Sonntag, 15. September 2024

Sächsische Staatskapelle Dresden unter der musikalischen Leitung von Daniele Gatti, Alte Oper Frankfurt, 14.09.2024

Saisoneröffnung 2024/25: Bokale Brass Band auf dem Opernplatz Frankfurt
Foto: Tibor-Florestan Pluto

Große Saisoneröffnung

Große Saisoneröffnung der Spielzeit 2024/25 in der Alten Oper Frankfurt mit musikalischem Empfang auf dem Opernplatz, einem „Musikseminar für Wissbegierige“ zum Thema Verklärte Nacht von Arnold Schönberg, mit Dr. Ulrike Kienzle im Rahmen von Kienzles Klassik, sowie einem lockeren Ausklang bei Wein und sonstigen Getränken mit einem amerikanischen A cappella Quintett im Foyer des zweiten Stocks.


Saisoneröffnung 2024/25: Bokale Brass Band auf dem Opernplatz Frankfurt
Foto: Tibor-Florestan Pluto

Zwei bahnbrechende Werke

Hauptteil des wirklich unvergesslichen Abends allerdings bildete die Sächsische Staatskapelle (gegründet 1548) unter der Leitung ihres frisch gebackenen Chefdirigenten Daniele Gatti.

Sie hatten zwei besondere und ausgesuchte Werke der frühen Moderne mitgebracht, die es in sich hatten:

Einmal die Verklärte Nacht op. 4 (1898/1902/1917/1943) von Arnold Schönberg (1874-1951) nach einem Gedicht von Richard Dehmel (1863-1920) und zum Zweiten die Sinfonie Nr. 1 D-Dur (1889/1896) von Gustav Mahler (1860-1911).

Sächsische Staatskapelle, Daniele Gatti (Foto: Tibor-Florestan Pluto)

Batterie, zum Laden geboten

Allein am Geburtsdatum von Arnold Schönberg (13.09.) erkennen Sie, liebe Leserinnen und Leser, dass die Musikwelt heuer, fast auf den Tag genau, seinen 150. Geburtstag feiert. Schönberg, heißt es ungerechtfertigterweise noch heute, sei ein „Kassengift“. Man setze ihn immer noch ungern auf das Programm. Tatsächlich hat Schönberg aber für die Neue Musik im wahrsten Sinne sein Leben riskiert (Skandale und Verfolgung).

Verklärte Nacht, sein Opus vier, gehört mit zum Besten, was er komponiert hat und nicht von ungefähr hat der jüngst verstorbene Wolfgang Rihm ihn bzw. seine Kompositionen mit einer Batterie verglichen, deren Ladung zum Gebot der Musikschaffenden wird.


Sächsische Staatskapelle, Daniele Gatti (Foto: Tibor-Florestan Pluto)

Angriff auf die herrschende Moral

Ja, Verklärte Nacht ist eine gut 30-minütige tönende Ausdeutung eines spätromantischen Gedichts von Richard Dehmel. Dehmels Gedichte sprengten den Rahmen der damaligen Moral, waren aber gerade für die junge, aufstrebende, fortschrittsorientierte Komponistengeneration eine beliebte Vorlage für ihre Kompositionen. Darunter zählten beispielsweise Richard Strauss, Kurt Weill, Jean Sibelius oder auch Anton Webern.

In Verklärte Nacht geht es, in Kürze zusammengefasst, um eine Liebesgeschichte in fünf Strophen (hier in Rondoform A-B-A´C-A´´ geschrieben). Bei einem Spaziergang im Mondschein gesteht die Frau ihrem Liebhaber, von einem anderen Mann ein Kind zu erwarten. Statt sie von sich zu weisen, reagiert er mit großem Verständnis und möchte das Kind Teil ihrer Liebe werden lassen. „ … von dir in mich, von mir in dich; die wird das fremde Kind verklären; du wirst es mir, von mir gebären, du hast den Glanz in mich gebracht, du hast mich selbst zum Kind gemacht.“

Dieses Gedicht, heute vom Inhalt eine Banalität, bedeutete um die Jahrhundertwende ein Affront gegen die herrschende Moral, auch wenn diese persönlichen Tragödien gang und gäbe waren. Verklärte Nacht ist im weitesten Sinne auch als autobiographisch, sowohl bei Dehmel als auch bei Schönberg, aufzufassen.


Sächsische Staatskapelle, Daniele Gatti 
Foto: Tibor-Florestan Pluto)

Neuer Mensch – Neue Musik

Aber ihre Botschaft ist eine andere: Hier geht es im Wesentlichen um eine Neubestimmung des Lebenssinns. Nach dem vermeintlichen Tod Gottes (Nietzsche) musste der Mensch, auf diese Welt geworfen, einen eigenen Ethos entwickeln. Der Neue Mensch wurde geboren, die Existenzialisten wie auch die Esoteriker feierten fröhliche Urständ und die Musik geriet ebenfalls an die Grenzen der Tonalität. Wagners Tristan-Akkord ebnete den Weg zur Freitonalität wie auch zur Atonalität. Der Zwölfton- und seriellen Musik öffneten sich die Pforten.

All das spiegelt sich in Verklärte Nacht wider. Auflösung der herkömmlichen Formen, freie Entwicklung der Themen, variative Entwicklungen der Themen und Motive, Leitmotivik und endlos Melodien ganz im Sinne Wagners.


Daniele Gatti (Foto: Tibor-Florestan Pluto)

Die Bodenhaftung verloren

Bekanntlich ist das Werk zunächst als Streichsextett komponiert worden, leider nicht von Erfolg gekrönt (Text: zu sexy, Musik: schlechter Abklatsch von Tristan und Isolde). In Kriegszeiten allerdings, nämlich 1917 und 1943, überarbeitete Schönberg das Werk, machte daraus eine Streichorchesterfassung, deren Endprodukt die Sächsische Staatskapelle mit gut 60 Streichern vorstellte. Und das war umwerfend.

Gleich zu Beginn eine wunderbare Einführung in die Nacht, mit Naturlauten und Mondenlicht. Visionäre Zustände, die von einer langsam aufkeimenden Verzweiflung durchzogen werden. Eine Frau spricht: Die Musik wird hektisch, klagend. Man fühlt förmlich ihre Verzweiflung. Die motivische Gestaltung scheint undurchsichtig, ja fast wirr. Alles droht die Bodenhaftung zu verlieren, auch wenn die Streicher in langen Bordunen die musikalische Grundierung aufrecht zu erhalten versuchen. Die Rückführung zum A´ Teil des Rondos ist kaum wieder zu erkennen und endet in einem schieren Verzweiflungsakt in es-Moll. Lange Fermate.

Sächsische Staatskapelle, Daniele Gatti 
(Foto: Tibor-Florestan Pluto)

Harmonisch – versöhnlich – liebevoll

Eine herrliche liedhafte Phrase in D-Dur beginnt. Der Mann spricht: Sein Part - der C Teil des Rondos -  ist homophon, harmonisch, ein bisschen impressionistisch angehaucht. Versöhnlich und zuversichtlich ist der Charakter dieses Teils. Im abschließenden A´´ Teil werden noch einmal Themen und Motive der vorangegangenen Abschnitte aufgenommen und in der abschließenden Coda zu einer herrlichen Apotheose in H-Dur geführt.


Ein Philosoph am Dirigentenpult

Eine tönende Vision ohne Worte hat hier die Sächsische Staatskapelle vorgeführt, was ihr aber, und das sei festzuhalten, nur durch die umsichtige und wissende Leitung von Daniele Gatti ermöglicht wurde. Er, ein Philosoph am Dirigentenpult.

Nach einer diskussionsreichen Pause dann die Sinfonie Nr.1 D-Dur (1889/1896) von Gustav Mahler (1860-1911).


Sächsische Staatskapelle, Daniele Gatti 
(Foto: Tibor-Florestan Pluto)

Die Leichtigkeit der Satzcharaktere

Es ist gerade eine Woche her, da wurde sie vom Pittsburgh Symphony Orchestra unter der Leitung von Manfred Honeck zum Abschluss des RMF im Kurhaus Wiesbaden mit großem Erfolg aufgeführt (siehe Artikel vom 07.09.). Ein Vergleich verbietet sich zwar. Aber unterschiedlicher konnten beide Interpretationen kaum sein.

Der wesentliche Unterschied ist wohl in der Lust am Spiel wie der Leichtigkeit der Satzcharaktere zu suchen. So ist bereits der Eingangssatz gar nicht langsam und schleppend, sondern eher von einer Aufbruchstimmung geprägt. Die Quartfälle, Vogelrufe und Kuckuckslaute zeugen von Erwartung und Zuversicht. Der Naturklang ist voller positiver Zeichen. Die Sonne erscheint am Horizont, und unvermittelt setzt die wunderschöne Melodie aus dem Liederbuch des fahrenden Gesellen: „Ging heut morgen morgen übers´ Feld“ ein. Ein Thema, das den gesamten ersten Satz sinnfällig beherrscht und in verschiedenen Varianten immer wieder seinen Tenor bestimmt.


Sächsische Staatskapelle, Daniele Gatti (Foto: H,boscaiolo)

Freudig und derb

Auch das Scherzo des zweiten Satzes, hier kräftig bewegt und doch nicht zu schnell, strotzt nur so vor Lebenskraft. Ländler und Walzer wechseln sich ab, freudig und derb. Das Trio, ein lyrisches Schmankerl aus dem österreichischen Bergland, vermittelt ebenfalls eine lebhafte Attitüde, so gar nicht nachdenklich oder gar melancholisch.


Satire mit einem Schuss Sarkasmus

Dann der dritte Satz, bekannt als Bruder-Jakob-Kanon. Er spiegelt eine satirisch betrachtete Kinderwelt wider. Die Moll-Tonart wird hier eher sarkastisch betrachtet. Die Lust am Ärgern dominiert. Wird aber durch eine freche Klezmer Einlage unterbrochen. 

Auch das Lied aus dem Fahrenden Gesellen: „Die zwei blauen Augen von meinem Schatz“, darf nicht fehlen und rundet die Satire mit viel Schmunzeln aus den Reihen der Instrumentalisten ab. Sie hatten alle Spaß an der Freud gerade in diesem Satz. Düster ist hier nichts. Das Gegenteil ist der Fall. Die Welt ist vielleicht ein Irrenhaus, aber mitnichten eine Trauerhalle.


Sächsische Staatskapelle, Daniele Gatti (Foto: H,boscaiolo)

Weltuntergang – Weltrettung

Der Schlusssatz ist auch hier stürmisch bewegt und beginnt mit einer Tirade von Blitz-Donner-und-Unwetter. Die Welt droht unter zu gehen. Aber auch das ist nur eine Episode. Denn alsbald scheint hier Mendelssohn Bartholdys Sommernachtstraum durch. Die Szenerie beruhigt sich.

Jetzt erinnert man sich an das Hauptthema des Eingangssatzes und lässt die lyrischen Passagen wieder durchblitzen. Aber alles in wallenden Linienbögen. Ein Spezialität dieses Orchesters. So noch nie gehört. Von leise nach laut und zurück, in gewaltigen ausladenden wellenartigen Bewegungen zwischen Pianissimo und Fortissimo. Unglaublich wirksam und mit mehreren Durchbrüchen (musikalischen Wendungen) versehen. Denn die Durchführung wie die Reprise werden choralartig erweitert, die Bleche dominieren mehr und mehr (sie sind übrigens von ausnehmender Qualität) und der hymnische Charakter bis hin zum triumphalen Finale übernimmt sukzessive die Oberhand.

Die abschließende Choral-Apotheose lässt einen regelrecht aus den bequemen Sitzen des Großen Saals der Alten Oper Frankfurt hochfahren.


Sächsische Staatskapelle, Daniele Gatti (Foto: H,boscaiolo)

So leicht, so einfach, so schön

Hier und gerade hier ist diese Staatskapelle einmalig. Alles bei ihr blüht vor Lebens- und Spielfreude. Ein Lachen auf den Gesichtern sprang regelrecht auf das Publikum über. Nicht zuletzt war Daniele Gatti, neben seinem ausgezeichneten und tief durchdachten Dirigat (ohne
Partitur versteht sich), ein wesentlicher Faktor dieser außergewöhnlichen Interpretation von Mahlers Erster, deren Entstehen doch mit so viel Unbill verbunden war. 

Wie sagte Mahler doch zu einer Freundin: „Ich meinte naiv, sie sei kinderleicht für Spieler und Hörer und werde gleich so gefallen, dass ich von den Tantiemen werde leben und komponieren können“. Damals irrte er, doch heute, nach diesem Erlebnis, würde man ihm ohne Wenn und Aber zustimmen können. So leicht, so einfach und so schön.

Die Zugabe, ein Intermezzo aus Giacomo Puccinis Oper Manon Lescaut bewies einmal mehr die großartige Klangkultur dieses Orchesters. Ein Ausklang der Superklasse, standing Ovations selbstverständlich und damit ein Saisonauftakt nach Maß.



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