Freitag, 20. September 2024

Quatuor Ébène spielt Streichquartette von Josef Haydn, Benjamin Britten und Ludwig van Beethoven, Alte Oper Frankfurt, 19.09.2024 (Veranstaltung der Frankfurter Museumsgesellschaft e.V.)

v. l.: Yuya Okamoto, Pierre Colombet, Marie Chilemme, Gabriel LE Magadure, 
Foto: Website, Julien Mignot

Ein unauslöschlicher Fußabdruck

Es ist als großes Verdienst der Frankfurter Museumsgesellschaft anzusehen, dieses exorbitante französische Quartett für diese Stadt gewonnen zu haben. In der Corona-Saison 2020 erregte diese Gruppe Aufsehen mit der versuchten Vorstellung sämtlicher 16 Streichquartette aus der Hand Ludwig van Beethovens (immerhin gelang es den Akteuren, unter widrigen Einschränkungen, 12 davon aufzuführen). Aber auch schon vorher (seit 2005 unterstützt die Museumsgesellschaft Quatuor Ébène) hinterließ dieses Quartett einen unauslöschlichen Fußabdruck beim Frankfurter Publikum und nicht nur dort.


Zum zwölften Mal

Mittlerweile sind die vier Ausnahmekünstler (Pierre Colombet, erste Geige, Gabriel LE Magadure, zweite Geige, Marie Chilemme, Viola, und seit Frühjahr 2024 der japanische Cellist Yuya Okamoto am Violoncello. Er hat seinen Vorgänger Raphaël Merlin abgelöst) zum zwölften Mal in der Alten Oper Frankfurt zu erleben und können bereits auf einen Stamm begeisterter Anhänger zurückgreifen. Der Mozartsaal der Alten Oper Frankfurt war denn auch bestens gefüllt, die Erwartungen groß und das Programm absolut vielseitig und vielversprechend.


v. l.: Yuya Okamoto, Pierre Colombet, Marie Chilemme, Gabriel LE Magadure, 
Foto: Website, Julien Mignot

Zwischen Sonnenaufgang und Tannhäuser

Gleich zu Beginn das Streichquartett B-Dur op.76 Nr. 4 (1797/99) von Joseph Haydn (1732-1809).

Die sechs letzten der zahlreichen Streichquartette von Joseph Haydn gehören wohl zu seinen ausgereiftesten. Im Jahre 1797 als Auftragswerk des Fürsten Joseph Erdödy (1754-1824) komponiert und aus vertraglichen Gründen erst im Jahre 1799 mit größtem Erfolg uraufgeführt, wurden diesem Zyklus, allerdings ohne Zutun des Komponisten, populäre Titel, wie Teufelsturm, Nr. 1, Quinten Quartett, Nr. 2, Kaiserquartett, Nr. 3 (Melodie der Deutschen Nationalhymne) sowie dem hier interpretierten Vierten Sonnenaufgang (Sunrise) verliehen. Und das lediglich wegen des aufsteigenden Violinthemas des ersten Satzes.

Nebenbei bemerkt bezeichnete man es in Deutschland lange Zeit als „Tannhäuser-Quartett“ wegen der Ähnlichkeit mit dem Wagner-Lied aus Tannhäusers 2. Akt: „Freudig begrüßen wir die edle Halle“.


Fröhlich und frech

Ein klassisch viersätziges Werk ist es, mit Allegro, Adagio, Menuetto con Trio und Allegro Finale in Rondoform. Hier bereits zeigten die Vier ihre Sonderklasse. Spielten sie doch den einführenden Sonatensatz mit größtem Espressivo, herrlichen Sforzati und ausgesprochener Liedhaftigkeit. Das etwas ausgedehntere Adagio dagegen getragen, ruhevoll wie ein Gebet mit Choralcharakter, das Menuetto con Trio sehr akzentuiert mit anhaltendem Bordun des Cello und ungarischem Tanz im Trio. Fröhlich und frech, um dann im Finale Rondo, nach einer fast gemütlichen Einleitung, in einer Steigerung bis zur abschließenden Stretta mit Feuer und instrumentalen Effekten, die Sonne im Zenit stehend zurück zu lassen. Ein Vortrag, auf den die Hörer bereits mit Begeisterungsstürmen antworteten.


v. l.: Yuya Okamoto, Gabriel LE Magadure, Marie Chilemme, Pierre Colombet
Foto: Website, Julien Mignot

Charakterstücke als Appetitanreger

Es folgten stante pede Benjamin Brittens (1913-1976) Drei Divertimenti (1933), eine Abschlussarbeit des 20-jährigen am Royal College of Music in London, die er eigentlich zu einer fünfteiligen Suite ausbauen wollte, aber es letztlich dabei beließ. Die drei Charakterstücke (wie er sie nannte) überarbeitete er allerdings 1936 noch einmal umfassend. Zu seinen Lebzeiten ist dieses Quartett allerdings nie aufgeführt worden, was es, das sei betont, nicht verdient hat.

Denn sie sind tatsächlich Appetitanreger für viele seiner nachfolgenden Kompositionen und vor allem für seine drei folgenden Streichquartette, die er 1941, 1945 und 1975 produzierte,


Unterhaltung mit Tiefgang

Aber kommen wir zu den Divertimenti. Sie beginnen mit einem Marsch (March) von grotesker militärischer Stimmung. Stiefel scheinen gegeneinander zu knallen, Quarten Intervalle erinnern an Schönberg und Bartók, Glissandi, Pizzikati und Flageoletts an Strawinsky und möglicherweise an seinen Lehrer Frank Bridge. Das Quatuor kennt kein Erbarmen und lässt der Ironie freien Lauf. 

Ebenso im nachfolgenden Walzer (Waltz). Ein dreiviertel Takt der Groteske setzt hier ein. Man vermeint den Walzer auf den Arm genommen zu hören. Hat hier vielleicht Maurice Ravel seine Hände im Spiel? 

Die abschließende Burleske (Burlesque), voll rasender Tremoli und akrobatischer Virtuosität, sprüht vor dynamischen Kontrasten und erinnert an einen Clown, der sein Spielchen mit dem Publikum übertreibt. Eine Unterhaltungsmusik wird hier geboten mit tiefsinnigen Andeutungen auf die Widersprüche und kognitiven Dissonanzen der Moderne. Benjamin Britten hätte seine Freude an dieser Interpretation gehabt.


v. l.: Yuya Okamoto, Marie Chilemme, Gabriel LE Magadure, Pierre Colombet
Foto: H.boscaiolo

Keine Resignation – Haltung bewahren

Ludwig van Beethovens (1770-1827) Op. 130 B-Dur (1826/27) hat Quatuor Ébène bereits am 14.10.2020 im Großen Saal der Alten Oper Frankfurt gespielt. Vor fast leerem Saal zwar (Corona bedingt), dafür aber mit ungeheurer Eindringlichkeit und dem Aufruf des Autoren dieser Zeilen, „sich keiner Resignation hinzugeben und zu der Musik zu stehen, die der ureigenen inneren Haltung entspricht und keine kleinlichen Kompromisse verträgt.“ Ja damals.

Bekanntlich gehörte die Schlussfuge (später op.133) zum B-Dur Quartett, wurde aber wegen ihrer angeblich mangelnden Verständlichkeit („unverständlich wie chinesisch“) von Beethoven, nach finanziellen Bedenken seines Verlegers Artaria, durch ein „Rondo Finale in volkstümlichem Gassenhauer-Charakter“ ersetzt. 

Vielfach kritisiert und Beethoven zum Vorwurf der Resignation gemacht. In op.133 fand die Große Fuge (1826) zwar eine Eigenständigkeit, wird aber heute nahezu ausschließlich als Bestandteil von op.130 aufgeführt.


v. l.: Pierre Colombet, Gabriel LE Magadure, Marie Chilemme, Yuya Okamoto
Foto: H.boscaiolo

Steter Konfliktstoff

In sechs Satzbezeichnungen unterteilt beginnt Quatuor Ébène gleich mit einem Hammer, einer Viertongruppe gis-a-f-e, stark an Bachs Wohltemperiertem Klavier erinnernd, aber bereits weit entfernt von der klassischen Sonatenform und der barocken Objektivität eines Präludiums. Nein, hier dominieren kontrastierende Dynamik, spannungsgeladene Bögen und ständig wechselnde Rhythmen, ein Beethoven wie er leibt und lebt. Zwischen Adagio und Allegro herrschen steter Konfliktstoff, mal ernst, mal schroff, mal heiter, mal überspannt kokett.


Melancholisch – gebrochen – lebensfroh

Dann das unmittelbar folgende Presto. Unfassbar, wie man so rasend und dennoch so akzentuiert spielen kann. Kaum drei Minuten, dafür ein Scherzo Diabolo. Das dreiteilige Andante des dritten Satzes changiert zwischen Melancholie und gelassener Heiterkeit. Sehr leicht, mit einem Schuss Ironie, folgen herbe Chromatik, synkopische Rhythmen und vor allem viel Rubato. Mal fragend mal antwortend. Alles scheint gebrochen, durchbrochen zu sein. Ist es Ausdruck der sich langsam fortsetzenden Krankheit des Komponisten? 

Alles Spekulation, denn der vierte Satz behauptet das Gegenteil. Er ist im Stil des „Teutschen“ geschrieben, also im Dreiviertel Takt eines Walzers. Volkstümlich und absolut lebensfroh.


v. l.: Pierre Colombet, Gabriel LE Magadure, Marie Chilemme, Yuya Okamoto
Foto: H.boscaiolo

Lebensbilanz

Die folgende Cavatine, der fünfte Satz, gehört zum „Lieblingsstück“ des Komponisten, wie er selbst beteuert. Tränenreich und irgendwie wohl die Quintessenz seines bisherigen Lebens, denn er gesteht seinem Freund Karl Holz, dass er es mit Tränen und Wehmut komponiert habe und gerade diese Musik ihm immer wieder neue Tränen koste.

Das Quatuor seufzte und klagte. Der rezitativische Mittelteil im Pianissimo ließ die Bilanz seines Lebens noch einmal Revue passieren, um dann in einer zarten, fast versteckten Heiterkeit zu enden. Umwerfend schön und herausragend interpretiert von den Vieren.


Selbstkritisch und enigmatisch

Dann die Große Fuge. Die Frage stellt sich gleich, ob sie überhaupt eine ist. Einigen wir uns darauf, zu 40 Prozent ja und zu 60 Prozent frei und eher thematisch entwickelnd. Beethoven dazu: „Eine Fuge zu machen … ist kein Kunst. Aber die Fantasie will auch ihr Recht behaupten, und heutzutage muss in die alt hergebrachte Form ein anderes, ein wirklich poetische Element kommen“ (moderne Schreibweise).

In sechs Teilen, angefangen bei der „Ouvertura“ und in einem haarsträubend schönen Allegro endend, erzählt diese Fuge alles aus dem Leben Beethovens, von der Wiege bis zur Bahre. Er weiß, seine Tage sind gezählt; die Fuge umklammert alles, was ihn noch bewegt.

Frei und gebunden, ist sie gleichzeitig sanftmütig, im zweiten Abschnitt geistreich, im dritten zügig voranschreitend sowie unbeschwert im vierten und fünften, um dann im sechsten und letzten Abschnitt zu bilanzieren. Alles wird noch einmal aufgerollt, selbstkritisch und irgendwie auch enigmatisch.


v. l.: Gabriel LE Magadure, Marie Chilemme, Pierre Colombet, Yuya Okamoto
Foto: H.boscaiolo

Wird sie auch verstanden?

Kein Wunder, dass sie zunächst irritierte, verwirrte, ja abgelehnt wurde.

Heute gehört sie zum allgemeinen Repertoire der Streichquartette weltweit. Ob sie auch verstanden wird, steht auf einem anderen Blatt. So wie das Quatuor Ébène diese Fuge interpretierte, muss man von einem tiefen Verständnis ausgehen, denn sie machten aus ihr im wahrsten Sinne eine Lebensgeschichte Beethovens, eine voller Höhen und Tiefen, voller Erfolge und Misserfolge und eine von einer klaren Sicht auf die Diskrepanzen von Wille und Vorstellung. 

Die Veröffentlichung von op.130 erfolgte am 10.05.1827, also kurz nach seinem Tode. Zunächst ohne Große Fuge, später, im Juni dann mit ihr als op.133. Letztere erfuhr die kommenden 50 Jahre kaum 14 Vorstellungen, erstere dagegen mehr als 215.

Brausender Beifall, stehende Ovationen. Gleich fünfmal musste Quatuor Ébène auf die Bühne. Aber keine Zugabe. Hätte auch nicht gepasst.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen