Sonntag, 1. September 2024

FREISPIEL 2024: Shifting Futures mit der Jungen Deutschen Philharmonie, 29.08 – 01.09.2024

Auswahl: BBC UNCLASSIFIED LIVE, 31.08, Frankfurt LAB und SPIRIT OF DEMOCRACY, Abschlussmatinee, Paulskirche Frankfurt, 01.09.


Shifting Futures (Foto: Archiv JFP)

Shifting Futures

Shifting Futures = Entdecken sie die Zukunft der Musik, steht in diesem Jahr unter dem Motto FREISPIEL, ein Projekt, das vor drei Jahren ins Leben gerufen und in diesem Jahr in einem viertägigen Festival realisiert wurde. Und zwar nicht, wie üblich, in diversen Konzerthäusern Frankfurts, sondern am Mainufer, in der Romanfabrik, im Frankfurt LAB und zum Abschluss in der Paulskirche Frankfurt.

Ein fantasievolles Kaleidoskop durch die Neue, neueste bzw. neu gedachte Musik, mit Modeschauen (Fashioning the Orchestra), geistigen Spiegelungen (Mental Mirrors), einer Begegnung von Rap und Klassik, einer BBC Live-Übertragung aus dem LAB (BBC Unclassified Live) und last but not least, direkt aus dem großen Saal der Paulskirche, mit dem Spirit of Democracy (Geist der Demokratie) und Werken, die Bezug zur 1848er Deutschen Revolution nehmen.

Immer wieder ein Erlebnis, die jungen Musikerinnen und Musiker zwischen 18 und 28 Jahren zu erleben, wie sie sich in jedes Werk reinknien, quasi mit ihnen verschmelzen und bis zur Erschöpfung alles aus den Noten herauslesen und in Töne übersetzen, was die einzelnen Kompositionen, Arrangements, Produktionen und Experimente hergeben. Eine Lebendigkeit und Emotionalität, die auch das Publikum ansteckt, begeistert und berührt.


Hania Rani im Gespräch mit Elizabeth Alker
Foto: H,boscaiolo

Live ins BBC Radio 3

Kommen wir gleich zur Samstag Abend Live Übertragung ins BBC Radio 3. Durch den Abend führte die britische Moderatorin Elizabeth Alker, locker, angepasst an das jugendliche Publikum und durchaus mit dem typischen englischen Humor. Sehr spät begonnen, gegen 21.00 Uhr, präsentierte sie drei Werke, drei Arrangements mit der polnischen Pianistin und Elektronikerin, Hania Rani (*1990), dem kanadischen Multiinstrumentalisten Richard Reed Parry (*1977) sowie der Techno Formation Brandt Brauer Frick (gegründet 2008 in Wiesbaden) und natürlich dem großen Orchester der Jungen Deutschen Philharmonie (JDP) unter der künstlerischen Leitung des allseits beliebten Wahl-Freiburgers André de Ridder (*1971).


Junge Deutsche Philharmonie mit André de Ridder
Foto: H.boscaiolo

FREISPIEL verbindet

FREISPIEL bekommt hier gleich seine genuine Sinngebung, denn der Begriff steht für Orchestermusik, die sich mit anderen Genres aus der Kunstwelt verbindet, neue Orte und neues Publikum erobert und das eigentliche Metier der Orchestermusik überschreitet. Dies gelang in dieser Performance BBC Unclassified Live einfach genial, denn weder Hania Rani, Richard Reed Parry oder Brandt Brauer Frick hatten jemals mit einem Orchester kooperiert, oder besser, Stücke für Orchester geschrieben. Insofern waren die Arrangements ausnahmslos in der unmittelbaren Vorbereitung dieses Festivals, genau genommen, erst zwei Wochen vor seiner Realisierung entwickelt worden.


Hania Rani mit der JDP (Foto: H.boscaiolo)

Elektronisch melodisch

Hania Rani spielte auf mehreren elektronisch präparierten Tasteninstrumenten, darunter ein präparierter Flügel, E-Klavier und eine Hammondorgel, drei Stücke wie A Day in Never, Komeda und Utrata. Allerdings mit fließendem Übergang. Das Orchester ergänzte den minimalistisch strukturierten Dreiteiler durch kurze Patterns, lange Querflöten Triller und viel Arpeggien. Immer aber tonal und melodisch. Dazwischen sang die Pianistin, wie auch eine Instrumentalistin aus dem Orchesterapparat. Viel perkussive Einlagen machten die Trilogie, die weitgehend dahinplätscherte, doch zu einem hörenswerten von Viktor Árnasson arrangierten mit viel Lichteffekten garnierten Experiment.


JDP mit André de Ridder am Pult (Foto: H.boscaiolo)

Atmen im Herzrhythmus

Extrem experimentell ging es im nächsten Werk zu. Form emerge bestand aus viel Atemtechnik, Herzschlägen und konzeptuellen Elementen. Gemäß des Kurzinterviews mit dem Dirigenten sollte jede Instrumentengruppe ihren eigenen Herzschlag bzw. Herzrhythmus finden. Alles sollte atmen und dadurch ganz spezifische Klangwelten erzeugen, um dann auch in die anderen Gruppen überzuspringen. Ein Werk, in dem Stille und Zufall eine entscheidende Rolle spielen.

De Ridder zog sich zu diesem Zweck ein Stethoskop über und versuchte damit, den Zufall und Fluxus dieses Arrangements von Parker Shper zu organisieren. Ein Versuch war dieses Experiment wert. Es wurde leider durch ungewöhnliche Nebengeräusche unterbrochen und musste neu angesetzt werden. Sei´s drum. Dem zahlreichen Publikum in der riesigen „Saunahalle“ des LAB (gefühlte 50 Grad) gefiel es prächtig.


Brandt Brauer Frick, André de Ridder
Foto: H.boscaiolo

Techno und Minimalismus

Richtig groovig wurde es dann mit dem Techno-Trio BBF. Drei coole Typen mit Anzug und langen Haaren, Weltreisende, wie die Moderatorin betonte, einer am Schlagwerk, einer am Klavier und einer am Set mit Computer, Sampler und MPC. Mit drei Arrangements von Leonhard Kuhn versetzten sie die Halle in Schwingungen und Feierlaune. Man war förmlich an die Techno-Szene der 1990er erinnert, aber auch Erkleckliches von den Giganten der Minimalmusik war herauszuhören. Darunter Phil Glass, Terry Riley oder LA Monte Young.

Mad Rush, Dottet Line und Perpetuate waren steigernd angelegt und ließen das Orchester regelrecht ausflippen. Die Akteure hatten großen Spaß bei der Sache und hätten endlos weitermachen können. Leider scheiterte die Endlos-Session an der Hitze und Feuchtigkeit im Saal. Es war in jeder Beziehung zum Umfallen. Auf alle Fälle ein gelungenes Experiment voller Verve und Begeisterung. Vielleicht feierten ja auch die Hörer von BBC 3 auf den Straßen Londons. Wer weiß?


Teilnehmer von BBC Unclassified Live
v. l.: Hania Rani, Elizabeth Alker, Brandt Brauer Frick, André de Ridder
Foto: H.boscaiolo

Der Geist der Demokratie 

Der Sonntag bot zum Ausklang einen Höhepunkt des Festivals. Viel important Personalities füllten den geschichtsträchtigen Saal der Paulskirche. Man redete über Demokratie und wie sie aktiv zu handhaben sei. Spirit of Democracy stand ja auf dem Programm. Viel Lärm um Nichts, um Shakespeare zu bemühen, möchte man meinen.

Herauszuheben allerdings seien die beiden Reden der Sprecher der JDP, Nina Paul und Jonas Hintermaier.

Archivfoto der Frankfurter Paulskirche  innen
Foto: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt
Basisdemokratie

Nina Paul sprach über die demokratische Idee, die das Orchester seit 50 Jahren trägt. Alles werde basisdemokratisch entschieden, vom Geschäftsführer über die Auswahl der Stücke bis hin zu den einzuladenden Dirigenten und Solisten. Schwierig, aber bis heute erfolgreich.

Insgesamt 3000 Teilnehmer hätten das Orchester seit seiner Gründung in einer Freiburger Studentenbude durchlaufen. FREISPIEL sei erst vor zwei Wochen auf der Kapfenburg /Baden Württemberg in einer konzentrierten Vorbereitungsphase lebendig geworden. Wenig Zeit, dafür aber große Begeisterung und eine organisatorische Meisterleistung. Man ist stolz aufeinander.


Paulskirche Parlament und Zeitgeist

Dann erläutert Jonas Hintermaier das Tagesprogramm, kurz und präzise: Es sind zwei Stücke aus der Hochzeit der Romantik, beide eng bezogen auf die Ereignisse in der Paulskirche im März 1848, und zwei zeitgenössische Werke. Eines von der US-Amerikanerin Julia Wolfe (*1958) Arsenal of Democracy (2018) und eines von der Mexikanerin Diana Syrse (*1984) To be told. Eine Auftragskomposition der JDP, und gleichzeitig die Uraufführung an diesem Sonntagmorgen.

Tatsächlich sind die vier Märsche (1849) von Robert Schumann (1810-1856) und das Streichsextett (1863) von Louis Spohr (1784-1859) in der Unmittelbarkeit der Revolutionsereignisse von 1848/49 entstanden. Spohr komponierte sein op.140 C-Dur eigenen Aussagen zufolge: „Zur Zeit der glorreichen Volks-Revolution zur Wiedererweckung der Freiheit, Einheit und Größe Deutschlands“. Bekanntlich reiste der Kasseler Bürger im März 1848 nach Frankfurt, um mit den Parlamentariern in der Paulskirche zu diskutieren. Schumann dagegen, der sich eigentlich kaum politisch äußerte, stellte sich in Zeiten der Revolution auf die Seite der Revolutionäre und reagiert mit den vier Märschen für Klavier op.76 darauf.


Die Pianistin Eunseon Kim (Foto: H.boscaiolo)

Erfolg-Misserfolg – alles im Fluss

Tatsächlich sind die Märsche wohl seine einzige Reaktion auf politische Ereignisse seiner Zeit. Interessant an dieser Stelle, das Anklingen der Marseillaise im dritten Marsch, der so gar nicht marschmäßig erscheint, sondern eher tiefe Trauer über den Niedergang der Revolution zum Ausdruck bringt. Die Pianistin des Orchesters (Eunseon Kim) interpretierte die überwiegend liedhaften Stücke mit Verve, technischer Brillanz und großer Hingabe.

Gleich danach von Julia Wolfe Arsenal of Democracy (2018). Dieses Werk für 13 Bläser, Klavier und E-Gitarre ist durchzogen von unbändiger Aufregung, heftigem Pochen und Rasen sowie von kurz angebundenen Patterns einzelner Instrumente. Dahinter steckt der Versuch, den demokratischen, diskursiven Prozess in heterogen Gruppen musikalisch nachzuvollziehen. Insgesamt extrem atonal bis bruitistisch, mit Quart, Sept oder Sekundintervallen, bleibt dieses ca. 15-minütige Werk immer im Fluss und finden bis zum Finale keinen gemeinsamen Nenner. Sehr spannend und anregend.


Das Ensemble von Arsenal Democracy, rechts vorne: André de Ridder
Foto: H.boscaiolo

Geschichte – Gegenwart – Zukunft

Diana Syrse hat binnen eines Jahres ein Auftragswerk von außergewöhnlicher Aussagekraft geschaffen. In drei Sätzen unterteilt, übertitelt sie die Partien mit Forward, Otto (als Hinweis auf die Bürgerrechtlerin Luise Otto Peters (1819-1895) und schließlich To Be Told (Es ist gesagt). Dazwischen sprechen oder rufen Stimmen aus dem Off (über Boxen) Texte und Zitate aus der Zeit der 48er Revolution, Stimmen von Straßen, Bühnen und Parlament.

Es ist im eigentlichen Sinne ein Konzeptuelles Werk für elf Instrumentalisten, darunter sechs Streicher, Fagott, Bassklarinette, Oboe, Piccolo und Querflöte. Als Dirigentin firmierte hier Friederike Scheunchen, die die „Elferbande“ (positiv konnotiert) mit Elan anfeuerte, und gleichzeitig, wenn nötig, für Zurückhaltung sorgte.

Forward sorgte für ungehaltenes Voranschreiten. Man rief: „Die Unterdrückung muss ein Ende haben“, oder „Rechtsstaat statt Polizeistaat“, oder „Verfassung für Deutschland und das gesamte Reich“. All das begleiteten die Musikerinnen und Musiker mit heftigen Clustern, einer Art musique concrète. Eine Geräuschmusik, die den Parolen und politischen Forderungen einen Unterbau, aber keine Harmonie bot.


Das Ensemble von To be told,
vorne von links: Diana Syrse, Friederike Scheunchen
Foto: H.boscaiolo

Im zweiten Satz, Otto, sollte das politische Wirken der Luise Otto Peters (1819-1895) musikalisch aufgenommen werden. Sie war nicht allein Frauenrechtlerin, sondern auch Publizistin und Gründerin der Frauenvereine. Die Musik dominierte hier durch tonloses Blasen, leise und nebulöse Flageoletts, unklare Glissandi und Texteinspielungen, die rauschten und bis zur Unverständlichkeit verzerrt waren. Die flächige Musikstruktur wurde im Verlauf des Satzes etwas klarer, auch ein Textsplitter etwas deutlicher „mit Gewalt ist man keine Gruppe“.

Den dritten, den Schlussteil, nennt Diana Syrse To be Told, wie auch der Titel des Stücks lautet. Hier zieht sie ein Resümee auf die Demokratie, vergleicht Geschichte mit heute und denkt gleichzeitig in die Zukunft. Wieder hört man Zitate und Parolen wie im ersten Satz. Allerdings wird der musikalische Teil sukzessive harmonischer. Gegen Ende hin ist man gar in der Neo-Klassik angekommen. 

Sehr eindrucksvoll und von gedanklicher Finesse. Vom Cluster, zu unklarer Nebulosität bis hin zur modernen Harmonik - wenn das nicht mal positive Aussichten auf unsere Zukunft sind.


Ein musikalisches Kleinod

Überhaupt war diese Uraufführung ein Lichtblick des Konzertfinales. Diana Syrse hat hier ein musikalisches Kleinod geschaffen, dass sicher mehrere Aufführungen erfahren wird. Außerdem war das Ensemble der JDP bestens vorbereitet und spielte vor allem die heftigen bruitistischen und atonalen Phrasen mit größter Aufmerksamkeit und Präzision. Ein spannungsgeladenes Werk, das vielleicht noch einiger Korrekturen, vor allem im zweiten Satz, bedarf.


Das Streichsextett von Spirit of Democracy
Foto: H.boscaiolo

Revolutionäre Idylle

Louis Spohrs damals wohl einzig existierendes Kammermusikwerk, das Streichsextett C-Dur op.140, galt tatsächlich als der Prototyp einer neuen Gattung. Einer Gattung, die von Brahms, Mendelssohn, Dvořák und nicht zuletzt von Schönberg übernommen wurde. Warum Spohr allerdings heute noch kaum aufgeführt wird, liegt wohl hauptsächlich an seinem klassizistischen Duktus, seiner Orientierung an Mozart, den er als das höchste Ideal der Tonkunst betrachtete.

Kurz: Diesem dreisätzigen Sextett fehlte gänzlich der heroische, aufmüpfige Charakter. Im Gegenteil, es kam eher leichtgängig und oberflächlich, fast schon idyllisch bis melancholisch daher, voller Trauer gar im Larghetto des zweiten Satzes. Lediglich das Menuett des abschließenden Scherzos wartete mit einem Tänzchen, allerdings in a-Moll, auf. Immerhin ein kleiner Fingerzeig auf die Ereignisse der 48er Märzrevolution. Wunderbar gespielt vom aus der JDP zusammengestellten Gruppe, setzte es den Schlusspunkt unter des viertägige Festival.


Die Teilnehmer von Spirit of Democracy
Foto: H.boscaiolo

Demokratie in Demut leben

Lassen wir noch einmal den Geist der Demokratie sprechen. Frau Karin Wolff, die Geschäftsführerin des Rhein Main Kulturfonds, sprach davon, dass, wer die Geschichte nicht kenne, auch keine Demokratie leben könne, und ergänzte sehr weise, Bezug nehmend auf die Diskursstruktur in der Paulskirchenversammlung: „Hier wurde Demokratie in Demut gelebt.“ 

Etymologisch komme Demut aus dem Mittelhochdeutschen, setze sich aus Mut und Dienen zusammen und bedeute die Gesinnung eines Dienenden. Im Klartext heiße das: In demokratische Prozesse gehöre gleichermaßen das Gelingen und Misslingen. Sie seien mühsam und nicht immer von Erfolg gekrönt. Gleichzeitig aber machten sie auch Spaß, könnten lustig sein. Immer aber seien sie kreativ und human.

Ein Spirit of Democracy, das in der basisdemokratisch organisierten JDP zur täglichen Praxis gehört. Man spürte es an diesem Sonntag in besonderem Maße und wünscht dieser Formation ein erfolgreiches: Weiter So!

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