Mittwoch, 1. Mai 2024

Bergen Philharmonic Orchestra mit Edward Gardner und Alexej Gerassimez (Perkussion), Alte Oper Frankfurt, 30.04.2024 (eine Veranstaltung von PRO ARTE)

Bergen Philharmonic Orchestra (Foto: Website)

Wer die Geister ruft …

Alles beginnt mit dem Zauberlehrling (französisch L´Apprenti sorcier) von Paul Dukas (1863-1935). Eine Programmmusik par excellence in der Mode der Jahrhundertwende. Denn das 1897 entstandene Werk – man erinnere sich an die nahezu zur gleichen Zeit Begeisterung auslösenden sinfonischen Dichtungen wie Don Juan, oder Till Eulenspiegel von Richard Strauss – machte gleich Furore, denn es erzählt eine Geschichte aus Johann Wolfgang Goethes gleichnamiger Ballade, worin der Zauberlehrling unerlaubt den Besen verzaubert, damit er ihm Wasser bringe, um den Raum zu reinigen, aber den Zauberspruch vergisst, der ihn wieder auflösen soll, und damit großes Chaos schafft. Erst die Rückkehr des Meisters lässt den Zauber verschwinden. Mit erhobenem Zeigefinger weist er den Lehrling in seine Schranken. Eine spannende Geschichte, die bereits 1940 in dem Walt Disney Zeichentrick-Klassiker Fantasia den Soundtrack bildete.

Edward Gardner (Foto: Benjamin Ealovega) 

Ein Parforceritt durch das Alchimistenlabor

Mit dem Bergen Philharmonic Orchestra, eines der ältesten der Welt, unter der musikalischen Leitung von Edward Gardner (*1974), einer der besten Dirigenten auf dem Globus, wurde diese dreizehnminütige Erzählung aus der Hexenküche zu einem Parforceritt durch das Labor der Alchimisten.

Gleich zu Beginn das Trompetenmotiv, dann die melodischen Schritte des hüpfenden Besens durch alle Instrumentengruppen und Tonarten. Die beginnende Verzweiflung, der fehlerhafte Gegenspruch, das Chaos sind die Folgen. Kontrafagott, Bassklarinette und Blechinstrumente dominieren jetzt das Geschehen. Septakkorde und Dissonanzen lassen die Verzweiflungstat hörbar werden. Erst das Erscheinen des Meisters schafft wieder Ruhe. Beim dreimaligen Saitenschlagen und der motivischen Auflösung des Zaubers kommt die Musik wieder ins Lot. Gleichsam mit erhobenem Zeigefinger belässt es der Magier mit einer Ermahnung und im vierfachen gewaltigen Schlussakkord endet das Spektakel.

 

Brillant und körperbetont

Hier zeigt das Orchester bereits unter der brillanten, sehr körperbetonten Leitung Edward Gardners (man erinnert sich noch lebhaft an seinen Besuch im November vergangenen Jahres mit dem London Symphony Orchestra und der Pianistin Hélène Grimaud) seine einsame Klasse. Einfach nur großartig.

Alexej Gerassimez (Foto: Nicolaj Lund)

Kultisch, schamanisch

Dann die Aufführung von „Sieidi“, ein Konzert für Schlagzeug und Orchester (2010) von dem finnischen Komponisten Kalevi Aho (*1949). Dazu meint der Perkussionist dieses Abends Alexej Gerassimez (*1987), der Titel beziehe sich auf eine Kultstätte samisch-finnischer Ureinwohner, wo sie einstmals ihre Götter anbeteten. Kalevi Aho habe diesen Ort, an dem übrigens jährlich da Luosto Classic Festival stattfindet, ausgewählt, weil an dieser Stelle Kraftfelder von außerordentlicher Intensität das inspirative Handeln der Menschen beeinflussen. Aho habe das in seinem Konzert mit großer Verve und Intensität umgesetzt.

Bekanntlich bezeichnet sich Aho selbst als polyglotten Komponisten, worunter er die Vielseitigkeit seiner musikalischen Bezüge versteht. So verwendet er Rhythmen, Taktfolgen, Instrumente aus allen Kontinenten, arabische, chinesische wie indische Einflüsse sind bei ihm selbstverständlich und wirksam.

Alexej Gerassimez (Foto: Nicolaj Lund)

Wanderung mit erkenntnisreicher Rückkehr

Dieses gut 35-minütige Werk beginnt gleich mit einer afrikanischen Djembé, wechselt dann zu einer arabischen Darabuka, um dann die in der westlichen Hemisphäre, und vor allem im Jazz, üblichen Schlaginstrumente, wie Marimba, Tomtoms, Vibraphon, Woodblocks und Tamtam zu bedienen. Hier aber ist es kein Hin- und Her zwischen den im Vordergrund der Bühne des großen Saals aufgestellten Instrumente, sondern ein Wandern vom Ausgangspunkt zum Ziel – das Tamtam –, und dann wieder zurück zum Ausgangspunkt – das Djembé.

 

Puls und Tempo im besten Sinne

Das Orchester ist fast gleichberechtigt vertreten, extrem energetisch lässt das Werk kaum Ruhepole zu. Immer am Anschlag mit Rhythmus Schichtungen, ständig wechselnden Taktfolgen zwischen 7/8, 14/16, 9/8, 7/16, 5/4 etc. Scheinbar unauflösbar, aber dennoch im Fluss und von ungeheurer Stimmigkeit. Nie hat man das Gefühl, dass das Stück zerfleddert, immer ist es konsistent und dicht. Die Instrumentalisten beherrschen dazu den höchst differenzierten rhythmischen Flow prächtig und der Dirigent zeigt selbst in schwierigsten Abschnitten, wo es lang geht. Das Ganze hat Puls und Tempo im besten Sinne.

Alexej Gerassimez, Edward Gardner,
Bergen Philharmonic Orchestra 
 
(Foto: H. boscaiolo)

Schamanenhafte Atmosphäre

Zwischendurch vermeint man sogar finnische Folklore und arabisch-islamischen Sufi zu vernehmen. Das Finale wirkt tatsächlich wie ein Ankommen auf erhöhter Stufe. Die drei zusätzlichen Perkussionisten an den Militärtrommeln, den Glockenspielen, Triangeln, Glocken, Pauken, Becken und Kastagnetten schaffen eine spirituelle schamanenhafte Atmosphäre der Meditation (unterstützt durch Rainmakers). Über einem langsam ins dreifache Pianissimo gleitende Spiel auf der Djembé versinkt das Werk sukzessive ins Nichts.


„Auf alle Fragen eine Antwort“

Für Alexej Gerassimez bietet dieses, übrigens, wie er selbst meint, äußerst schwierige Werk, auch wenn es ein wenig wie das mathematische Pi wirkt, auf alle Fragen eine Antwort. Für ihn ergibt alles an ihm einen tieferen Sinn. 

Man kann es sehen, wie man will, aber recht hat er. Ein nachhaltiges, perkussives Erlebnis, und das nicht allein vom Solisten. Eine Zugabe musste drin sein. Er, ein gebürtiger Essener, spielte auf dem Vibraphon Judy Garlands Song Somewhere over the Rainbow (1939), ruhig, smooth, lässig, wie auf einem Barhocker sitzend, aber unglaublich farbenreich und emotional. Alexej Gerassimez hat die Herzen der Frankfurter damit endgültig erobert.

Alexej Gerassimez, Edward Gardner,
Bergen Philharmonic Orchestra 
 
(Foto: H. boscaiolo)

Aus der Neuen, Blick in die Alte Welt

Höhepunkt auf Höhepunkt folgte an diesem Abend. Mit Antonin Dvořáks (1841-1904) Sinfonie Nr. 9 e-Moll op. 95 mit dem Beinamen „Aus der Neuen Welt“, haben die Bergener Klangkünstler ein neues Niveau in der Interpretation dieses viersätzigen Meisterwerks gesetzt. Sicher ist er vor allem durch seinen Aufenthalt in den USA inspiriert worden, die Folklore Amerikas hat ihn fasziniert. So war er überzeugt: „dass die künftige Musik dieses Landes auf den sogenannten 'negro melodies' beruhen muss … Sie sind Volkslieder, und die Komponisten müssen sich ihnen zuwenden.“  

Wer aber glaubt, die Sinfonie sei gespickt mit typisch amerikanischen Melodien, wird eher enttäuscht. Nicht, oder nur wenig davon. Einzig im dritten Seitenthema des Sonatenkopfsatzes des Allegro molto vermeint man in wunderbarem Rubato das Spiritual Swing low, sweet chariot herauszuhören. Aber alles in allem ist es doch „rein tschechische Musik“ (Dvořák).

Was aber dem Werk keinerlei Abbruch beschert. Von Beginn bis zum Schluss ein Klanggedicht und Feuer der Leidenschaft, in allen Sätzen, zusammengehalten vom Hauptthema des Eingangssatzes, rhythmisch gebrochenen Arpeggien auf- und absteigend, beginnend bei den Hörnern und von allen Instrumentengruppen abwechselnd aufgenommen.

Edward Gardner, Bergen Philharmonic Orchestra  
(Foto: H. boscaiolo)

Ein feuerloderndes Finale

Das arg verfremdete Scherzo mit doppeltem Trio, einmal im Walzerrhythmus und dann in einem wohlmeinenden Indianertanz, eher aber als böhmischer Reigen zu hören, gehört zu den markanten Höhepunkten des fast 45-Minuten andauernden Werks, bevor es dann in das feuerlodernde Finale geht.

Ein marschartiges Thema, eingeleitet durch einen Sekundruf der Hörner, beherrscht diesen sonatenförmigen Satz. Der lyrische Mittelteil verweist auf die Sehnsucht des Migranten nach seiner Heimat, böhmische Folklore pur, um dann über eine mannigfaltige Verarbeitung der Thematik in den Schlussspurt einzutreten. Der aber ist alles andere als triumphal. Nein, er gleitet nach einem Unisono-Tutti, dominiert von den Blechen und Hörnern, in ein fortschreitendes Pianissimo. Alles verklingt. Der Beifall allerdings will kein Ende nehmen.

Edward Gardner, Bergen Philharmonic Orchestra  
(Foto: H. boscaiolo)

Tief beeindruckt

Trotz weit fortgeschrittener Zeit eine Zugabe, und, wie könnte es anders sein, eine aus der Peer-Gynt Suite Die Halle des Bergkönigs von Edward Grieg. Einfach ohne Worte, diese farbenprächtigen dreieinhalb Minuten. Ein musikalischer Abend, der wieder einmal tiefe Eindrücke hinterlassen hat. Leider war der Große Saal nicht voll besetzt. Dieses Konzert hätte allerdings eine Arena verdient gehabt.     

 

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