glue light blue, Choreographie Nadav Zelner, Hessisches Staatsballett, Staatstheater Darmstadt, 08.05.2024 (Uraufführung 02.03.2024 im Staatstheater Wiesbaden)
glue light blue: Ensemble (Foto: Andreas Etter) |
In der Kommunikation Balance finden
Eine Tanzperformance: energetisch, sportlich, theatralisch und progressiv voranschreitend, um nicht zu sagen vorwärtsbrechend. Achtzehn Tänzerinnen und Tänzer des Hessischen Staatsballetts zeigten eine Stunde lang Höchstleitungen auf der Bühne des großen Saals des Darmstädter Staatstheaters. Dabei sollte es eigentlich um Kommunikation, um Verständnis, um alles was menschliches Miteinander und Gegeneinander ausmacht, gehen: polarisierende Geschichten des Alltags, oder wie es der Choreograph und Entwickler von glue light blue, Nadav Zelner (*1992) treffend zusammenfasst, um das Finden der „Balance“, wobei die Farbe Blau (der Titel heißt nicht umsonst übersetzt: Klebestoff hell blau) eine entscheidende Rolle spielt: „Es ist eine Kommunikationsfarbe und bezieht sich auf die Energie-Chakren: Das Kehlkopf Chakra wird mit dieser Farbe assoziiert,“ so der Choreograph.
glue light blue: Ensemble (Foto: Andreas Etter) |
Polarität: Zwischen Plus und Minus
Genug der
Theorie. Tatsächlich leuchtete die Bühne nicht allein in Blau, sondern auch in
den Farben Rostbraun und Weiß. 35 Kalksteinklumpen hingen von der Decke und
eine scheinbar undurchdringliche Wand umgrenzte die
riesige Bühne. Dazu ein gut sichtbares Pluszeichen über dem Orchestergraben bis
zum Publikum reichend, und im Hintergrund ein weniger sichtbares Minuszeichen,
ein Ort der Gegen- oder Unterwelt, denn hier konnte man verschwinden und
erscheinen. Die Polarität sollte denn auch weitgehend das Geschehen auf der Bühne
beherrschen, mal Plus-Minus, Minus-Minus sowie Plus-Plus Pas de Deuces oder
auch Gruppenpartien.
Fantasy oder Horror
Es beginnt gleich gespenstisch. Das Licht ist verdunkelt, aus der Unterwelt (Minuszeichen) entsteigt ein Mönch? – Oder eine Spinne, eine Fabelfigur aus einem Horrorfilm? – und gleitet in völliger Vermummung über die Bühne, quer durch die am Boden liegenden Steine. Die Musik ist eigentlich keine. Ein ohrenbetäubendes Rauschen durchwirkt die Szenerie. Dann füllt sich die Bühne mit achtzehn weiteren Gestalten in gleichen Kostümen. Sie verhalten sich vulgär, spucken, husten und kotzen. Machen Grimassen und treten nach und nach auf das Pluszeichen und „begrüßen“ das Publikum mit teilweise obszönen Gesten. Sie rufen, stampfen und schlagen. Eine Atmosphäre von Fantasy und Horror gleichzeitig.
glue light blue: Ensemble Tänzerinnen (Foto: Andreas Etter) |
Sportlich athletisch
Cut. Musik
setzt ein, eigentlich eher homophone Klangflächen. Wieder steht nur ein Tänzer
auf der Bühne, jetzt aber enthäutet. Er trägt seine Kutte im Arm und ist in
blau-rostfarbenes Trikot gekleidet. Einfallsreich, wirksam und absolut funktionell.
Denn jetzt geht es sportlich athletisch zu. Die Steine entschwinden nach oben,
ebenfalls die beengenden Wände und ein rhythmischer, von orientalischen Klängen
begleiteter Tanz beginnt. Mal in Gruppen, mal solistisch oder auch in Duetten.
Die Musik wird von einer Mizmar, eine Art Klarinette, dominiert und mit
typischer orientalischer Instrumentation begleitet, darunter Oud, Ney, Tar (eine
Art Gitarre), orientalische Leier und diverse Perkussionsinstrumente wie Darbuka,
Tomtom, Djembé oder Saz-Darbouka (Hackbrett). Insgesamt hat Nadav Zelner elf Musiken von acht
arabischen Komponisten und Ensembles ausgesucht. Nach eigenen Aussagen ein "eklektisches Sammelsurium".
Materie und Geist im Einklang
Alle Tänzer im gleichen Dress mit unglaublich schwierigen sportgymnastischen Übungen. Dann beruhigt sich das Geschehen wieder. Man hört Wasserrauschen. Die Steine kommen von der Decke zurück, verharren auf der Höhe der Tänzer und begleiten ihre Bewegungen. Sehr spannend und ein gelungener Versuch, Materie und Geist in Einklang zu bringen. Zwei weibliche Tänzer sitzen am Minuspol, küssen sich und trennen sich. Sie streiten, kämpfen, balzen, posen wie in der Tierwelt. Bellen, pfeifen und schreien Ur-laute heraus. Sie spielen mit ihren Reizen. Dann ein olympisches Wasserballett mit 12 Frauen, witzig, spielerisch. Selbst die Fuß- und Zehenstellungen scheinen wichtig zu sein.
glue light blue: Ensemble (Foto: Andreas Etter) |
Nackte Wahrheiten
Alle sind
jetzt mit hellblauen hautengen Bodies bekleidet. Man ist dabei ein wenig an die
amerikanische Baywatch-Serie aus den frühen
1990ern erinnert. Bei den Männern leider ein wenig albern. Gemeint ist
allerdings das Häuten, das Schicht-für-Schicht-Ablegen der gesellschaftlichen
Zwänge und Heimlichkeiten und das Offenlegen des nackten Körpers, der nackten Gedanken.
Die Seele offenbart sich in Reinkultur.
Der Tanz allerdings bleibt extrem athletisch (viele der Tänzerinnen und Tänzer könnten aus der sportlichen Wettkampfszene wie Turnen, Wasserballett und Rhythmische Sportgymnastik stammen), verbunden mit Tai-Chi Chuan, Chi Gong, oder auch diversen asiatischen Kampfsportarten.
glue light blue: Ensemble Tänzer (Foto: Andreas Etter) |
Wenig Harmonie, viel Dynamik und
Intensität
Auch die Musik
bleibt orientalisch, mal als Solo-Gesang, oder als Kleingruppe, aber auch orchestral.
Hier seien vielleicht die Gruppen Nidaa Abou
Mrad und Nesra mit ihrer
klassischen arabischen Ensemble Musik, oder auch Charbel Rouhana aus Beirut zu nennen. Abwechslungsreich ist diese
Musik weniger in der Melodik oder instrumentalen Komplexität, sondern vielmehr
wegen ihrer variablen Rhythmik und folkloristisch-derben Eingängigkeit. Sie fordert
regelrecht eine Tanzweise heraus, die nicht auf Harmonie, sondern vielmehr auf
Dynamik und Intensität abzielt.
Auflösung und Besinnung
Eine quasi Coda führt wieder zurück in das ohrenbetäubende Rauschen des Anfangs. Jetzt allerdings fallen Wasserstrahlen aus den angehobenen Wänden, auch die Tänzer behalten ihre Minidresses. Zunächst bleibt man beim vulgären Volkstanz, reißt Grimassen, galoppiert und springt lustvoll über die Bühne mit einer Lautsprache zwischen tutu, dodo oder didi. Alles scheint in Auflösung begriffen, aber der Klang einer Mizmar ruft zur Besinnung auf. Alle verschwinden zur Seite (nicht im Minus). Der Solotanz einer Tänzerin wird durch das Herabfallen eines der Kalksteine, der beim Aufprall in viele Teile zerbricht, unterbrochen.
glue light blue: Ensemble (Foto: Andreas Etter) |
Ein work in progress
Das ist das
Ende der Vorstellung. Der Vorhang fällt, die Fragen der Verständigung, des Vertrauens
sowie der Kommunikation bleiben notwendigerweise offen.
Diese Performance, spannend, kurzweilig und von höchstem tänzerischem Anspruch, lebt von der Energie der Akteure (hier der 18 Tänzerinnen und Tänzer des Hessischen Staatsballetts), vom work in progress, vom Einfallsreichtum des israelischen Choreographen Nadav Zelner und seinen Freunden und Mitarbeitern Eran Atzmon (Bühne) und Maor Zabar (Kostüme) und, last but not least, von Marcel Hahn (Lichteffekte).
glue light blue: Ensemble beim Schlussapplaus im Staatstheater Darmstadt (Foto: H.boscaiolo) |
Ein kindliches Herz in einem Erdbeben
Vielleicht
lassen wir noch einmal Nadav Zelner zu
Wort kommen. Auf die Frage nach seiner ganz persönlichen Signatur, die er mit
dieser Performance verbindet, meint er: „Ich habe ein recht kindliches Herz …
Wir leben in einem Erdbeben. Das ist nicht negativ gemeint, nur die Beschreibung
einer Stimmung.“ Und genau das vermag dieses Tanzspektakel als theatralische Erzählung
einer Geschichte ohne Handlung und ohne wirkliches Ende sehr eindringlich zu
vermitteln. Weniger das Verständnis, sondern vielmehr das Chakra der
Kommunikation, des Bewusstseins der Pole, die Kombinationen von Abstoßung und
Anziehung kommen hier voll zum Tragen, mit einer zwar für unsere Ohren fremden,
dafür aber ungeheuer vitalen Musik. Glue light blue ist ein hellblauer Klebstoff,
den man mit nachhause nimmt.
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