La Juive, eine Grand Opéra in fünf Akten von Fromantal Halévy (1799-1862), Libretto Eugène Scribe und Léon Halévy, Premiere und Frankfurter Neuinszenierung, 16.06.2024
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La Juive, Ensemble (alle Fotos: Monika Rittershaus) |
Ein heikles religionspolitisches Thema
La Juive, auf deutsch: Die Jüdin, eine Grand Opéra von Fromantal Halévy (1799-1864), die 1835 in der Pariser Opera Le Peletier uraufgeführt und gleich mehr als 500 weitere Aufführungen erlebte, gehört bis heute zu den erfolgreichsten Opern überhaupt, obwohl sie ein heikles religionspolitisches Thema anspricht, das immer noch die Gemüter erregt. Einerseits verständlich, denn Opern bestehen nun mal aus Liebe, Drama und Wahnsinn, was dieses gut vierstündige Opus in Gänze erfüllt. Andererseits steht sie in der Reihe der politischen Sujets, was sie auch so fragil gegenüber bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen macht. So wird sie während der nationalsozialistischen und faschistischen Epoche zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahezu vollständig aus den Programmen der Opernhäuser gestrichen und findet erst wieder Berücksichtigung in den 1990er Jahre.
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John Osborn (Éléazar; links in dunklem Anzug) und Ensemble |
Wilder Hass und innigste Liebe
Eine Oper also nach allen Regeln der dramatischen Opernkunst geschrieben, mit einem Libretto von Eugène Scribe (1791-1861) in Ergänzung von Halévys Bruder Léon (1802-1883), worin sich Schrecken auf Schrecken häufen, wilder Hass und innigste Liebe aufeinander treffen, maßlose Leidenschaften die handelnden Personen in Verzweiflung und Tod stürzen.
Zwischen Abgrund und Vollkommenheit
Schauplatz ist die Stadt Konstanz zur Zeit der Hussitenkriege und des Reichskonzils in den Jahren 1414 bis 1418. Ein Drama mittelalterlichen Religionshasses zwischen Christen und Juden, in Zeiten des päpstlichen Schismas und der Herrschaft Kaiser Sigismunds, in dem fünf Personen eine entscheidende menschliche wie charakterliche Rolle spielen. Es sind allen voran Éléazar, ein reicher jüdischer Juwelier, seine Ziehtochter Rachel (er hat sie, die Tochter des Kardinals Brogni, einstmals aus dem brennenden Feuer gerettet und aufgezogen), Léopold, alias Samuel, ein christlicher Reichsfürst, verlobt mit der Kaisernichte Eudoxie und, als Samuel verliebt in Rachel, und last but not least Kardinal Brogni, wie gesagt unwissender leiblicher Vater von Rachel und ehemals als Magistratsmitglied verantwortlich für den Tod der beiden Söhne Éléazars, der wiederum unversöhnlich, Rache geschworen hat.
Der Vollständigkeit halber zu nennen wären noch der christliche Bürgermeister von Konstanz Ruggiero (Sebastian Geyer, Bariton) und der Leibwächter Albert (Danylo Matviienko, Bariton)
Fünf Charaktere von außergewöhnlicher Prägnanz und hervorragender Nachvollziehbarkeit für das Publikum, denn in jeder Person steckt ein Stück Mensch(lichkeit) zwischen Abgrund und höchster Vollkommenheit.
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Ambur Braid (Rachel; vorne in der Bildmitte) und Ensemble |
Ressentiments - Massenpsychologie
Das Regieteam um Tatjana Gürbaca (Inszenierung), Klaus Grünberg (Bühne, Licht, Animation), Silke Willrett (Kostüme) sowie Nadja Krüger (Video) und Maximilian Enderle (Dramaturgie) versucht das Werk in die heutige Zeit zu übersetzen, hebt vor allem den zurzeit vorherrschenden Antisemitismus hervor und lässt die komplizierten Ereignisse und Szenen vor dem Hintergrund von Ressentiments, massenpsychologischen Erklärungsmustern (das Volk sucht innere Einigung durch Abgrenzung gegen Andersdenkende) ablaufen, und das Libretto durch ein besonderes Finale von der ursprünglichen Fassung abweichen.
"Turm zu Babel"
Das wird auch deutlich durch das Bühnenbild, einem verwirrend-komischen Turm zu Babel ähnlich, in dem alles öffentlich stattfindet und kein Platz bleibt für Intimitäten, aus denen das Stück ja hauptsächlich besteht. Dann die Kostüme. Die wechseln vom sehr bunten Renaissancestil bis zur heutigen Mode, rosa-pink bis zu minimalistisch. Alles vorhanden. Sehr interessant der Kleiderwechsel Rachels von einer einfachen Tracht ihrer Zeit in eine schrille Prostituiertenkluft (verkauft sie tatsächlich ihren Körper?) und den von Éléazar, von einem ehrenwerten grauen Anzug in einen Narrenwams mit Judenmütze während seines Kerkerdaseins.
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v. l.: Ambur Braid (Rachel) und Monika Buczkowska (Eudoxie) sowie Ensemble |
Die Protagonisten:
Provokant, humorvoll, unbeugsam
Dazu wechseln wir zu den Protagonisten. Allen voran Éléazar, hier gesungen und gespielt von John Osborn (Tenor). Er ist neben Rachel das eigentliche Kernstück dieser Oper. Provokant, humorvoll und liberal. Er kann verzeihen, ist äußerst liebevoll zu seiner Ziehtochter, deren Vater er kennt, aber zugleich auch von tiefstem Hass und großer Ablehnung gegenüber dem christlichen Glauben geprägt. Sein Weg ist gradlinig, unbeugsam und sprunghaft zugleich.
Osborn, ein heller nahezu lyrischer Tenor versteht es blendend, die Widersprüchlichkeit und gleichzeitige Standhaftigkeit dieser Person darzustellen. Éléazar alias John Osborn brilliert vor allem in seiner letzten Arie, 5. Akt: „Rachel, als ein gütiger Gott dein Schicksal in meine helfende Hand legte …“ und erhielt dafür zu Recht langanhaltenden Beifall.
Frei, emanzipiert, sympathisch
Dann Rachel, gesungen und gespielt von Ambur Braid (Sopran). Sie wirkt in dieser archaischen Gesellschaft frei, man könnte auch von emanzipiert sprechen. Allerdings handelt sie durchweg äußerst emotional und stolz. Ebenfalls scheint sie den Humor ihres Ziehvaters mitbekommen zu haben. Ambur Braid sang ihre Arien, Duette und Trios hinreißend mit unglaublich kraftvoller Stimme und sehr klaren Höhen. Ihr Temperament machte sie zu einer wirklich sympathischen Heldin.
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vorne Ambur Braid (Rachel; in roter Felljacke), rechts daneben Gerard Schneider (Léopold) sowie Ensemble |
Selbstsicher, arrogant, moralisch unsicher
Léopold alias Samuel, gesungen und gespielt von Gerard Schneider (Tenor), glänzte durch Selbstsicherheit und Arroganz. Immerhin besiegte er die Hussiten und hatte alle Welt der Mächtigen offen. Sein Wort ist Gesetz. Gleichzeitig betrügt er seine Verlobte Eudoxie und weist sich gegenüber Rachel als Jude aus, um ihre Zuneigung zu bekommen. Beides ein verständliches aber letztendlich verlogenes Verhalten, was ihn an den Rand der Exekution (Rachel bezichtigt ihn öffentlich des sexuellen Übergriffs, was für beide nach dem damaligen Gesetz den Tod bedeutet), und sein Verhältnis zu beiden Frauen (er hat mit Eudoxie vermutlich zwei Kinder) letztlich zerstört.
Sein Tenor grenzte ans heldenhafte und machte seinem Namen alle Ehre. Auch er litt moralische Not, denn wohin auch seine Liebe fällt, immer fühlt sich einer vernachlässigt oder gar betrogen.
Wunderbar vor diesem Hintergrund seine Duette mit Rachel im ersten Akt und mit Eudoxie zu Beginn des dritten Aktes. Hervorzuheben sei an dieser Stelle noch das witzige und hintergründige Video im dritten Akt. Léopold, äußerlich zwischen Napoleon und Putin, kämpft im Stile eines Buster Keaton gegen Türken, Hussiten, Mongolen und weiß Gott nicht wen noch (alles Scherenschnittfiguren). Dann fällt er in die Arme des Zauberers Éléazar und der Teufelin Rachel. Des Kaisers Lehnsherr Friedrich von Hohenzollern (noch ein Kind) schaukelt auf einem Holzpferd und Léopold posiert mit freiem, tätowierten Oberkörper in Siegerpose vor dem Publikum.
Sehr belebend und lebendig mit einem Schuss Ironie sollte es den freien Fall des Reichsfürsten einleiten. Sein bekanntgewordenes sexuelles Verhältnis zu einer Jüdin zieht den Bann und das Todesurteil nach sich.
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v. l.: Simon Lim (Kardinal Brogni) und John Osborn (Éléazar) |
Exaltiert, moralisch doppelbödig, überzeugend
Eudoxie, gesungen und gespielt von Monika Buczkowska (Koloratursopran) kommt eigentlich sehr exaltiert daher, strahlt eine ungeheure Selbstsicherheit aus und spielt ein wenig die Rolle einer Influenzerin, die sich und ihre Produkte anpreist. Ob sie bereits Ehefrau oder lediglich Verlobte von Léopold ist, bleibt unklar. Tatsächlich aber kauft sie Schmuck von Éléazar für ihre geplante Hochzeitsfeier, die er bei der Zeremonie übergeben soll.
Diese Szene wird dann zum Schlüssel der Oper überhaupt. Rachel erkennt den Betrug Samuels, macht ihre Beziehung öffentlich, und erreicht somit den Todesstoß für ihren Geliebten. Das Ende des Trios naht. Bekanntlich erreicht Eudoxie noch die Rücknahme dieser Tatsache (Rachel rettet ihren Geliebten durch eine Lüge) und schlussendlich bleiben nur Éléazar und Rachel als Todeskandidaten zurück.
Monika Buczkowska gewann das Publikum durch ihren warmen, sehr klar artikulierten Koloratursopran. Ihre Ausstrahlung und Überzeugungskraft tat das Übrige. Eine Rolle, wie auf den Leib geschnitten. Ihre moralische Doppelbödigkeit und ihr gleichzeitiges Selbstbewusstsein, sowohl in der Behandlung von Rachel wie auch ihres Geliebten Léopold, war schon brillant und von großer Wirksamkeit.
Tragisch, Hilfe schreiend
Dann noch Kardinal Brogni, gespielt und gesungen von Simon Lim (Bass), ein Bass, der es in sich hatte. Guttural und in die Herzen schwingend. Eine Person, die sich vom Saulus zum Paulus wandelt. Er weiß von seinen Untaten gegenüber Éléazar. Entschuldigt sich, kniet in seiner gehobenen Funktion vor ihm, einem Juden nieder (1. Akt) und erhofft sich so Vergebung. Éléazar aber bleibt sich treu. Er sinnt auf Rache und die spielt er bis zum tragischen Finale aus. Er hat seine Tochter im jüdischen Glauben großgezogen, lässt ihn im Glauben an ihr Überleben, sagt aber nicht, wo sie ist.
Brogni ist die eigentlich tragische Figur dieser Oper. Einer, der als Christ an die Versöhnung glaubt, aber dessen Hilfeschrei nicht ge- bzw. erhört wird.
Ungebrochen schön und expressiv
Musik (Henrik Nánási) und Chor (Tilman Michael) sind wieder einmal von ungebrochener Schönheit und Expressivität. Halévy gehört in die Zeit Georges Bizets (er war sein Schwiegervater), Richard Wagners, Giacomo Meyerbeers, Luigi Cherubinis (sein Lehrer) sowie Jacques Offenbachs. Seine Art der Komposition enthält von allen etwas, sticht aber durch perfekte musikalische Effekte heraus, ist wirkungsvoll und unmittelbar auf die Handlung bezogen. Vielfarbig, stilistisch vielfältig und von einprägsamer Klangsprache.
Dazu der Chor, der dramaturgisch hochspannend, wieder einmal, opernüblich die Bösartigkeit und ungebändigte Emotionalität der Massen herausstreicht. Nicht zu vergessen allerdings die Volksfeststimmung im ersten Akt von wunderbarer operettenhafte Folklore, die allerdings dann doch unversehens in eine aggressive Stimmung umschlägt, musikalisch von scharfen Dissonanzen und durchdringenden unisono Passagen dominiert. Der Chor spielte wieder einmal göttlich und konnte auch im Pessachfest des zweiten Aktes, ein wenig an Klezmer und jüdischen Kantorengesang erinnernd, seine gesangliche und schauspielerische Vielfalt beweisen.
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Ensemble, Schlussszene |
Ein eigenwilliges Finale
Die Grand Opéra endet nicht, wie im Libretto vorgesehen, mit dem Tod der beiden Juden. Hier hat sich die Regie ein eigenwilliges Finale ausgedacht. Statt Tod und Teufel (beide sollen eigentlich gekocht werden) ein prophetisch düsteres Untergangsszenario. Rachel fällt vom Dach der Bühne, die sich tief-rot gefärbt hat, kopfüber, wie ein gefallener Engel herab, während Éléazar auf sie zeigt: Ein Mahner an das Volk. Passt auf, was ihr tut!
Keine Versöhnung, kein humaner Geist, kein versöhnlicher Hinweis an Kardinal Brogni, wer Rachel ist, sondern lediglich Mahnung und dystopische Prophezeiung. Feiert das Alte Testament fröhliche Urständ? Kommen die prophetischen Apokalyptiker der archaischen Vergangenheit wieder aus ihren Gräbern gekrochen?
„Wer tötet, tötet sich selbst“
Die Regisseurin meint als Botschaft, dass Gesellschaften die töten, sich letztendlich selbst töten. Ein weiser und dennoch nichtssagender Satz, denn alle Staaten und Gesellschaften dieser Welt töten seit ihres Bestehens. Die Welt hat sich aus diesen Kämpfen geformt, mal besser mal schlechter. Die Geschichte spricht da eine leider radikale Sprache.
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Ensemble, Schlussapplaus vorne v. l.: Danylo Matviienko, Simon Lim, Gerard Schneider, Henrik Nánási, Ambur Braid, John Osborn, Monika Buczkowska |
Der Mensch ist unvollkommen
Besser wäre es vielleicht, den Kern dieser Oper herauszustreichen, der lediglich besagt, dass der Mensch als Individuum absolut unvollkommen, seinen Wünschen und Trieben unterworfen ist, Rache, Betrug, Eitelkeit und Ressentiments einen Jeden betrifft, und vor allem in der Masse diese Untugenden in krasser und brutaler Form ans Tageslicht treten. Diese Oper treibt dies unbestritten auf die Spitze und gerade deshalb ist sie so spannend und beliebt und möglicherweise auch so lehrreich, damals wie heute.
Egal ob Judentum gegen Christentum (heute eigentlich eher Judentum gegen Islam), oder Pandemie contra Plandemie, Ukraine/USA/EU contra Russland, Klimaapokalypse contra kritische Wissenschaft oder gar grenzenlose Migration contra kontrollierte "unsägliche" Remigration. Immer gibt es Mächtige und Ohnmächtige, Herren und Sklaven (Nietzsche/Foucault).
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Ensemble, Schlussapplaus vorne v. l.: Simon Lim, Gerard Schneider, Henrik Nánási, Ambur Braid, John Osborn, Monika Buczkowska, Sebastian Geyer |
Sapere aude
Denn, wie sagte schon Immanuel Kant vor 200 Jahren: Sapere aude, bediene dich deines Verstandes, und handele so, als ob dein Tun allgemeines Gesetz sei. Ebenfalls ein idealistisches Ansinnen, aber für ein Opernsujet allemal und für immer bestens geeignet, was die fünf außergewöhnlichen Personen in dieser höchst brisanten sozial aufgeputschten Lage im Konstanz der Renaissance eindrucksvoll beweisen.
Die Premiere erntete zwar Buhrufe gegen die Regie, aber Sänger und Orchester wurden frenetisch gefeiert und das zu Recht. Ein Besuch dieser Opernproduktion lohnt auf alle Fälle. Sänger und Musik sind absolut sehens- und hörenswert
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