn jetzt setzt erst einmal eine große Beruhigung ein. Ein Raumspiel des fast 120 Musikerinnen und Musiker starken Orchesters mit herrlichen Melodien vor allem der Holzbläser und Hörner (10 an der Zahl) dominiert diesen Satz. Ein Ländler als Zwischenspiel, Herdenglocken und natürlich Hinweise auf das Schicksalsmotiv, beherrschen die Stimmung von teilweise erhabener, ja galanter Schönheit und ergreifender Innerlichkeit. Man atmet förmlich auf, nichts von Tragik und Düsterkeit.


Kontinuitätslos, aber Spannungsgeladen

Das Scherzo knüpft wieder an den pochenden Marschrhythmus des ersten Satzes an. Nur dieses Mal im schnellen Dreiviertel Takt. Tuba, Hörner, Posaunen geben sich ein Stelldichein. Es stampft aufmüpfig bis zum ersten Trio. Ein Schreittempo mit extremen Rubati, Ritardandi und Accelerandi, ungemein spannend. Mit permanenten Taktwechseln, mal 4/4, 6/8, oder 3/4, immer schwankend und irgendwie unruhig und kontinuitätslos. Das alles wiederholt sich zweimal, ehe der Satz ohne Pause ins Finale überleitet.

Sir Simon Rattle und das SBR in der Alten Oper Frankfurt 
(Foto: H.boscaiolo)

Zwei Hammerschläge und vier Becken

Ein Finale, Allegro moderato, auf das sich die gesamte Komposition hinbewegt zu haben scheint. Wieder das marschähnliche Pochen, wieder das tragische Schicksalsmotiv, wieder Celesta und Kuhglocken. Reminiszenzen an die vorherigen Sätze. An vielen Stellen fühlt man sich an Richard Wagners typische Orchestrierung erinnert. Englisch Horn, Hörner, Posaunen und Trompeten, Kontrafagott und Bassklarinette satt. Eine spezifische Klangfülle im Dreifach-Forte, transparent und doch extrem dicht.

Alles spitzt sich dramatisch zu bis zum ersten, Schicksal geschwängerten Hammerschlag. Ein Vorschlaghammer lässt den Saal erzittern. Nach kurzer Beruhigung wieder ein dynamischer Steigerungsprozess bis zum zweiten markerschütternden Hammerschlag. Man wartet auf den dritten, entscheidenden Hammerschlag. Aber - der wird von vier Beckenschlägen ersetzt. Alma, Mahlers Ehefrau, hatte ihn darum gebeten, weil der dritte Schlag das Schicksal mit dem Tod besiegelt, so der allgemeine Aberglaube. Eine geschickte Umgehung, sollte doch der dritte Schlag das gesamte musikalische Geschehen unwiederbringlich zerstören. In der Version Sir Simon Rattles findet das Ausweglose nicht statt. Eine starke, langgezogene Coda mit langsam zerbröselnden Schicksalsmotiv-Fetzen aus allen Instrumentengruppen, schafft eine zwar trauernde, ja mystisch abgehobene Stimmung. Man fühlt sich leer und ausgelaugt, wird aber durch einen lärmenden Schlussakkord im Orchestertutti quasi wieder zum realen Leben erweckt.


Verzweiflung oder Hoffnung?

Ob das Werk in Ausweglosigkeit und Verzweiflung endet, das sei dem Hörer überlassen. Lassen wir Sir Simon Rattle sprechen: „Sie ist extrem, aber über weite Strecken weniger wild als alles andere von ihm, obwohl sie eine zerschmetternde Botschaft vermittelt … Ich dirigiere die Sechste jetzt schon seit 40 Jahren und habe mit der Zeit gemerkt, dass sie auch Hoffnung in sich trägt.“ Dem gibt es nichts hinzuzufügen.

Sir Simon Rattle und das SBR in der Alten Oper Frankfurt 
(Foto: H.boscaiolo)

Ein heilsamer Schock

Nach dem Schlussakkord will nicht so recht Verzweiflung aufkommen, sondern es bleibt eher der Gedanke eines Schocks lebendig. Man geht aus dem Saal und fühlt sich leer und schwankend, aber auch gleichzeitig ermutigt, mit neuem Elan die notwendigen Dinge anzugehen. Dank sei Sir Simon Rattle gezollt für die einmalige Interpretation dieser Sechsten, die heute noch so mitreißend aktuell ist wie vor 120 Jahren.  

 

 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen