Internationale Maifestspiele Wiesbaden, 01. Mai – 31. Mai 2024
Nederlands Dans Theater NDT 2 mit 27´52, Codes of Conduct und Bedtime Story, Staatstheater Wiesbaden, 23.05.2024
Drei Tanzperformances der Nachwuchsformation des NDT 2 (bis 23 Jahre), die unterschiedlicher kaum sein konnten, und doch einen runden, in sich logisch geschlossenen Sinn ergaben.
27´52 (Foto: Joris-Jan Bos) |
Ständige Unsicherheit
Gleich zu Beginn 27´52 (2002) vom fast schon legendären Choreographen und künstlerischen Leiter des Nederlands Dans Theaters, Jiři Kylián (*1947). Ein Ballett für drei Tanzpaare, irgendwie surrealistisch, ohne festen Boden, und doch ungeheuer fließend und dynamisch.
Drei Paare tanzen zur elektronischen Musik von Dirk Haubrich, die sich angeblich an der 10. Sinfonie, der unvollendeten von Gustav Mahler (1860-1911) orientiert, aber eher ihre Inspiration und Fragmentierung aufnimmt. Denn das Stück, es dauert ziemlich genau 27 Minuten und 52 Sekunden, lebt von der ständigen Unsicherheit. Selbst das Bühnenbild (Jiři Kylián) ist abstrakt, schlicht, und besteht lediglich aus zwei herabhängenden Leinwänden, die mitten drin abgeschnitten scheinen, und sich mal nach unten oder nach oben bewegen. Auch der Tanzboden ist beweglich, schlägt Wellen, und wird zum Unsicherheitsfaktor für die Tänzer.
27´52 (Foto: Joris-Jan Bos) |
Dynamisch – harmonisch
Die Soli und Pas de Deux bewegen sich zwischen Groteske und Pantomime, nie verkrampft, immer aber gelöst und extrem, ja extrem harmonisch. Die Körper scheinen ineinander zu zerfließen, voller Schönheit und Schlichtheit. Dynamische Eleganz beherrscht das Geschehen auf der Bühne, das mit einfallsreichen Lichteffekten (Kees Tjebbes) und schlichten, farbenreichen Kostümen (Joke Visser) die Szenerie bereichert. Dazwischen Texteinlagen in unterschiedlichen Sprachen (französisch, arabisch, englisch und deutsch: "Darf ich sie fragen, wer sie sind? Was sie sehen ist ein Mensch"), die allerdings in Krebsform wiederholt werden.
27´52 (Foto: Joris-Jan Bos) |
Illusion der Realität
Kylián spricht vom einzig Verlässlichen in dieser Performance: das sei die Unsicherheit. Und tatsächlich schlagen die Tanzteppiche Wellen und scheinen die Akteure zu verschlingen. Sie vergraben sie sogar unter sich. Zum Abschluss fällt das gesamte Bühnenrepertoire förmlich vom Himmel, so als ob das Chaos Einzug halten will. Aber das ist es nicht. Es ist die Illusion der Realität, die Illusion der Schönheit und Eleganz des Tanzes, den Kylián mit den wunderbaren Nachwuchstänzerinnen und Tänzern perfekt demonstriert und gleichzeitig die stetige Entwicklung, das Vergehen und Entstehen, choreographisch versinnbildlicht hat.
27´52 (Foto: H.boscaiolo) |
Work in progress
Die zweite Choreographie stammt vom noch jungen US-Amerikaner Jermaine Spivey (Alter unbekannt) mit dem etwas verwirrenden Titel Codes of Conduct (zu deutsch: Verhaltenskodex). Es ist die 2023 erweiterte Version der bereits 2022 uraufgeführten ersten, und macht bereits ihr Standing als work in progress deutlich.
Codes of Conduct (Foto: Rahi Rezvani) |
Atomisiert und zusammenhanglos
Zehn Tänzer des Nachwuchsensembles (fünf Frauen und fünf Männer) stehen zunächst in Reih und Glied mit dem Rücken zum Publikum am vorderen Rand der Bühne und tasten sich Schritt für Schritt auf eine beleuchtete Rahmenwand im Hintergrund zu.
Die Musik vom Choreographen selbst erstellt, besteht aus einem elektronisch verzerrten Gesang, der arhythmisch und disharmonisch die tastenden Bewegungen der Tänzer begleitet. Alles scheint atomisiert und zusammenhanglos. Mal tanzen alle, mal in Fünfergruppen, zunächst aber nicht in Paaren und solistisch. Dennoch sind die Bewegungen der einzelnen Akteure harmonisch abgestimmt und von außerordentlicher Variabilität. Die Bühne verändert sich.
Codes of Conduct (Foto: Rahi Rezvani) |
„Try domestic work“
Der Background der Bühne wird zur metallenen Fläche, das Licht (Yuka Hisamatsu) erhält eine Rot-ton Färbung, sodass die Bühne und die Kostüme (alles von Jermaine Spivey kreiert) insgesamt bunter erscheinen. Auch die Musik bewegt sich zurück wie ein Krebs, und sucht ihren Ursprung, kurz sie wird melodischer und rhythmischer.
In einer langen Passage singt es aus dem Off: Try domestic work (frei interpretiert: versuche dich anzupassen?!). Dreißig oder vierzig Mal? Ein Wandel vollzieht sich. Die Bewegungen bekommen Synchronizität, die Musik pochenden Charakter, ergänzt durch sirenenhafte, flächige Einspielungen. Ein Tänzer und eine Tänzerin treten solistisch auf und werden von den Übrigen mal in wilder, mal in ruhiger Manier unterstützt.
Codes of Conduct (Foto: H.boscaiolo) |
Zwischen Allein-Sein und Gemein-Sein
Verhaltensregeln halten Gesellschaften zusammen und bilden quasi das Schmierfett gemeinsamen Handelns. Spivey spricht von „physischen Erfahrungen“ und von „Zuständen zwischen Nichts und Etwas“. Ein philosophischer Bezug zwischen Sein und Nichts? Wohl eher einer zwischen dem Nichts des Allein-Seins und dem Etwas des Gemein-Seins. Nicht immer konnte man seiner Logik folgen. Dennoch scheint sein Ansinnen düster und wenig positiv. Zum Schluss liegen alle auf dem Rücken, robben zum Ausgang der Bühne während sich von oben die Leinwand senkt und die Tänzer zu erdrücken droht. Tänzerisch auf höchstem Niveau, aber choreographisch wie auch sinngebend nicht immer nachvollziehbar.
Bedtime Story (Foto: Rahi Rezvani) |
Meister des choreographischen Entertainments
Das Abschlussstück vom bereits im Rhein Main Gebiet sattsam bekannten israelischen Choreographen Nadav Zelner (*1992) nannte sich Bedtime Story (2021) und gehörte zum Lebendigsten und Abwechslungsreichsten der Trias dieses Abends.
„Unschlagbar mitreißend“ nannte man diese Performance nach ihrer Uraufführung im Danstheater Amare von Den Haag. Und das genau charakterisiert diese Vorstellung bestens. Zelner ist ein Meister des Entertainments. Man spürt seine Film- und Musicalerfahrung. Seine Choreographien glänzen durch schnelle Schnitte, atemlose Abfolgen akrobatischer Partien, eklektische Zusammenstellungen diverser Tanzstile und dazu durch beste Werbung für die arabische und orientalische Musik, die, für Westeuropäer doch fremd, durch seine Performances ihre Vitalität und Vielfalt beweisen.
Bedtime Story (Foto: Rahi Rezvani) |
Geschichten aus Tausend-und-einer-Nacht
Er könnte sein gut 25-Minuten dauerndes Tanzspektakel auch Geschichten aus Tausend- und-eine-Nacht betiteln, denn es erzählt Träume, Geschichten aus einer Welt der Illusionen und konfrontiert sie mit der Realität des Erwachens, um sie gleich wieder in neue Traumwelten zu verzaubern. Ein Wechsel zwischen Wachsein und Traumbildern, kaleidoskopisch aneinandergereiht, mit immer wieder neuen musikalischen und tänzerischen Facetten versehen.
Bedtime Story (Foto: Rahi Rezvani) |
Unbezähmbarer Enthusiasmus
Ein unbezähmbarer Enthusiasmus auf der Bühne mit kurzen Soli und ständigen Rhythmuswechseln durch die Musik aus dem Libanon, aus Tunesien, Ägypten, dem Irak wie auch aus Syrien, mit entsprechender Instrumentation von Darbuka, Tomtom, Oud, Hackbrett, Kürbisvioline, Nay (Flöte) oder auch Rebab (Saiteninstrument). Hier allein von fünf Gruppen aus diesen Regionen mit acht unterschiedlichen Kompositionen.
Träume werden zur Realität
Bedtime Story lief wie ein Film ab, ohne Netz und doppelten Boden, jeder in seinem ganz privaten Outfit, vom Nachthemd bis zum Baby Doll (Kostüme: Maor Zabar). Zwischen Clownerie, Humor, Witz und Ernst, alles dabei. Eine Erzählung ohne Ende, aber immer voller Spannung und Lust auf die Fortsetzung. Wie halt eben im besagten Märchen. So auch das Finale. Mitten in den kindlichen Träumereien fällt der Vorhang. So ist halt eben Traum. Zelner hat mit Bedtime Story den Zuschauer und Zuhörer fast schon verführerisch davon überzeugt, seinen Träumen nachzueifern und zum realen Leben dazuzugesellen.
Bedtime Story (Foto: H.boscaiolo) |
Traum, Veränderung, Realität
Ein Tanzperformance-Abend, der, wie gesagt, kaum unterschiedlicher sein konnte, aber um so mehr das Gemeinsame von Traum, Veränderung und Realität quasi mimetisch auf der Bühne zur tänzerischen und performativen Nachahmung brachte. Tanz kann und darf auch philosophisch sein.
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