Samstag, 31. August 2024

37. Rheingau Musik Festival vom 22.06 bis zum 07.09.2024

Bruce Liu (Klavier) und das Tonhalle Orchester Zürich (Leitung: Paavo Järvi), Kurhaus Wiesbaden, 30.08.2024


Bruce Liu, Paavo Järvi und das Tonhalle Orchester Zürich
Foto: Ansgar Klostermann

Superlative am Fließband

Die Tage des Rheingau Musik Festivals (RMF) neigen sich dem Ende zu. Die Höhepunkte allerdings scheinen immer neue Superlative zu erklimmen. So auch das letzte Konzert mit dem 27-jährigen Weltenbummler Bruce Liu am Steinway und Paavo Järvi am Pult des Tonhalle Orchesters Zürich. Der Fokus-Status des Ausnahme Pianisten wurde noch einmal gekrönt mit dem ersten Klavierkonzert e-Moll op. 11 (1830) von Frédéric Chopin (1810-1849). 


Mitreißendes zum Warm-werden

Allerdings brauchte das Orchester, quasi zum Warm-Werden, erst einmal die Ouvertüre aus Bedřich Smetanas (1824-1884) Oper Die verkaufte Braut, ein blendend-mitreißendes Meisterstück des Komponisten. Tumultuös, tänzerisch, melodiös, volkstümlich - mitreißend wie kaum eine Einführung in ein Opernsujet zuvor. Bekanntlich leitet sie eine vertrackte Heiratskomödie mit glücklichem Finale ein, ein Werk, das nach einigen Überarbeitungen nach seiner Uraufführungen 1866 von einer Operette zu einer ausgewachsenen Oper heranwuchs, die Welt eroberte und heute wohl in nahezu allen Opernhäusern der Welt zum festen Bestandteil gehört.

Was das Orchester aus den sieben einführenden Minuten machte, war phänomenal. Es rauschte in fließendem Portato durch die einzelnen Streicherstimmen, lediglich unterbrochen durch die herrliche tschechische Folklore mit Polka und ein bisschen polnischer Mazurka. Fulminant auch die Bläser, die einen perlenden Hintergrund boten. Ein Einstieg nach Maß.


 Paavo Järvi und das Tonhalle Orchester Zürich
Foto: Ansgar Klostermann

Virtuos und einfallsreich

Bruce Liu, wie immer in schwarzem, chinoisem Outfit, bescheiden und locker, sitzt konzentriert auf seinem Klavierschemel und wartet das sehr lange Vorspiel des Orchesters ab. Es exponiert alle drei Themen des Sonatenhauptsatzes, bevor er nach ca. 140 Takten seinen Einstieg in das höchst spannende Werk bekommt.

Zum Werk selbst sei an dieser Stelle bemerkt, dass Chopin lediglich zwei Klavierkonzerte geschrieben hat (op. 21 f-Moll), wobei unklar ist, welches zuerst entstand. Aber egal. Chopin hatte es angeblich nicht mit der Orchestrierung. Er war reiner Pianist und begeisterte sein Publikum - wenn er auch kaum in großen Konzerthallen, sondern eher in Clubs und Salons auftrat - mit seiner unglaublichen Virtuosität und seinem melodischen Einfallsreichtum.


Bruce Liu, Paavo Järvi und das Tonhalle Orchester Zürich
Foto: Ansgar Klostermann

Jeder Ton ein Gedicht

So auch in diesem Konzert. Es ist gespickt mit Höchstschwierigkeiten, mit einem unglaublichen Reichtum an Melodien sowie mit einer romantischen Lyrik, die seinesgleichen sucht. Liu besitzt ein brillantes Fingerspiel, jeder Ton aus seinen Händen gleicht einem Gedicht eines Jean Paul, Victor Hugo oder gar Friedrich Schiller. Im Ernst. Bruce Liu schafft es mit Leichtigkeit, die langen Phrasen und Bögen miteinander zu verknüpfen, sodass die schwierigen technischen Passagen wie nebenbei gespielt klingen. Immer dominiert bei ihm das Wesentliche, der melodische, thematische oder motivische Verlauf. Und das gelingt ihm durchweg sowohl in der Romanze des zweiten Satzes mit seiner überbordenden Verzierungskunst, als auch im Rondo des abschließenden dritten Teils.

Hier spielt er den Krakowiak mit einer kindlichen Fröhlichkeit, die den Hörer nicht allein in seine Jugend zurückversetzt, sondern das Bild einer Blumenwiese entstehen lässt, auf dem das Leben wilde Kapriolen vollführt.

Wieder lässt das Orchester durch lange Intermezzi den Solisten zur Ruhe kommen, bevor die dramatische Zuspitzung der Coda das Finale einleitet.


Ein permanenter Dialog

Man mag Chopins Orchestrierung kritisieren. Sie sei lediglich Beiwerk des Solisten, behauptet man. Hier aber ist das Orchester keineswegs dem Solisten untergeordnet. Nein. Es besteht ein permanenter Dialog zwischen beiden Protagonisten, zwischen Klavier und Tutti, aber auch zwischen Klavier und einzelnen Instrumenten wie Querflöte, Klarinette, Oboe und Horn. Auch die langen orchestralen Passagen in allen drei Sätzen weisen auf Chopins exzellente Beherrschung dieses Metiers hin.

Paavo Järvi sei Dank. Denn er vermittelte beide Kontrapunkte in großartiger Perfektion. Immer im Blickkontakt antizipierte er jegliche Rubati, alle dynamischen Feinheiten vom Pianissimo bis zum Fortissimo. Es war, als verschmelzten Orchester und Flügel miteinander und Paavo Järvi fungierte quasi als Katalysator.

Bruce Liu, Paavo Järvi und das Tonhalle Orchester Zürich
Foto: Ansgar Klostermann
Einmalige Interpretation

Wieder einmal eine wirklich außergewöhnliche Interpretation dieses Klavierkonzert, oft gehört, von allen guten Pianisten gespielt, aber noch nie in dieser wohl einmaligen Version. Bruce Liu ist ein Ausnahmekünstler, das Tonhalle Orchester Zürich unter Paavo Järvi ist sein genial sitzender Anzug.

Die Zugabe, Chopins Etüde auf den schwarzen Tasten, kurz, knackig, rasend schnell perlend, ein weiterer Beleg für Bruce Lius Weltklasse-Format. Man hat den Eindruck, er steht bereits über der schwierigsten Klavier Literatur. Sie scheint ihn technisch bereits zu unterfordern. Vielleicht geht er in Zukunft andere Wege, denn die klassische Klavier-Literatur scheint für ihn ausgereizt. Aber das nur nebenbei bemerkt.


Paavo Järvi und das Tonhalle Orchester Zürich
Foto: Gaetan Bally

Die geistige Gewalt Beethovens

Zum Abschluss des Abends, nach einer langen wohlverdienten Pause, stand die Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 68 (1876) von Johannes Brahms (1833-1897) auf dem Programm. Eine Schwerstgeburt, wie man meinen möchte. Brauchte Brahms doch mehr als vierzehn Jahr, um sie fertig zu stellen.

Offensichtlich litt er unter der geistigen Gewalt Beethovens, dem man nach seiner Neunten das Wasser nicht mehr reichen zu können glaubte. So schreibt er an seinen Freund Hermann Levi in den 1850er Jahren: „Du hast keinen Begriff davon, wie unsereinem zu Mute ist, wenn er immer so einen Riesen hinter sich marschieren hört.“


Große Eindringlichkeit, dramatisch aufbereitet

Und genau in diesem Sinne beginnt der erste Satz dieses vierteiligen Mammutwerks. Mit pochendem Orgelpunkt der Pauke und zwei kontrapunktisch entgegenstehenden Motiven, die einen majestätischen Charakter vermitteln. Überhaupt ist der Sonatenhauptsatz schwer zu durchschauen, ist es doch geprägt von einem komplizierten Geäder, das sich in ständiger Entwicklung zu befinden scheint. Dennoch dominiert das Einfache, das Motivische und man ist vor allem im ersten Satz geneigt, an Anton Bruckners Sinfonien zu denken, dessen einfache Sinfonik von ungeheurer musikalischer Macht zeugt. So auch hier. Ein erster Satz von großer Eindringlichkeit. Spannungsgeladen und dramatisch aufbereitet.


Paavo Järvi und das Tonhalle Orchester Zürich
Foto: H.boscaiolo

Eine Pastorale

Der zweite Satz, ein Andante sostenuto, ist lediglich 128 Takte lang, dafür aber von wunderbarer Liedhaftigkeit geprägt. Eine Pastorale, die von den Streichern in perfekter Manier vorgetragen, ja inszeniert wird. Dazu gehört auch das folgende Allegretto. Ebenfalls in der A-B-A Liedform verfasst. Hell und graziös kommt es daher und versetzt den Hörer auf eine Dampferfahrt auf irgendeinem Fluss, quer durch die Natur mit Hörnerklang und Tanzszenen. Herausragend hier die solistischen Einlagen der Klarinette, der ersten Geige und dem Horn. Ein Naturerlebnis erster Güte.


Paavo Järvi und das Tonhalle Orchester Zürich
Foto: H.boscaiolo

Die Emanzipation des Komponisten

Der Schlusssatz, der hat es in sich. Er allein besteht aus vier Teilen, vom Adagio zum Piú Allegro, und beginnt mit einem spannungsgeladenes Pizzicato der Streicher, eine heftige Welle, die in einem fulminanten Paukenwirbel zerbricht.

Dann ertönt das Alphorn, ein Weckruf, der von der Querflöte fortgesetzt wird. Wagner ist an dieser Stelle irgendwie präsent. Großartig, triumphal.

Und jetzt der Hauptsatz im Allegro non troppo. Hymnisch und durchaus mit Bezügen zu Beethovens Neunter, aber auch zu Mahlers Dritter. Der ganze Satz ähnelt tatsächlich dem „Würfelspiel“, das Mahlers Satzstruktur kennzeichnet. Viele motivische und thematische Wechsel und leicht verfremdete Einschübe aus scheinbar völlig fremden Gefilden.

Eine Ansammlung von Motivfetzen leitet denn auch die Coda im piú Allegro ein. Hier scheint sich Brahms endgültig vom Riesen, der hinter ihm her marschiert emanzipiert zu haben. Hornruf, Choral und Hymnus werden noch einmal komprimiert und lösen sich gleichsam als Ode an die Freude (Schiller) auf. Ein Finale der Extraklasse. Ein Choral, der durch alle Glieder fährt. Ein Extra-Fortissimo, das den letzten Zweifler von der Qualität dieser Sinfonie überzeugen musste.


Paavo Järvi und das Tonhalle Orchester Zürich
Foto: H.boscaiolo

Im Licht der Freude und Hoffnung

Tatsächlich ist Paavo Järvi, übrigens seit fünf Jahren Direktor dieses einzigartigen Klangkörpers, eine Interpretation gelungen, die Brahms 1. Sinfonie, die doch häufig als schwermütig bis melancholisch kritisiert wird, in einem Licht der Freude und Hoffnung erscheinen lässt. Eine dreiviertel Stunde zwischen Dramatik und Humor, zwischen Spiritualität und purer Lebensfreude. Was will man mehr.

Der Beifall wollte nicht enden und Järvi bot dem enthusiastischen Publikum den Bumblebee von Nikolai Rimski-Korsakow. Ein Hummelschwarm, der bedrohlich ins Publikum herüber zu schwärmen drohte. Scherz beiseite. Auch hier ließ das Orchester seine technische wie musikalische Ausnahme auf der Weltbühne der Orchester erkennen.

Ein unvergesslicher Abend und wieder ein Highlight, wo man glaubt, es sei nicht mehr zu toppen.


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