Mittwoch, 10. Juli 2024

37. Rheingau Musik Festival vom 22.06 bis zum 07.09.2024

Bruce Liu, Klavierrezital auf Schloss Johannisberg, 09.07.2024

Bruce Liu (Foto: Ansgar Klostermann)

Superlative an Auswahl und Interpretation

Bruce Liu (*1997) steht im Focus des diesjährigen Rheingau Musik Festivals (RMF). Es ist sein dritter Auftritt von insgesamt fünf, allerdings sein einziger als Solist. Und der war eine Superlative an musikalischer Auswahl und Interpretation. Bruce Liu ist ein Phänomen an Vielfalt, Musikalität, Versiertheit und Variabilität.


Ein selten gespieltes Schmuckstück

Sein Programm begann mit Josef Haydns Klaviersonate Nr. 47 h-Moll Hob XVI:32. Es ist die letzte aus einer Reihe von sechs Sonaten, die der Komponist im Jahre 1776 schrieb. Ein selten gespieltes Schmuckstück, das in vielen Teilen an Domenico Scarlatti (1685-1757) erinnerte. Spritzig, launig, humorig. Sehr kurze drei Sätze (Allegro, Menuett und Finale Presto), die Bruce Liu leichtgängig, transparent, ohne viel Pedal, aber mit präziser Genauigkeit und, es versteht sich von selbst, mit bestem musikalischem Verständnis quasi auf der Tastatur des brillant gestimmte Steinflügels erzählte. Hervorzuheben sein Presto mit schnellsten Repetitionen und sinnlichen Oktavläufen, wie aus einem Guss und ohne jegliche Anstrengung.


Bruce Liu (Foto: H.boscaiolo)


Hut ab … ein Genie“

Es folgte von Frédéric Chopin (1810-1849) ein Frühwerk. Als 17-jähriger machte er sich an das schon damals allseits beliebte Arienthema Lá ci darem la mano (Reich mir die Hand mein Leben) aus Mozarts Don Giovanni. Eine Liebesschnulze zwischen Zerlina und Don Juan, die bei jedem Teenager extreme Gefühlswallungen hervorrufen musste. Chopin machte daraus fünf Variationen mit einer langen Introduktion (gut fünf Minuten von insgesamt 17) und einer tänzerischen Polka zum Abschluss. Sein op. 2 erhielt von Robert Schumann beste Auszeichnung: „Hut ab, ihr Herren, ein Genie!“, und das zu Recht.


Orchestral und faustisch

Bereits die Einleitung, die im Duktus an Chopins spätere Komposition der Grande Polonaise op.22 (1836), dem Andante spianato, erinnerte, gestaltete Liu großflächig, ja man möchte sagen orchestral. Dazu sollte man wissen, dass Chopin diese Variationen zunächst für Klavier und Orchester konzipierte, und im Laufe der Zeit auf die orchestrale Begleitung verzichtete. Solistisch führte er es erstmals 1829 im Wiener Theater am Kärtnertor auf, und das mit großem Erfolg. Tatsächlich ist es ein Meisterwerk der Virtuosität, der Figurationen und nicht zuletzt der Auslotung von technischen Grenzbereichen, die durchaus an den Faustischen Pakt mit dem musikalischen Teufel erinnern könnte. Sei´s drum.

Bruce Liu (Foto: Ansgar Klostermann)


Furios, exzessiv, aberwitzig

Liu spielte teuflisch schnelle Triolen in der ersten Variation, genannt, Brillante, sowie chromatische Läufe in der linken Hand mit marschähnlicher Melodik in der rechten in der zweiten, Veloce genannten Variation. Con Bravoura, die vierte Variation, bestand aus irrsinnigen Oktavsprüngen, synkopischen Rhythmus Verschiebungen und aberwitzigen pianistischen Patterns, bekannte Chopin-typische klaviertechnische Figuren. Es folgte ein Adagio, dämonisch, dunkel und spannungsgeladen, um dann in die abschließende Coda, genannt Alla Polacca, überzuleiten. Tänzerisch, furios, exzessiv. Ein fulminanter Ritt durch die polnische Landschaft zwischen Riesengebirge und Hohe Tatra, so wie Chopin sein verlassenes Heimatland in sich gespürt haben mag. Liu war Chopins bester Vertreter in dieser Sache.


Spätromantische Rhapsodie

Bruce Liu machte keine Pause. Gleich setzte er sein Rezital mit Alexander Skrjabins (1872-1915) Klaviersonate Nr. 4 Fis Dur op.30 (1903) fort. Auch hier ein selten gespieltes Stück von außerordentlicher Individualität. Skrjabin hält sich hier an ein spätromantisches französisches Gedicht zwischen Licht und Dunkel und macht daraus programmatisch ein zweisätziges Meisterwerk zwischen Sonatenhauptsatzform und eigenwilliger Rhapsodie. 

Es beginnt mit einem einleitenden Andante und wird ohne Übergang mit einem Prestissimo volante (einem fliegenden Prestissimo) fortgesetzt. Zunächst ziemlich impressionistisch und monothematisch geht es übergangslos in den Hauptsatz über, der sich nahezu frei tonal geriert.


Bruce Liu (Foto: H.boscaiolo)

Programmmusik für Klaviertasten

Skrjabin verlässt hier das angegeben Fis-Dur zugunsten einer Polytonalität, die zeitweise bis zur Atonalität ausufert. Alles changiert zwischen Hell und Dunkel, entsprechend dem abschließenden Wortlaut des Gedichts: „Flammende Sonne, Sonne des Triumphs . .. Ich sauge dich ein, Lichtmeer, du Licht meiner selbst. Ich verschlinge dich.“ 

Nur wenige Minuten dauert diese Programmmusik für Klaviertasten, aber sie hinterlässt vor allem durch das tiefe musikalische Eindringen des Pianisten in die Seele Skrjabins eine Nachdenklichkeit über Schönheit, Klarheit und Endlichkeit. Fantastisch.


Politisch konnotiert

Ähnliches sollte die Komposition von Sergej Prokofjews (1891-1953), seine Sonate Nr. 7 B-Dur op.83 (1941/43) bewirken. Man möchte fast von einer politisch konnotierten Sonate sprechen, ist sie doch in der kritischsten Phase des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf die UdSSR geschrieben und konzipiert worden. Sie ist die letzte von insgesamt drei Kriegssonaten, die Prokofjew 1939 mit der sechsten einleitete und mit der achten 1942 beendete.

Die Siebente der Reihe ist die denkwürdigste, denn sie beschreibt in eindringlicher Weise den Kriegszustand der Sowjetunion sowie des Stalinismus, die Gefahr der Eroberung Russlands durch die Operation Barbarossa der Nationalsozialisten, und die Hoffnung der Bevölkerung auf Frieden und Gerechtigkeit.


Filmmusik in eindrücklichen Bildern

Das dreiteilige Werk beginnt gleich mit einem Allegro inquieto, unruhig mit dauernden Schlägen auf die Tasten - im Kampfmodus und gespickt von Schlachtrufen und Pferdegetrappel. Vielleicht ein vorweggenommenes Stalingrad? Immerhin eine Filmmusik mit eindrücklichen Bildern.

Swjatoslaw Richter (1915-1997), einer der besten Pianisten seiner Zeit, gestaltete die Uraufführung der Sonate im Januar 1943 in Moskau und schreibt selbst dazu: „Die Zuhörer ließen besonders verständnisvoll den Geist des Werkes auf sich wirken … Ein stürmischer, attackierender Lauf voller Willen zum Sieg räumt alles auf seinem Weg beiseite, gewinnt an Gewalt in der Schlacht, erwächst zu gigantischer Kraft, lässt das Leben sich behaupten.“ Hier ist eigentlich schon alles gesagt.


Bruce Liu (Foto: H.boscaiolo) 

Espressivo der Seelenlage

Kommen wir aber noch zum Andante caloroso. Eine russische Melodie beherrscht diesen Abschnitt. Eine hinreißend schöne Canzone mit variativen Elementen. Eine Espressivo der Seelenlage der russischen Bevölkerung in einer Zeit der Gewalt, des Todes und der Ungewissheit. Ein Schrei nach Erlösung, ein tiefer trauernder Schmerz und die Hoffnung auf Beendigung des Krieges.

Prokofjew baut hier eine tickende Uhr in die Partitur ein und lässt sie von einem Dies irae Teil-Motiv überwölben. Unglaublich und von großer Einfühlsamkeit der pianistischen Interpretation geprägt.


Modern, frei, atonal

Der Schlusssatz, Precipitato genannt, was so viel bedeutet wie überstürzt, ist im eigentlichen Sinne eine Toccata im 7/8 Takt. Extrem expressiv und rhythmisch äußerst diffizil.

Es schlägt ostinat wie Schüsse aus einer Kanone - einer Stalinorgel ? - und scheint den endgültigen Sieg der roten Armee einleiten zu wollen. Hier verlässt Prokofjew endgültig den "sozialistischen Realismus", der Volkstümliches und Einfaches in der Musiksprache verlangte. Jetzt wird er nahezu modern, frei tonal, atonal, mitunter bruitistisch, geräuschhaft, perkussiv.


Weder angepasst noch traditionell

Ein Abschluss, der ins Mark geht und von Bruce Liu in einer Weise vorgetragen wird, was durchaus Parallelen zur gegenwärtigen Welt-Kriegslage herstellen lässt. Diese Musik, die die Kriegslage der Sowjetunion eindrücklich beschreibt, ist nicht umsonst mit Preisen ausgezeichnet worden. Versteht sie doch noch heute, die Seele der Menschen einzufangen. 

Gerade heute hat sie wieder an Aktualität gewonnen. Und sollte Theodor W. Adorno noch leben, er hätte dieses Werk in höchsten Tönen gelobt. Denn im eigentlichen Sinn stand Prokofjew bei ihm nicht in hohem Ansehen. Er glaubte ihn angepasst und traditionell.


Perspektivwechsel mit ungewöhnlichem Programm

Sicher war er Anhänger Stalins und des kommunistischen Systems, was aber nicht bedeutet, dass er nicht kritisch Stellung bezog und den vaterländischen Krieg gegen die Nazis mit einer sprechenden Musik, mit der er die Gemüter und geistige Verfassung der Menschen erreichte, zu bedienen. Man hat es ihm gedankt. Selbst der kongeniale Pianist und Komponist, Glenn Gould (1932-1982), beschreibt diese Sonate als seine „beste Musik“, was schon etwas heißen soll.

Bruce Liu überzeugte auf der ganzen Linie. Sein Spiel ist geprägt von einem Durchdenken der Partituren und vor allem von dem Versuch, die Perspektive des Komponisten zu verstehen. Das ist ihm ausgezeichnet gelungen.


Bruce Liu bei der Übergabe des RMF-Präsent (Foto: H.boscaiolo)

Lust und Genuss am Leben

Seine beiden Zugaben, einmal aus Johann Sebastian Bachs Partita Nr. 1, das Präludium und zum anderen die Etüde auf den schwarzen Tasten von Frédéric Chopin, brauchen keinen weiteren Kommentar. Er spielte sie einfach göttlich und mit größter Freude. Nach der schweren Kost von Prokofjew wie auch Skrjabin ein Abschied mit Lust und Genuss am Leben. Der Beifall war herzlich, aber nicht überschwänglich, was natürlich auch dem exklusiven, etwas ungewöhnlichen Programm zu verdanken ist.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen