Samstag, 5. Oktober 2024

Happy New Ears, Portrait Nicolaus A. Huber (*1939), Werkstattkonzert mit dem Ensemble Modern (EM), Hochschule für Musik und Darstellende Kunst (HfMDK), 04.10.2024

Nicolaus A. Huber

Einer der schillerndsten und innovativsten Künstler

Seit 1993 finden die Werkstattkonzerte Happy New Ears nach der Idee des legendären John Cage (1912-1992) in unregelmäßiger Reihenfolge, in verschiedenen Frankfurter Räumlichkeiten sowie in der Zusammenarbeit mit der Oper Frankfurt und dem Ensemble Modern statt. Immer mit außergewöhnlichen Künstlern und ihren außergewöhnlichen Kompositionen.

Auch dieses Mal sollte es so sein. Es ist der Komponist Nicolaus A. Huber (*1939), persönlich im großen Saal der Frankfurter HfMDK anwesend. Von ihm wurden zwei Werke aus den 1980er Jahren vorgestellt und besprochen: Die Sechs Bagatellen für Kammerorchester (1981) sowie La Force du Vertige (1985).

Nicolaus A. Huber, das sei vorweg genommen, ist einer der schillerndsten und innovativsten Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts. Beeinflusst durch Luigi Nono, Karlheinz Stockhausen, Günther Bialas und vor allem Josef Anton Riedl, gehörte er quasi seit Ende der 1950er Jahre zum Inventar der Internationalen Darmstädter Ferienkurse (gegründet 1946), wo er seit 1988 auch lehrte, und hinterließ, nach zahllosen Auszeichnungen, langem und intensiven Unterricht als Professor an der Folkwang-Hochschule Essen (1973-2003) sowie ausgedehnten internationalen Aktivitäten, eine Reihe von würdigen Nachfolgern. Darunter unter anderem Robin Hoffmann, Martin Schüttler, Kunsu Shim, Gerhard Stäbler oder auch Jörg Birkenkötter, um nur Einige zu nennen.


Christian Hommel (EM), Martina Seeber (Moderatorin)
Foto: H.boscaiolo

Rhythmus in allen möglichen Facetten

Sein Stil zeichnet sich durch seine Erfindung der „konzeptuellen Rhythmuskomposition“ aus, bestehend aus rhythmischen Modulationen, ständigen metrischen Wechseln und unabhängigen Dauern, die allerdings auf ein harmonisches Ganzes abzielen.

In diesen beiden Stücken findet diese Idee eine geniale Realisierung. Die sechs Bagatellen orientieren sich an Beethovens Bagatellen op.119/10 und an seine Klaviersonate op.111, II. Allerdings lediglich gedanklich, ohne direkte Bezugnahme. Huber bevorzugt die einfache Motivik, die Nichtigkeit, wie auch die Kantabilität aus Beethoven Arietta, einem Adagio molto semplice e cantabile.


Wo die Lichter ausgehen

Es beginnt mit einer Ouvertüre, super kurz, ein Rhythmus Modell, gegliedert in vier heftige perkussive Schläge und Streicher Pizzikati. 

Süß und herb soll es in der Zweiten Bagatelle zugehen. Es dominieren Klarinette, Oboe und Streicher mit langen Unisono-Tönen und atmosphärischer Stimmung. Eine Art Abschiedsgeste, vergleichbar mit einem Haus, wo Schritt für Schritt die Lichter ausgehen. 

Zumindest meint das Christian Hommel (EM-Mitglied) beim Gespräch mit der Moderatorin Martina Seeber.


Michael Wendeberg (Dirigent), Ensemble Modern
Foto: H.boscaiolo 

Anklage an das satte Bürgertum

Die Dritte Bagatelle, ein Lamento, nennt Huber Traummechanik – Wirren und ist gedanklich mit Schumanns Fantasiestücken op.12 verbunden. Sie enthält ein immer wiederkehrendes, ostinates barockes Modell des Passus Duriusculus, eine vierfach chromatische Abwärtsbewegung. Rhythmische Verschiebungen, Dehnungen und Stauchungen (Modulationen) zwischen Klarinette, Fagott, Cello, Harfe und Kontrabass, lassen das weitgehend auf Einstimmigkeit basierende Stück zum „einfachen“ romantischen kantablen Spiel werden.

In der Vierten Bagatelle herrscht ein Tango vor. Fragmentiert in Rhythmus und Ton zwar, aber gewaltig von Trommelwirbel, Straßenmusik und Lärmzuspiel begleitet. Eine Panflöte erinnert an die Herkunft des Tanzes, aber kontrastiert wird sie durch Johann Wolfgang von Goethes Gedicht: „Über allen Gipfeln ist Ruh, in allen Wipfeln spürest du, kaum einen Hauch. Die Vöglein schweigen im Walde. Warte nur, bald ruhest auch du.“ Des Wanderers Nachtlied wird in dieser Bagatelle zur Anklage gegen das satte Bürgertum. Ein drohendes Deklamieren aller Instrumentalisten, mit Betonung auf „Ruhe!“ und Fragezeichen hinter „Bald ruhest auch Du??“. Ein politischer Aufruf zum Frieden und - dass die Vöglein nicht zu Galgenvögeln mutieren. 


Quintett des Ensemble Modern (Foto: H.boscaiolo)

Die Helden der Friedensbewegung

In der Fünften Bagatelle kehrt wieder Ruhe ein. Huber nennt sie „Hardedged Adagio“. Man hört hier lediglich diverse Geräusche von Geige, Cello, Oboe oder Kontrabass. Dazwischen Rasseln, Reiben und Beckenschläge des Perkussionisten. Das Ganze ist ein zwölfteiliges Klangblock-Ereignis (Huber), das mit einem Weckerrasseln endet.

Höhepunkt ist die Romanze, die Sechste und letzte Bagatelle. Auch sie ist politisch gedacht und richtet sich an die Helden unserer Tage, wie Huber schreibt. Nämlich an die, die für den Frieden kämpfen. 

Es Zupft und Reißt an den Saiten der Streicher, ein Walzer-Rhythmus ist zu hören, dann wieder jazzige Synkopen. Huber spricht von Assonzreimtechnik, wenn er drei der Instrumentalisten Sätze wie: „Eine hält die Ohren sich zu“, „Eine stopft sich Watte in die Ohren“ oder „Eine verfällt in den Wahnsinn“ ausrufen lässt. Schließlich endet dieser Teil mit einem Hanns Eisler Song aus: „Schweyk im Zweiten Weltkrieg“ (Bertolt Brecht) Schwarzer Rettich, Ironie pur.

Tiefsinnige Frage des Komponisten: „Versucht man nicht auch unsere Friedensbewegung vielschichtig … zu bagatellisieren?“ Das könnte auch gestern geschrieben sein.


Die Kraft des Schwindels

Das Gespräch zwischen Christian Hommel und Martina Seeber konzentrierte sich, erfrischend kurz, zunächst auf La Force du Vertige, das dann vom EM-Quintett mit Jaan Bossier (Klarinette), Dietmar Wiesner (Flöte), Jagdish Mistry (Violine), Nathan Watts (Violoncello sowie Vitalii Kyianytsia (Klavier) interpretiert wurde.

Auch hier herrscht die konzeptuelle Rhythmus Technik vor. Die Idee der Kraft des Schwindels, entnommen aus dem gleichnamigen Buch André Glucksmanns (1937-2015) und der Aussage Jean-Paul Sartres (1905-1980), wonach Schwindel die Angst sei, „sich selbst in die Tiefe zu stürzen“, wird in diesem 15-minütigen Werk zu einem Kunststück der Modulation von Rhythmen mit verschobenen Intervallen von Mikro- bis Makrobereichen sowie extremen Akzentwechseln und ausgedehnten Repetitionen.

Alles mit kurzen Hörbeispielen und Aussagen des Komponisten, allerdings vom Tonband, unterlegt. Ein Meisterwerk dieses Kompositionsstils.


Vorne v. l.: Nicolaus A. Huber, Michael Wendeberg, Ensemble Modern
Foto: H.boscaiolo

Eine weite Reise voller Fragezeichen“

Die Frage, ob Hubers Musik den Menschen verändert, beantwortet Christian Hommel mit, na ja, einer wachsender Offenheit für alle Dinge und Erfordernisse des Lebens.

La Force du Vertige, so die Moderatorin nach der musikalischen Vorstellung, kommt einem vor wie „eine weite Reise, voller Fragezeichen, Überraschungen“ und mitunter wie ein „Unfall“. Dennoch sei es „humorvoll“, „witzig“ und durchaus von „großer Empathie“ und „Aussagekraft“. Dem gibt es nichts hinzuzufügen. 

Auch wenn diese Bagatellen und die "schwindelerregende Konfrontation mit sich selbst", erst nach mehrmaligem Hören und Besprechen Eingang und Verständnis in die Feinstruktur dieser  Miniaturen und rhythmischen Figuren gefunden haben.


vorne v. l.: Michael Wendeberg, Martina Seeber, Christian Hommel,
Ensemble Modern
(Foto: H.boscaiolo)

Eine Ikone der zukunftsweisenden Musik

Das zweite Vorspiel der Sechs Bagatellen war denn auch von größerem Verständnis begleitet. Auch spielten die Akteure freier und gelöster. Der Dirigent Michael Wendeberg, ein ausgewiesener Fachmann für die neue Musik und in Frankfurt bereits bestens bekannt durch seine musikalische Leitung der Oper Blühen (25.01.2023) von Vito Zuraj (*1979) und der Happy New Ears Werkstatt (26.01.2023), leitete das Ensemble mit lockerer Hand und trug nicht unwesentlich für die wieder einmal exzellente Darbietung der Kompositionen durch das Ensemble Modern bei. Es waren zwölf an der Zahl an diesem Werkstatt-Abend, und alle zwölf ein musikalisches Gedicht wert. 

Nicolaus A. Huber kam zum Abschluss auf die Bühne, bescheiden und zurückhaltend, wie gewohnt, aber eine Ikone der zukunftsweisenden Musik.


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