37. Rheingau Musik Festival vom 22.06. bis zum 07.09.2024
2. Eröffnungskonzert des RMF mit dem hr-Sinfonieorchester (Leitung: Alain Altinoglu) und Bruce Liu (Klavier), Friedrich-von-Thiersch-Saal, Wiesbaden, 23.06.2024
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Bruce Liu und das hr-Sinfonieorchester (Foto: Ansgar Klostermann) |
Musik von großer Erhabenheit
Eine Eröffnungsfeier eines Sommers voller Musik von großer Erhabenheit im besten Sinne. Zwischen tiefer Melancholie und höchster Freude, zwischen „Wehsein und Frohsein, Schauer und Entzücken“, um es nach den Worten Friedrich Schillers zu beschreiben.
Ein zum Bersten voller Kursaal bei schwülem, gewittrigem Wetter und vor allem während der Fußball Europameisterschaft, in der Deutschland endlich wieder ein Wörtchen mitzureden hat. Was will man mehr. Dazu das Fünfte Klavierkonzert Es-Dur op. 73 (1808/09) von Ludwig van Beethoven (1770-1827) und das nationale Bekenntnis Bedřich Smetanas (1824-1884) mit Mein Vaterland (tschechisch: Má Vlast), das er zwischen 1874 und 1879 schrieb und in sechs wunderbare Dichtungen aufteilte.
The Elder Statesman, Intendant und Geschäftsführer, Michael Herrmann, eröffnete mit wenigen Worten die Festival Saison, hob dabei die gute Auslastung der insgesamt 155 Veranstaltungen hervor und bedankte sich für die mediale und finanzielle Unterstützung des Mammutprojekts.
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Bruce Liu und das hr-Sinfonieorchester (Foto: Ansgar Klostermann) |
Eine Komposition, die die Musikwelt revolutionierte
Dann der erste Höhepunkt. Bruce Liu (*1997) mit der Interpretation des sattsam bekannten und immer noch ungeheuer mitreißenden Es-Dur Klavierkonzerts, dessen Uraufführung wegen der Besetzung Wiens erst am 13. Januar 1811, halböffentlich im Wiener Palais des Fürsten Joseph Lobkowitz (1772-1816) mit dem Erzherzog Rudolph (1788-1831) am Piano, stattfinden konnte. Mit großem Erfolg wie man weiß. Danach machte diese Komposition ihre Runde im deutschsprachigen Gebiet und reichte sogar bis nach England.
Heroischer Gestus und romantischer Tiefsinn
Bruce Liu, sportlich in dunklem Zwirn, begann gleich mit einer virtuosen Solokadenz, spannungsgeladen und voller Empathie, ehe das hr-Sinfonieorchester in mittelgroßer Besetzung unter der musikalischen Leitung von Alain Altinoglu schwungvoll mit dem Hauptthema einsetzte. Leider, das muss hier vermerkt werden, wurde die erste Passage durch ständiges, sehr lautes Piepsen eines Hörgeräts aufs heftigste gestört, was sich dann mit Unterbrechungen durch den gesamten Kopfsatz des Allegro fortsetzte. Dennoch.
Bruce Liu und das Orchester ließen sich davon nicht ablenken und das strahlende Es-Dur auch durch die Modulationen der Durchführung, mit heroischem Gestus und romantischem Tiefsinn, in sinfonischer Fülle zur Geltung kommen. Bruce Liu, der Vergleich mit dem legendären Karatekämpfer Bruce Lee sei immer noch angebracht, bearbeitet die Tastatur des Flügels mit sportlicher Brillanz und Akkuratesse. Sein Dialog mit dem Orchester ist immer auf ebenbürtiger Höhe und selbst das dreifach-forte am Schluss des ersten Satzes lässt ihn nie hinter dem gewaltigen Orchesterklang verschwinden.
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Bruce Liu, Alain Altinoglu und das hr-Sinfonieorchester (Foto: Ansgar Klostermann) |
Ergreifend sensibel
Er ist der Herr der Situation und bestimmt den Fortgang. Er kann aber auch ergreifend sensibel und entrückt, was er im relativ kurzen Adagio unter Beweis stellt. Eine nahezu religiöse Thematik, einem Choral ähnlich, führt durch diesen Satz. Ein hinreißendes Grave mit simpler Dreiklangbegleitung (Alberti-Bässe). Alles reduziert, einfach klassisch, ohne Pathos, aber mit viel Seele. Es endet reduktionistisch in einem Morendo, ehe es attacca in das Schlussrondo überleitet.
Verwirrendes Tonartenspiel
Ein Rondo von besonderer Bedeutung. Rasend schnell und im Fortissimo vom Pianisten im heroischen Es-Dur eingeleitet, wird es vom Orchester aufgenommen und fortgesponnen. Ist es überhaupt ein Rondo, oder eher ein Sonatensatz? Die Frage lässt sich nicht einfach beantworten, obwohl Beethoven in einer Art Durchführung wieder einmal sämtliche näheren und entfernteren Tonarten ausprobiert, wobei sich selbst der Solist einige Male verhaspelt. Ist es C-Dur, As-Dur oder E-Dur? Das war nicht immer klar auszumachen, und Bruce Liu musste doch einige Male schnell umschalten, um die Tonart des Orchesters wiederzufinden. Auch der Dirigent, Alain Altinoglu, souverän, wie er seinen Klangkörper beherrscht, ließ es sich nicht anmerken, sondern nahm das Orchester ein wenig in Lautstärke und Expressivität zurück. Alles gut.
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Bruce Liu (Foto: Yanzhang HP-) |
Ein Meister der Improvisation
Denn Liu ist ein Meister der Improvisation, was er denn auch abschließend in seiner Zugabe bestens zur Schau stellte. Das Klavierkonzert litt zwar ein wenig durch äußere und innere Umstände, war aber trotzdem ein Hörgenuss. Denn sowohl der Pianist, als auch das Orchester harmonierten prächtig und setzten mit dieser Interpretation ein zeitgemäßes Ausrufezeichen für dieses in einer unruhigen Zeit geschriebenen Werks - Beethoven haderte mit Napoleon, sein Patriotismus bekam Risse, der heroische Gestus, das Emperor Concerto, schien sich selbst zu widerlegen -, das durchaus auch heute noch seine Aktualität besitzt. Dazu passt auch die Vermutung, dass der ergreifende Mittelsatz erst nach der Besetzung Wiens geschrieben wurde (siehe: Neue Beethoven Gesamtausgabe, Hans-Werner Küthen)
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vorne stehend am Flügel: Alain Altinoglu, Bruce Liu und das hr-Sinfonieorchester (Foto: H.boscaiolo) |
Eine außergewöhnliche „Elise“
Wie gesagt, Bruce Liu ließ sich noch zu einer Zugabe bewegen. Er spielte Beethovens Für Elise a-Moll op. 59 (1810), aber in der Bruce Liu-Version. Jazzig, witzig und unglaublich facettenreich. Alles Noten gerecht aber durch alle Tonarten und Swingformen gehend. Mal im Waltz, dann im Ragtime oder Boogie Woogie, dann wieder im bluesigen Bebop. Und das alles in einem synkopischen Groove, der die Herzen zum Tanzen brachte. Für Elise ist eigentlich das ausgelutscheste, wenn auch bekannteste und wohl auch meist gespielte Stück aus Beethovens Oeuvre. Aber wie es Bruce Liu kreierte, das war schon einmalig und lässt viel Außergewöhnliches für seine weiteren vier Auftritte als Fokus-Gast des diesjährigen RMF erwarten.
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hr-Sinfonieorchester mit Alain Altinoglu (musikalischer Leiter) Foto: Ansgar Klostermann |
Zwischen Mythen, Sagen und Geschichten
Zum Beethovenschen Patriotismus passte auch perfekt Bedřich Smetanas Má Vlast (zu deutsch: Mein Vaterland), das er zwischen 1874 und 1879 komponierte und das seinen Widerstand gegen die k.u.k. Habsburger-Monarchie (Böhmen war Teil des Vielvölkerstaates) zum Ausdruck brachte, aber vor allem auch seine Liebe zu seiner Heimat Böhmen, musikalisch wie auch programmatisch beweisen sollte. Ein nationales Fest der Glorifikation und Selbstbestimmung sollte es werden, in dem Prag den Mittelpunkt des Geschehens darstellte. In sechs Erzählungen, die sich stark an Franz Liszts sinfonischen Dichtungen orientierten, verarbeitete Smetana nationale Mythen, nationale Geschichte, Schönheiten der Natur, das Volksleben sowie ein hymnisches Glaubensbekenntnis zur tschechischen Nation (sechster Zyklus: Blanik).
Nur vier der sechs Tondichtungen
Leider werden lediglich vier der sechs Teile aufgeführt. Warum? Die Frage muss offen bleiben. Tatsächlich sind die beiden historischen Schlussteile (Tábor und Blanik) erst sehr spät veröffentlicht worden (1882) und zur Uraufführung gelangt, wohingegen die Tetralogie bereits 1877 bzw. 1778 uraufgeführt werden konnte. Der Rezensent wartet weiter auf die Gesamtaufführung von Má Vlast mit Tábor (die Gründerstadt der Hussiten) und Blanik (der heilige Berg der Ritter).
Das Herzstück des Zyklus´
Der Zyklus beginnt mit Vyšehrad, eine legendäre tschechische Festungsruine, Stammsitz der ersten böhmischen Herrscher im heutigen Prag. Es herrscht der Tonfall eines erzählenden Barden vor, von zwei Harfen dominiert. Sukzessive bekommt das Orchester (jetzt verstärkt durch vier Perkussionisten mit Triangel, Becken, Trommel, Pauken, und doppelt besetzten Blech- und Holz-Bläsern) die Oberhand. Ein Wechsel zwischen gewaltigem Kampf und volkstümlich friedlicher Stimmung wird kontrapunktisch bis an die Grenzen den Möglichen ausgereizt. Vyšehrad ist das Herzstück des Zyklus, dessen eingängige Themen immer wieder in den weiteren Erzählungen anklingen.
Das Tongemälde
Es folgt der wohl bekannteste Teil dieses Zyklus, Die Moldau (tschechisch: Vlatava). Sie gilt als tschechischer Fluss schlechthin. Ihre rondoartige Tonmalerei gilt als das Beste unter den sinfonischen Dichtungen überhaupt. Eine Beschreibung von der Quelle bis zur Mündung (hier die Prager Burg), eine Waldjagd, eine Bauernhochzeit, Stromschnellen und Gefahren, bis zum breiten Strömen des Flusses am Burgwall der Vyšehrad vorbei, ein Tongemälde, das durchaus an Landschaftsmaler wie Arnold Böcklin oder auch Caspar David Friedrich erinnert.
Hier glänzte das hr-Sinfonieorchester durch besondere Dynamik, stark am Wellengang des Flusses orientiert. Man fühlte sich mitunter wie auf einer schwimmenden Nussschale, ganz den unvorhersehbaren Kräften des Wasser ausgesetzt.
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hr-Sinfonieorchester (Foto: Website) |
Der Geschlechterkampf
Šárka stellt eine Amazone dar, die in einen Geschlechterkampf mit dem Ritter Ctirad verwickelt wird. Zunächst ist sie Siegerin, tötet die Gefolgschaft des Ritters und lässt ihn rädern. Der aber kann sich befreien und besiegt seine Widersacherin, die er bei lebendigem Leib begraben lässt. Eine blutrünstige Geschichte, die von Anfang an diesen Teil vor allem als Handlungsgeschehen ins Hintertreffen brachte. Šárka allerdings scheint unter den Tschechen eine beliebte Identitätsfigur zu sein. Ein gewichtiges Denkmal von ihr steht zumindest in Prag und verkörpert ihre Schönheit und die Tapferkeit des Ritters Ctirad.
Musikalisch allerdings ist dieser Mythos von außerordentlicher Exzeptionalität. Ein dramaturgisches Kampfspiel zwischen Mann und Frau, zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit. Kampfgetümmel und Liebesfest. Martialischer Marsch und leichtfüßige Polka. Alles drin und das mit Schmackes. Ein großartiger Teil der Tetralogie.
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hr-Sinfonieorchester mit Alain Altinoglu (musikalischer Leiter) Foto: H.boscaiolo |
Romantisch – rauschhaft - patriotisch
Abschließend Aus Böhmens Hain und Flur (tschechisch: Z českých juhú a hájú). Ein Spaziergang durch Böhmens Felder und Wälder, romantisch, rauschhaft. Dazwischen ein Choral der historischen Hussiten: „Die ihr Gottes Streiter seid“, ein Hommage an die wallfahrenden Taboriten des 15. Jahrhunderts, in Erinnerung an den Reformator Jan Hus, der auf dem Konstanzer Konzil 1415 als Ketzer verbrannt wurde.
Über einem ausladenden Fugato durch alle Instrumentengruppen, baut sich eine herrliche Volksweise auf, die sich immer mehr zu einem aufrichtigen Gebet auftürmt. Derb und lustig wird es, bis zu einer fröhlichen Polka. Der Schluss erinnert wieder an Vyšehrad, den Mythos der tschechischen Seele überhaupt. Ein Abschluss, der besser nicht sein konnte und an eine Rezension bei seiner Uraufführung erinnert: „Das Werk eines wahren Dichters und zudem so rein patriotisch! Jedes Thema ist von so entschieden tschechischem Charakter, dass es uns vorkommt, als würden wir uns in jedem wie in einem Volkslied betrachten.“ (Gerhard Anders, 2021) So ist es!
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hr-Sinfonieorchester mit Alain Altinoglu (musikalischer Leiter) Foto: H.boscaiolo |
Leider keine Zugabe, trotz überschwänglichem Beifall. Wohl dem Fußballspiel Deutschland vs. Schweiz geschuldet, dass Jung und Alt mit dem Schlussakkord aus der Halle trieb. Ja, wenn die nationale Identität ruft. Das gilt wohl auch für das 21. Jahrhundert. Ein Auftakt nach Maß - des Sommers.
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