hr-Sinfonieorchester mit Alain Altinoglu (musikalische Leitung) und Francesco Piemontesi (Klavier), Alte Oper Frankfurt, 10.10.2024
Alain Altinoglu, Francesco Piemontesi, hr-Sinfonieorchester (Foto: Janina Schmid) |
Statt „Abonnement Reihe“ wie bisher, nennen sich ab dieser Spielzeit die hr-Sinfoniekonzerte in der Alten Oper Frankfurt „Große Reihe“, worunter anregende Programme aus dem großen Sinfonischen Repertoire und außergewöhnliche Konzertereignisse, wie Novitäten und Raritäten verstanden werden. So auch im ersten Konzert dieser Art. „Gleich zweimal die Nummer 5“, heißt es lapidar im Programm und gemeint sind das Fünfte Klavierkonzert Es-Dur op. 73 (1809/11) von Ludwig van Beethoven (1770-1827), interpretiert von Francesco Piemontesi (*1983) am Flügel und die Fünfte Sinfonie (1901/02) von Gustav Mahler (1860-1911). Zwei monumentale Werke, die Musikgeschichte geschrieben haben.
Lange Realisierungsdauer
Warum der lange Zeitraum zwischen der Beendigung des Klavierkonzerts und seiner Uraufführung im Jahre 1811, eigentlich sogar erst 1812?
Dazu muss man vorausschicken, dass Beethoven, eigentlich ein großer Bewunderer der französischen Revolution und seines Protagonisten Napoleon, zurzeit der Niederschrift dieses Werkes miterleben musste, wie seine zweite Heimat Wien von französischen Truppen besetzt und die Stadt in Elend und Gewalt gestürzt wurde. Seine Freunde und Gönner bereits nach Ungarn geflohen waren und seine Begeisterung dadurch doch arg in Mitleidenschaft gezogen war.
Der Sieg der Freiheit des Bürgertums gegen die Adelsherrschaft hatte gewaltige Risse erhalten, was sich allerdings nur mittelbar in seinem ausgedehnten Schaffen auswirkte. So schrieb er quasi zeitgleich seine Fünfte und Sechste Sinfonie, seinen Egmont und nicht zuletzt drei seiner insgesamt 32 Klaviersonaten, op. 78, op.79 und op.81 (Les Adieux), die wohl alle eher großen Optimismus statt Trauer oder Verzweiflung ausstrahlen.
Allerdings lag das Werk wegen der Kriegs- und Besatzungszustände erst einmal bei Breitkopf & Härtel auf Lager, ehe es im Januar 1811 privat von Josef Lobkowitz und schließlich 1812 vom Beethoven Schüler Carl Czerny im Wiener Theater am Kärtnertor endlich öffentlich uraufgeführt werden konnte.
Alain Altinoglu, Francesco Piemontesi, hr-Sinfonieorchester (Foto: Janina Schmid) |
Heroisch – majestätisch
Es ist das letzte Klavierkonzert aus den Händen Beethovens, der zu dieser Zeit bereits nahezu völlig ertaubt war, was auch erklärt, dass er, wie davor üblich, nicht mehr persönlich am Klavier saß.
Francesco Piemontesi zeigte sich bereits im Vorgespräch mit Frau Christiane Hillebrand sehr gut informiert und spielte dieses Konzert mit großer gedanklicher Tiefe und, so der Absicht des Komponisten folgend, mit heroischem und majestätischem Impetus.
Stimmig und intensiv
Gleich zu Beginn die Solokadenz, unterbrochen von vier orchestralen Akkorden in der Tonika, Subdominante, Dominante und Tonika. Spannungsgeladen von größter Virtuosität.
Dann das kontrastierende Seitenthema des Orchesters, mehr als 50 Takte lang, ehe der Pianist mit einem chromatischen Lauf in das Geschehen eingreift. Alles in der Struktur der Sonatenhauptsatzform, aber doch sehr eigenwillig, denn, ab jetzt verkehrt er eher dialogisch, ja gleichberechtigt mit dem Orchester beziehungsweise mit einzelnen Orchestergruppen. Viele Passagen erinnern an Beethovens Appassionata und Waldstein Sonate, aber auch Elemente der Les Adieux und der Sonaten aus dem gleichen Jahr sind herauszuhören.
Francesco Piemontesi spielt auswendig und sehr eng an das Orchester wie den subtil agierenden Alain Altinoglu orientiert. Hier ist alles stimmig und ungeheuer intensiv.
Francesco Piemontesi (Foto: Janina Schmid) |
Spiel von großer Empathie
Der zweite Satz, ein ergreifendes Adagio un poco moto, ist in der terzverwandten H-Dur Tonart geschrieben und erinnert bereits an Frederic Chopin oder auch Franz Liszt, die diese Tonart bevorzugten. Piemontesi glänzt hier durch ausgeprägte melodische Ausformulierungen mit langen Phrasen im Legato und einem Pianissimo, dass eine fallende Stecknadel im vollbesetzten Großen Saal der Alten Oper hören ließ. Ein Morendo leitet attacca das Schlussrondo ein.
Etwas unheimlich, bruchstückhaft motivisch, dann Fermate zur Atmung, ein exorbitanter Vulkanausbruch. Piemontesi treibt mit unglaublichem Elan das Orchester vor sich her. Beide aber scheinen es zu wollen, denn beide spielen das Spiel mit großer Empathie. Selbst der Dirigent, Alain Altinoglu, hat seinen Spaß an diesem Tanz der Derwische.
Francesco Piemontesi, hr-Sinfonieorchester Foto: H.boscaiolo |
Aufbruchsstimmung – Resignation – Zeitgeist
Beethoven hält sich zwar auch hier am Schema des Rondo Satzes A-B-A-C-A-B-A, aber vermischt ihn auch ohne Probleme mit der Sonatenhauptsatzform. Alles dreht sich fröhlich und ausgelassen um das Hauptthema, hier wieder in Es-Dur, und endet in einem ungewöhnlichen Dialog zwischen Klavier und Pauke, der im Aufbäumen des Pianisten und einem triumphalen Schlusspunkt des Orchesters endet.
Francesco Piemontesi und das hr-Sinfonieorchester sowie ihr musikalischer Leiter Alain Altinoglu haben Beethovens Stimmungslage prächtig zum Ausdruck gebracht. Große Aufbruchstimmung, gepaart mit leichter Resignation im zweiten Satz, aber überbordendem Optimismus im Finale, könnten auch den Zeitgeist heute widerspiegeln.
Immerhin ist dieses weltweit äußerst beliebte Klavierkonzert auch Vorbild für spätere Komponisten wie Johannes Brahms, Sergej Rachmaninow, Igor Strawinsky oder auch Hans-Werner Henze gewesen.
Zwei Zugaben schenkte Piemontesi dem begeisterten Publikum: Einmal eine Bearbeitung von Wilhelm Kempff des Bachchorals „Wachet auf!“ und von Friedrich Händel das Schlussmenuett aus dessen B-Dur Suite. Piemontesi verdient durchaus das Prädikat „Klangzauberer“, wie ihn die Neue Züricher Zeitung bezeichnete, was er durch die beiden Zugaben wundervoll belegte.
Francesco Piemontesi, hr-Sinfonieorchester Foto: H.boscaiolo |
"Die Musik ist in mir" – absolute Musik
Mahlers Fünfte entsteht ebenfalls in einer Zeit des Umbruchs. Hier allerdings des persönlichen. Denn er lernt Alma Maria Schindler kennen, seine spätere Frau, feiert größte Erfolge mit seiner Dritten Sinfonie und last but not least entscheidet er sich, das musikalische beziehungsweise literarische Programm beiseite zu legen und fortan lediglich absolute Musik zu schreiben: „Die Musik entsteht ohne äußeren Anlass. Sie ist in mir … Es geht in mir um, es soll werden“, lässt er schon vor Beginn dieser Komposition verlauten.
Alain Altinoglu, Francesco Piemontesi, hr-Sinfonieorchester Foto: H.boscaiolo |
Es werden fünf Sätze in drei Abteilungen gegliedert, wovon die erste und die dritte aus zwei Paaren bestehen, die strukturell verknüpft sind und jeweils in einer Choralpassage enden.
Sicher ist Mahler Sohn seiner Zeit, der die Widersprüche mit und in sich trägt und die Zerrissenheit und wachsende Aufregung des Fin de Siècle mit seinen sozialen, politischen und kulturellen Brüchen und Verzerrungen, die sich zum Ersten Weltkrieg zuspitzen, durchaus in seine Musik einbringt.
Trauermarsch – größte Vehemenz
So ist der Einstieg bereits ein gewaltiger Trauermarsch in cis-Moll. Eine Trompetenfanfare bestimmt das Motiv dieses Satzes, begleitet von Militärtrommel, Trompeten und Posaunen. Man ist förmlich an den Beginn des Generalmarsches der österreichisch-ungarischen Armee erinnert.
Die ganze Einleitung ist von großer Strenge, kontrapunktischer Struktur und ausbruchsartigen Unterbrechungen durchzogen und endet nach einem wahrhaftigen Zusammenbruch in einem Morendo, einer immer leiser werdenden Fanfare bis zum dreifachen piano.
Es folgt der eigentliche Hauptsatz. „Stürmisch bewegt. Mit größter Vehemenz“ heißt es bei Mahler. Es herrscht ein Sommerunwetter mit Blitz, Donner und Regenmassen. Zwischendurch glaubt man, einen Ländler herauszuhören. Dann wieder extreme Ausraster mit einem folgenden Walzerrhythmus, direkt aus dem Wiener Heurigen-Garten.
Es ist ein Satz, dessen Dissonanzen und frei tonale Passagen die Grenzen der Tonalität zu überschreiten scheinen, obwohl das a-Moll vorherrscht, eine Tonart der Melancholie und Trauer, hier aber eher der Wut, des Widerstands und der Aufmüpfigkeit.
Zweifel am Sinn des Dasein
Furtwängler empfand diesen Satz so pessimistisch, dass er am Sinn des Daseins zweifelte. Die Interpretation des Dirigenten, Alain Altinoglu, zielte aber eher auf eine vorgezogene Apotheose ab, eine Art triumphalen Höhepunkts, der sich in einem stark von den Blechbläsern dominierten Choral austobte. Der Satz endet zwar im Pianissimo, lässt aber den Gefühlen des Publikums freien Lauf. Man klatschte vehement, obwohl man gebeten wurde, es zu unterlassen.
Alain Altinoglu, hr-Sinfonieorchester Foto: H.boscaiolo |
Wie Filmmusik
Die Zweite Abteilung besteht aus einem Scherzo und bildet den eigentlichen dritten Satz. Er gehört mit über 800 Takten und zwei Trios zu Mahlers längstem überhaupt. Nicht zu schnell soll er sein. Er ist durchsetzt mit Ländlern und Walzermelodien. Mahler arbeitet hier hauptsächlich kontrapunktisch (Bach war sein großes Vorbild), polyphon und lässt die einzelnen Instrumentengruppen, wie auch Solisten immer wieder in den Vordergrund treten. Vielfach ist man an Filmmusik erinnert und lässt dramatische Szenen im Geist vorüberziehen.
Auch dieses Scherzo schafft eine Menge Verständnisprobleme, was selbst ihrem Schöpfer aufzufallen schien, wenn er von einem „verdammten Satz“ spricht. Mit über 20-Minuten Dauer verlangt er tatsächlich viel vom Hörer ab, was aber das Orchester mit großer Präzision, wunderbaren Soloeinlagen und perfektem Zusammenspiel weitgehend ausgleichen konnte.
Zwischen Traum und Heiterkeit
Das berühmte Adagietto, bekanntlich die Filmmusik zu Pier Paolo Pasolinis Tod in Venedig (1971), ließ noch einmal durchatmen und genießen. Sphärisch wurde es. Streicher und Harfe bezauberten die aufgewühlten Geister und ließen vielleicht auch Träume zu. Eine wunderbare Abwechslung zur vorhergehenden Aufruhr, bevor es attacca, quasi übergangslos, in das Schlussfinale ging.
Ein Rondo Allegro giocoso voller Heiterkeit und Charakterstärke. Kein Hauch mehr von Trauer, militärischer Ordnung oder gar Resignation. Hier singt es aus dem Wald, Naturlaute schaffen eine befreiende Atmosphäre. Dann eine vierstimmige Fuge mit langer Thematik und ausgelassener Stimmung. Man ruft sich zu, witzig und verspielt, alles strotzt vor Übermut.
Noch einmal wechselt der Rhythmus von dreiviertel auf Vierviertel, Melodiesplitter aus dem Adagietto sind zu hören, jetzt aber weniger verträumt, eher mit Bodenhaftung. Das Orchester spielt sich in einen Rausch, lärmend mit grenzenlosem Jubel. Die Apotheose rekurriert aufs Scherzo und den zweiten Satz der ersten Abteilung. Ein triumphaler Choral, eine Hymne ans Leben und die Freude beendet das gut 70-minütige Monumentalwerk.
Alain Altinoglu, hr-Sinfonieorchester Foto: H.boscaiolo |
Ein verfluchtes Werk – Fülle von Schönheiten
Ein bisschen kann man verstehen, dass diese Sinfonie zunächst nicht recht verstanden wurde und ein Hamburger Rezensent 1905 festhält: „Die Fünfte ist ein verfluchtes Werk. Niemand kapiert sie.“
Heute gilt sie als die beliebteste Sinfonie Mahlers mit einer Fülle von Schönheiten. Beide Auffassungen bilden lediglich Grenzbereiche ab.
Es kommt auf die Interpretation an. Und da hat Alain Altinoglu beste Arbeit geleistet, wobei ihm das hr-Sinfonieorchester mit größter Empathie und Entschlossenheit zur Seite stand. Eine in Teilen schwierige Komposition, aber dafür eine mit wunderschönen Einfällen und einem ausgesprochenen Ideenreichtum.
Der Beifall war lang und herzlich.
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