Sonntag, 14. April 2024

Turandot (1926), lyrisches Drama in drei Akten von Giacomo Puccini (1858-1924), nach dem Libretto von Giuseppe Adami und Renato Simoni sowie nach Werken von Friedrich Schiller und Carlo Gozzi wie auch einer alten persischen Legende (mit Puccinis Requiem von 1905 als Schlussakt), Staatstheater Wiesbaden, 13.04.2024 (Premiere)

v. l.: Young Doo Park, Heather Engebretson, Olesya Golovneva, Gabriele Ascani,
Rodrigo Porras Garulo, Chor

Fotos: Karl und Monika Forster

Ein Märchen aus vergangenen Zeiten - idealer Opernstoff

Turandot, ein Märchen aus vergangenen Zeiten, vielfach vertont (unter anderem von Ferruccio Busoni, 1817, oder auch von Carl Maria von Weber, 1809) und als Theater auf die Bühne gebracht (wie von Friedrich Schiller bzw. Carlo Gozzi), ist das letzte unvollendete Werk aus dem reichen Opern Oeuvre Giacomo Puccinis. Puccini erlebte Turandot um 1920 in Berlin als Theaterstück von Max Reinhardt und verliebte sich sofort, ohne den Text vollständig zu verstehen (heißt es zumindest), in das Schauspiel, weil es einen exzellenten Opernstoff enthielt, womit er ins Schwarze getroffen hatte, wie bei nahezu allen seiner Opern.

Olesya Golovneva, Chor

Eine Erfolgsgeschichte

Mit Turandot, posthum am 25. April 1926 in der Mailänder Skala, unter dem Dirigat des legendären Arturo Toscanini uraufgeführt, traf er sofort den Geschmack des Publikums. Toscanini beendete das Opernfragment nach der Todesarie von Liú mit den Worten: „Hier endet das Werk des Meisters.“  Der Vorhang fällt. Betretenes Schweigen. Dann brausender, nicht enden wollender Beifall. Erst am folgenden Tag wurde die Oper mit der vervollständigenden Schlussszene von Franco Alfano (1875-1954), einem damals äußerst erfolgreichen Komponisten, zu Ende gespielt. Eine Erfolgsgeschichte beginnt.

Heather Engebretson

Eine dritte Schlussversion

Franco Alfanos Ergänzungen werden bis heute bevorzugt, auch wenn Luciano Berio (1925-2003) ebenfalls ein eigenwilliges Finale komponiert hat. Die Premiere im Staatstheater Wiesbaden hat sich unter der Regie von Daniela Kerck und der Dramaturgie von Constantin Mende an eine dritte Schlussversion gewagt. 

Sie interpretieren das Märchen eher als autobiographischen Rechtfertigungsversuch eines Schürzenjägers, Giacomo Puccini, der unglücklich verheiratet, ein Verhältnis mit seiner blutjungen Haushälterin Doria Manfredi eingegangen sein soll, die, von seiner Frau rufschädigend verfolgt, aus Verzweiflung Suizid begeht. Ist die Figur der Sklavin Liù quasi als ehrende Erinnerung an diesen Vorfall gedacht? Als Abbitte an seine sexuellen Übertretungen (Mirco Carner) zu verstehen?

v. l.: Ralf Rachbauer, Christopher Bolduc, Gustavo Quaresma

Hoffnung, Blut und Turandot – ein echter Liebesbeweis

Aber dazu später. Die sehr bekannte Handlung ist konzentriert auf die drei rätselhaften Fragen der „eiskalten“ Turandot an ihre Freier, die lediglich von dem unbekannten Prinzen Calaf beantwortet werden. Hoffnung, Blut und Turandot sind die Lösungsworte und hier beginnt das eigentliche Drama dieses Märchens. 

Turandot will ihren Schwur, den zu ehelichen, der die Fragen beantwortet, nicht einhalten, weil sie aufgrund der schrecklichen Ereignisse um ihre Ahnin (sie wurde von fremden Invasoren geraubt, geschändet und getötet) ausschließlich Rachegefühle gegen alle Männer hegt. Der unbekannte Prinz Calaf allerdings beweist seine Liebe zu ihr, indem er ebenfalls ein Rätsel aufgibt. Bevor der Morgen graut, so seine Aufgabe, müsse die Prinzessin seinen Namen herausgefunden haben, ansonsten sei er bereit zu sterben. Ein echter Liebesbeweis, oder?!  

v. l.: Eric Biegel, Rodrigo Porras Garulo, Olesya Golovneva, Chor


Ein zweiter echter Liebesbeweis

Turandot lässt das Volk nicht schlafen (Stichwort: Nessun Dorma), setzt Timur (der Vater Calafs) und dessen Sklavin (Liù) gefangen und versucht durch Folter seinen Namen zu erfahren. Liú, die ihre große Liebe zu Calaf gesteht, setzt lieber ihrem Leben ein Ende, als Calafs Namen zu verraten. (Eine der schönsten Liebesarien in dieser Oper, vergleichbar mit der von Tristan und Isolde aus dem 3. Akt 2. Szene).

An dieser Stelle endet die durchkomponierte Oper Puccinis. Allerdings sind Particelle und Texte für das Ende der Oper vorhanden, die sowohl von Alfano als auch von Berio verwendet werden.


Des Rätsels Lösung ist die Liebe

Nach dem Urtext des Märchens erkennt Turandot die wirkliche Liebe Calafs zu ihr. Schon im zweiten Akt horcht sie auf, als er ihrer Behauptung, alle Männer verschafften nur Leid und Unterdrückung, entgegenhält: „Ich will dich glühend vor Liebe.“ 

Im dritten Akt scheint sie am Freitod von Liù zu erkennen, wie weit echte Liebe gehen kann (Stichwort: Liebestod), wird dadurch geläutert und kann dem Angebot Calafs, sie könne ihn töten, wenn sein Name nicht herausgefunden wird, ihre eigene Liebe entgegensetzen. Des Rätsels Lösung. Calafs Namensfindung wird unerheblich. Sie nennt ihn einfach ihren „Gemahl“. Unter unendlichem Jubel wird Hochzeit gefeiert. Ende gut alles gut? So sollte es sein.

Olesya Golovneva, Chor

Autobiografischer Erzählungsversuch

Die Inszenierung dagegen stellt vor allem an dieser Stelle den Knackpunkt her. Wie kann man jemanden lieben, der mindestens 28 Tote auf dem Gewissen hat (die Freier Turandots, die am Rätsel scheiterten)? Wie kann man zuschauen, wie Liù gefoltert wird, obwohl sie ihre Liebe zu Calaf beteuert? Tatsächlich regt sich niemand, ihr zu helfen. Wie kann man überhaupt eine Frau lieben, die man nie wirklich gesehen und kennengelernt hat? Turandot ist überwiegend hinter einer Maske verborgen. Alles Fragen, die in einem Märchen durchaus logisch geklärt werden könnten, aber nicht, wenn man autobiographisch an die Geschichte herangeht.

Olesya Golovneva

Verstörendes Finale – Requiem statt Liebeshochzeit

Daniela Kerck und ihr Team lassen den Schluss der Oper denn auch in einem Requiem (1905) für gemischten Chor, Bratsche und Orgel, komponiert von Puccini höchstpersönlich, enden. Der Text lautet: „Requiem aeternam dona eis Domine, et Lux perpetua luceat eis, Requiescat in Pace, Amen.“ In diesem Sinne endet die Oper tieftraurig. Liù scheint zu erwachen, Turandot bewegt sich zu Calaf, der am Flügel sitzend (möglicherweise Puccini) auf seine Partitur schaut. Im Hintergrund Meeresrauschen, während der Chor den Todeschoral intoniert.

Turandot küsst Calaf, der daraufhin auf die Klavierbank fällt (ob tot oder erschöpft bleibt offen). Dann trennt sich Turandot von ihm und geht dem schäumenden Meereswasser entgegen. Selbstmord oder einfach aus der Welt entschwindend? Liù schaut zu ihr hin und wird aufgefordert mitzukommen. Dann fällt unter dem langgezogenen Amen des Chors plus Orchester, Orgel und Bratsche der Vorhang

v. l.: Heather Engebretson, Ralf Rachbauer, Rodrigo Porras Garulo,
Christopher Bolduc, Gustavo Quaresma,

Lieber Märchen als Trauerspiel

Ein sehr befremdliches Finale, zumal der Charakter des Märchens verloren gegangen ist. Hier wird stattdessen ein Versuch gestartet, männliche „Übergriffigkeit“ und „Liebesunfähigkeit“ zu demonstrieren. Das widerspricht nicht allein der Textur der Oper, sondern auch dem Sinn des Märchens schlechthin, das doch die Liebe als höchstes Gut menschlichen Daseins thematisiert. Immer geht es bei der Liebe um Leben und Tod. Ein Thema zu Zeiten Puccinis wie auch heute noch. Und das mit einem sprichwörtlichen Happy End. Allein die scheinbar unlösbaren Rätselaufgaben sind doch Symbol dafür. 

Hier die „Beichte“ eines angeblichen Schürzenjägers und rücksichtslosen Frauenverführers hinein zu interpretieren, erscheint schon sehr gewagt und sollte für zukünftige Turandot Inszenierungen nicht zur Regel werden. Bitte lasst Märchen, Märchen sein, und macht nicht ein küchenpsychologisches Trauerspiel daraus.

Olesya Golovneva, Rodrigo Porras Garulo, Chor

Starke Besetzung der Hauptrollen

Dennoch. Die Premiere kann durchaus als Erfolg gewertet werden. Hierbei seien vor allem das Bühnenbild (Daniela Kerck), die Kostüme (Andrea Schmidt-Futterer und Frank Schönwald), die Videoeinblendungen (Astrid Steiner), Licht (Klaus Krauspenhaar) und Choreographie (Rosana Ribeiro) herausgehoben. Schlicht, angelehnt an das Art Déco der 1920er Jahre, passende Videos zur Handlung, mal Bibliothek mit Flügel (Puccinis Arbeitszimmer?), mal Herbst- und Wintereindrücke, oder Meeresrauschen wie auch modernes Forumsklima für die aufgebrachten Massen. Allerdings kamen Ping, Pang, Pong zumindest am Anfang zu sehr als fundamentalistische Juden (Die Hüte und Kleidung) daher, was so gar nicht passte, sich aber alsbald in Luft auflöste.

Die Akteure, allen voran Olesya Golovneva (Sopran) als Turandot, Rodrigo Porras Garulo (Tenor) als Calaf, Heather Engebretson (Sopran) als Liù sowie Young Doo Park (Bass) als Timur konnten ausnahmslos überzeugen. Gesang und Rollen waren ihnen auf den Leib geschnitten. Bestnoten für sie. Herausragend die Liebesarie von Heather Engebretson, eine Poesie in Reinkultur. Aber auch die dramaturgische Ballung der Rätselszene im zweiten Akt, ein Glanzlicht von Olesya Golovneva wie auch Rodrigo Porras Garulo, und nicht zuletzt dessen berühmte Nessun Dorma Arie sind hier zu Recht herausheben.

Olesya Golovneva, Chor

Ein bisschen Commedia dell ‘arte

Die drei Minister Ping, Pang und Pong, gesungen und gespielt von Christopher Bolduc (Bariton), Ralf Rachbauer (Tenor) und Gustavo Quaresma (Tenor) spielten besser als sie sangen. Sie gehörten ein wenig in das Genre der Commedia dell ´arte, wie auch der Kaiser von China (Erik Biegel, Tenor), und konnten dem durchaus gerecht werden. Zu erwähnen noch der Tänzer (Gabriele Ascani), der den unglücklichen Freier verkörperte, um dann im Off geköpft zu werden. Eine gute Idee, die dem ersten Akt beste Dramaturgie bot.

Rodrigo Porras Garulo, Olesya Golovneva

Prachtvolle Chöre und Musik von makelloser Schönheit

Allen voran aber die Chöre des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden, der Kinderchor der Limburger Dommusik, unter der Leitung von Albert Horne, sowie der Einstudierung von Andreas Bollendorf und Judith Kunz. Was sie boten war, trotz einiger Einsatzpatzer (bei dieser Größenordnung für eine Premiere verständlich), von höchster Qualität, sowohl gesanglich als auch schauspielerisch.

Dazu eine Musik von der gestandenen Reife eines wunderbaren Komponisten in den letzten Lebensjahren, voller Atem und Harmonie. In den ersten beiden Akten dominierte vor allem die Technik der Pentatonik, im dritten Akt die makellose Schönheit des Belcantos, gipfelnd vor allem in Nessun Dorma sowie der Liebesarie der Liù.

v. l.: Gabriele Ascani, Erik Biegel, Young Doo Park, Rodrigo Porras Garulo,
Olesya Golovneva, Heather Engebretson, Chor

Foto: H.boscaiolo 

Das Staatsorchester Wiesbaden als i-Tüpfelchen der Premiere

Vielschichtigkeit und prachtvoller Massengesang mit hymnischen Einlagen ergänzte das Geschehen auf der Bühne. Yoel Gamzou als musikalischer Leiter des Ganzen hat dabei herausragende Arbeit geleistet. Mit großer Empathie, ausladender Gestik und vorausschauendem Dirigat hat er der Premiere mit einem  bestens aufgelegten und motivierten Hessischen Staatsorchester Wiesbaden das i-Tüpfelchen aufgedrückt. 

Allein die Musik und die Sänger sind es wert, diese Oper zu besuchen und einen Puccini der Extraklasse zu erleben.         

 

 

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