Freitag, 23. August 2024

37. Rheingau Musik Festival vom 22.06 bis zum 07.09.2024

Tenebrae Choir, Leitung: Nigel Short, Kloster Eberbach, 22.08.2024


Tenebrae Choir, Mitte: Nigel Short
(Foto: Ansgar Klostermann)

Ein Kaleidoskop von Abschied und Gedenken

Der denkwürdige Abend in der vollbesetzten Basilika des Klosters Eberbach stand unter dem Motto „Prayer for Deliverance“ (frei übersetzt: Befreiungsgebet) und sollte sich thematisch an dreizehn Chorwerken vorwiegend britischer Kompositionen zwischen dem 19. und 21. Jahrhundert entlang bewegen. Tatsächlich eine Bewegung mit gesellschaftsrelevanten Themen, historischen Geschichten, ganz persönlichen Erlebnissen, Erinnerungen und Bewältigungsmechanismen. Kurz: Ein Kaleidoskop von Abschied und Gedenken, von Tod, Schmerz, Trennung und nicht zuletzt von Hoffnung und Trost.


Absolut Persönliches

Ein schwieriges Unterfangen, zweifellos, waren doch die Chorwerke ausnahmslos verknüpft mit ganz persönlichen Erlebnissen, wie zum Beispiel der Tod des neunjährigen Sohnes in Herbert Howells (1892-1983) Requiem (1932), oder die Auseinandersetzung von Sir Richard Rodney Bennett (1936-2012) mit Linda McCartneys Krebstod (die Frau des Beatle Sängers Paul McCartney), der er ein warmes, inniges Gebet: „Close now thine eyes und rest secure“ (schließe jetzt deine Augen und ruhe in Frieden) widmete. In diesem Sinne könnte die Reihe sowie die ganz persönlichen Bezüge fortgesetzt werden.


Tenebrae Choir, Mitte: Nigel Short
(Foto: Ansgar Klostermann)

Tiefe Betroffenheit und Schmerz

Auffallend bei allen Komponisten: die tiefe Betroffenheit und der Schmerz der Ereignisse. Darunter auch bei den so bekannten, wie Gustav Holst (1874-1934), eher durch seine Planeten berühmt, mit Evening Watch op. 43 Nr. 1 (1925), ein Zwiegespräch mit Körper und Seele, das er im Zusammenhang einer schweren persönlichen Erkrankung schrieb, oder auch den zwei Chorwerken von Ralph Vaughan Williams (1872-1958) mit Rest (1909) und Valiant-for-Truth (1940), zwei Motetten, in denen er sich mit dem Tod einer engen Freundin, wie seinem eigenen Ableben auseinandersetzt, und sich als „fröhlicher Agnostiker“ outet, einer, der einen ewigen Schlaf erwartet und dem Tod sein furchtloses Antlitz zeigt: „Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?“ (aus dem Korinther Brief zitiert)


Tenebrae Choir (Foto: Ansgar Klostermann)

Die sieben letzten Worte

Herauszuheben vielleicht noch das Schlussstück des ersten Teile des Konzerts A Prayer for Deliverance (2015/21, gleichzeitig das Leitthema des Abends) vom US-Amerikaner Joel Thompson (*1988) mit einem Text aus dem 13. Psalm (The seven last words of the Unarmed, zu deutsch: die sieben letzten Worte des Wehrlosen), in dem er die staatlichen Gewaltexzesse gegen die schwarze Bevölkerung der USA anspricht. „Ich wollte etwas schreiben, das ehrlich von der Not handelt, die wir empfinden, und doch unsere Herzen auf Hoffnung und Trost ausrichtet.“ (aus dem Programm)


Ein Klangerlebnis

Der Charakter der Gesänge, das kann man sich denken, war getragen von Molltönen, langen, ausgedehnten Flächen und gleichzeitig herausragender Klangfarbe. Weniger die Dissonanzen oder komplexen polyphonen Strukturen herrschten vor, sondern vielmehr das Klare, Fassliche, wohl Gegliederte. Die Basilika war der ideale Ort dieser Art von Musik. Ein Ort, in dem die Stimmen zur vollen Entfaltung gelangten. Vom Sopran bis zum Bass war jede einzelne Chor-Stimme ein Klangerlebnis.

19 Sänger (10 Frauen und 9 Männer) wechselten zu allen Werken ihren Ort, bildeten mitunter Doppelchöre, kleinere Gruppen, sangen getrennt, oder ließen die Solisten hervortreten. So fächerten sie sich beispielsweise bei Caroline Shaws (*1982) And the Swallow (2017) über die gesamte Bühne auf. And the Swallow ist eine Hommage an den Syrienkrieg, ein achtstimmiger Satz, unterlegt mit dem Psalm Text Nr. 84 über ein Thema des Vogelnestbaus, voller überragender Klangeffekte. Man glaubte, die Schwalben hätten Einzug in die Basilika gehalten.


Tenebrae Choir, rechts: Nigel Short
(Foto: H.boscaiolo)


Leidenschaft und Präzision“

Es erübrigt sich von selbst, den Tenebrae Choir zu bewerten, gar zu kritisieren. Der 2001 von Nigel Short (*1965) gegründete Chor ist eine Ausnahmeerscheinung auf dieser Welt. Seine Auszeichnungen würden Seiten füllen. Dennoch sei zu erwähnen, dass er 2023 den Rheingau Musik Preis erhielt, ein Preis, in dessen Urkunde die „Leidenschaft und Präzision“ hervorgehoben wird.

Nigel Short, selbst Countertenor und ehemals Mitglied der The King´s Singers (von 1994-2000), einem weltbekannten britischen A-Kapella Vokalensemble, das noch heute durch die Welt tingelt, verhält sich selbst sehr unauffällig und ist kaum bemerkbar. Er aber hat diesem Chor ein phänomenales Timbre eingehaucht. Diese Stimmen sind im Charakter und Ausdruck einmalig und unvergleichlich.



Tenebrae Choir, rechts: Nigel Short
(Foto: H.boscaiolo)

Eine ewig, einzige Musik

Leider war die Thematik nicht zu überschäumender Begeisterung geeignet, waren doch die Themen von tiefer Verzweiflung, Trauer und weitgehender Hoffnungslosigkeit geprägt. Dennoch, der Beifall war grenzenlos und eine Zugabe konnte nicht ausbleiben. 

Der Chor verteilte sich in der Basilika und aus allen Bereichen des Raumes erklangen ausgedehnte Stimmen, wie ein Echo aus himmlischen Sphären. Der Schöpfer-Gott hatte gesprochen und der Trost des ewigen Lebens schien wie Himmelszungen auf das Publikum herabzuschweben.

Wie lautete doch der hymnische Text aus dem Schlussstück Bring us, oh Lord God (1959) von William Harris (1883-1973): „Kein Lärm, keine Stille, nur eine ewige einzige Musik.“ So kann man sich das Paradies vorstellen. Der Tenebrae Choir ist das Bindeglied dahin.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen