Samstag, 15. Juni 2024

hr-Sinfonieorchester unter der Leitung Alain Altinoglu mit den Sängern Clay Hilley (Tenor) sowie Samuel Hasselhorn (Bariton), Alte Oper Frankfurt, 14.06.2024 (Schlussveranstaltung von Nature & Earth der Stadt Frankfurt)

hr-Sinfonieorchester (Foto: Website)

Grandiose Kompositionen

Mit Metacosmos (2017) von der isländischen Komponistin Anna Thorvaldsdottir (*1977) und dem Lied von der Erde (1907/08) von Gustav Mahler (1860-1911) verabschiedete sich das hr-Sinfonieorchester unter seinem Chefdirigenten Alain Altinoglu (* 1975) mit grandiosen Kompositionen und ebensolcher Interpretation vor vollem Hause der Alten Oper Frankfurt aus dieser so erfolgreichen Saison 2023/24.


Fragwürdige Programmeinführung

Der Rahmen Nature & Earth passte zumindest zur Thematik, wenngleich der angebliche Schutz der Erde vor Klimavergiftung und die Weltuntergangsangst in beiden Werken keinerlei Rolle spielt, in der Vorbesprechung aber in kaum angemessener Weise von Christiane Hillebrand (hr-Moderatorin) und dem Vorstandsmitglied von BUND Hessen, Dr. Werner Neumann, mit erhobenem Zeigefinger herausgehoben wurde. Leider unpassend und dem wohlverdienten Abschied von Solobratschist Gerd Grötzschel (ebenfalls Teilnehmer der Runde) in den Ruhestand nicht unbedingt förderlich (Dazu unten) Eine wirkliche sinngebende Einführung in das musikalische Programm – leider Fehlanzeige.


hr-Sinfonieorchester (Foto: Website)

An einen anderen Ort gelangen

Dennoch ein denkwürdiger Höhepunkt in dieser Spielzeit. Gleich zu Beginn Metacosmos von Anna Thorvaldsdottir. Sie selbst kommentiert dieses einsätzige kaum 14 minütige zweite Monumentalwerk für sehr großes Orchester (mehr als 100 Instrumentalisten) mit den Worten: „Der Titel bezieht sich auf den Gedanken, in ein schwarzes Loch zu fallen, auf diese andere Seite zu gelangen und an einem Ort anzukommen, den man nicht kennt und über den man keine Kontrolle hat.“ Ein markiger Satz, den die Komponistin allerdings blendend versteht, in musikalische Sprache zu übersetzen.

So beginnt es düster und fast drohend mit zwei Tuben, Becken und großer Trommel, geräuschvoll mit klappernden Einschüben der Streicher und pulsierenden Tontrauben der Holz- und Blechbläser. Langsam aber erhellt sich diese Atmosphäre und gleitet in ein diatonisch-ausgebreitetes Teppichmosaik über. Lautstark und einem Übergang in eine andere Welt ähnlich.

Tuben, Posaunen, Becken und Trommeln dominieren zwar, aber erste Motive der Flöten, Klarinetten und Oboen schaffen einen neuen Blick in das bildhafte Geschehen. Man fühlt sich in ein großes Gemälde versetzt, das man schrittweise, perspektivisch erobern muss. Das „Klima“, die Struktur verwandelt sich in rhythmische Vielfalt. Allein drei unterschiedliche Taktfolgen scheinen miteinander zu konkurrieren.


Alain Altinoglu (Foto: Ben Knabe)

Zwischen Chaos und Entropie

Alles changierend zwischen Chaos und Entropie, zwischen Schönheit und Auflösung. Ein Wechselspiel der Gefühlswelten aber auch der Sichtweisen. Mal scheint das Bild in seine Teile zu zerfallen, dann wieder wird es in seiner Ganzheit erkennbar. Man könnte geneigt sein, dieses Werk mit der Philosophie G. F. Hegels (1770-1831) in Verbindung zu bringen, die, auf der Suche nach dem absoluten Geist, sich dem Gottesbegriff annähert, indem der Mensch sich selbst über die Versöhnung mit der Natur findet: „Gott ist im Individuum … Aus dem Kelche dieses Geisterreiches schäumt ihm seine Unendlichkeit.“


hr-Sinfonieorchester (Foto: H.boscaiolo)


Die Suche nach dem Ganzen

Bei Thorvaldsdottir ist es der Kampf mit dem Unbekannten, mit den Teilelementen außerhalb des Ganzen, aber geprägt von der Absicht, das Ganze, das Absolute, die Schönheit schlechthin zu finden. Der Schluss, das Finale wird denn auch von einem neuen Motivstrang dominiert, der letztlich in versöhnlicher und erkenntnisreicher Absicht in einem hellen, dreigestrichenen Soloton der ersten Geige endet. Besser kann man dieses Werk wohl kaum ausdeuten. Das hr-Sinfonieorchester unter Alain Altinoglu bewies einmal mehr seine außergewöhnliche Affinität zu zeitgenössischen, tiefgründigen und technisch wie musikalisch schwierigsten Werken.


Samuel Hasselhorn (Foto: Nikolaj Lund)

Das Persönlichste des Komponisten

Dann der eigentliche Höhepunkt des Abends: Das Lied von der Erde, dem wohl persönlichsten Werk Gustav Mahlers. Nicht allein, weil es in einer Zeit seiner größten Krise entstanden ist (seine Tochter Maria Anna stirbt mit gerade einmal 4 Jahren, gleichzeitig erfährt er seine tödlich Diagnose einer Herzinsuffizienz, die, wie er selbst an seinen Freund Bruno Walter schreibt, „seine ganze Lebensweise verändert“, und nicht zuletzt wird er von antisemitischen Angriffen überzogen). Panischer Schrecken, Einsamkeit und Todesbewusstsein haben ihn aus seinen gewohnte Bahnen geworfen. Mit einem Schlage fühlt er sich am Ende seines Lebens als Anfänger, „der wieder gehen und stehen lernen muss“.


Clay Hilley (Foto: Suzanne Vinnik)

Aus einer Krise geboren – Von bemerkenswerter Innovation

Andererseits ist es auch sein innovativstes, weil es gleich mit mehreren Konventionen bricht. Es steht zwischen Sinfonie und Liederzyklus, es stellt Form, Melodik, Harmonik und Satzart infrage und es durchbricht sowohl sinfonische Architekturen wie auch herkömmliche ein-, zwei- und dreiteilige Liedstrukturen. Er schreibt es für Tenor und Alt (bzw. Bariton). Nicht von ungefähr bezeichnete sein Freund Alexander von Zemlinsky (1871-1942) sie auch als „lyrische Sinfonie“.

Auch sein Umgang mit dem chinesischen Gedicht „Die Chinesische Flöte“ aus dem 8. – 9. Jahrhundert, übersetzt von Hans Bethge (1876-1946), ist frei und mit Ergänzungen, Auslassungen und Umstellungen versehen. Dennoch ist dessen Grundtenor von tiefer Melancholie, aber auch Sehnsucht und Erinnerung getragen.


v. l.: Samuel Hasselhorn (mit Blumen), Alain Altinoglu (Chefdirigent),
Clay Hilley (mit Blumen)
Foto: H.boscaiolo

Eine Stunde von größter Intensität

Mahler unterteilt es in 6 Gesänge, worin er Jugend, Einsamkeit, Schönheit, dionysische Ausgelassenheit und Abschied von dieser Welt beschreibt. Gesänge, die abwechselnd von dem amerikanischen Heldentenor, Clay Hilley (*1985) sowie dem eher lyrischen deutschen Bariton Samuel Hasselhorn (*1990) vorgestellt werden. Beide, das sei vorweggenommen machten ihrem Namen alle Ehre. Ihr Gesang war von bester Qualität und bei Clay Hilley sogar zusätzlich von schauspielerischen Einlagen bereichert.

Eine Stunde von größter Intensität, fast ohne Makel, wenn man die unangemessene Lautstärke des Orchesters beim einführenden „Trinklied vom Jammer der Erde“ ausnimmt, das der Heldentenor aber zumindest am Ende der Strophen: „Leert eure goldenen Becher zu Grund; Dunkel ist das Leben, ist der Tod“, glänzend übertönen konnte. Ein Heldentenor, zwischen Tristan, Parsifal und Siegfried.


Steigerung bis zur Apotheose

Stimmig blieb es bei allen weiteren Gesängen mit großartigen Zwischenspielen, Intermezzi, die die atmosphärischen Schwankungen zwischen Trauer, Trinkgelagen, Vogelgezwitscher in natürlicher Umgebung, Sehnsucht und Freude in bester Stimmlage und musikalischer Empathie wiedergaben. Sicher ist das sechste Lied zugleich die Apotheose dieser lyrischen Sinfonie.

Der Abschied“ von nahezu 20 Minuten Dauer bildete ein Hohelied auf die menschliche Seele des Komponisten höchstselbst ab: Träume, Angst vor dem Unbekannten, das Festhalten an den Schönheiten und das Abschied-Nehmen-Müssen davon; das Wandern in die Ungewissheit, in eine unbekannte Heimat, in die Ewigkeit, die wir nicht kennen, die uns möglicherweise Besseres bietet, aber wir wissen es nicht.

Samuel Hasselhorn (mit Blumen), Alain Altinoglu,
Clay Hilley
(mit Blumen und Rücken zum Publikum)
Foto: H.boscaiolo

Hohelied auf die Ewigkeit - Der absolute Geist

Hier schafft Mahler durch lange Bordune der Kontrabässe, vogelähnlichem Gezwitscher der Flöten, drohenden Klängen der Hörner, Tuben und Posaunen ein Klima von Sehnsucht, Hoffnung, Liebe, Glaube und Melancholie. Das Glockenspiel der Celesta, die weichen Arpeggien der Mandolinen lassen die Abschiedstrauer mit der Ewigkeit versöhnen. Fünfmal singt Samuel Hasselhorn „Ewig, Ewig … die liebe Erde all überall blüht auf im Lenz und grünt aufs neu!“ Ein Hohelied auf die Unendlichkeit. Hegels absoluter Geist hätte seine Freude daran gehabt.


Gerd Grötzschel, Abschied des Solo-Bratschisten vom hr-Sinfonieorchester
(Foto: H.boscaiolo)

Exzellentes musikalisches und persönliches Klima

Lang anhaltender Beifall für die exzellente, sehr reife und empathische Vorstellung (nach der Neuausgabe der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft 2024). Es folgte, und das war bemerkenswert, die offizielle Verabschiedung von Solo Bratschist Gerd Grötzschel. Es flossen Tränen der Rührung. Eine außergewöhnliche und sehr sympathische Form der Verabschiedung. Chapeau für das musikalische Klima des Orchesters, was Beispiel machen sollte.



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