Orpheus und Eurydike, Oper in drei Akten von Willibald Gluck (1714-1787), Fassung von Hector Berlioz 1859 in vier Akten, in französischer Sprache, Staatstheater Darmstadt, 20.10.2024 (Premiere 06.10.2024)
v. l.: Jana Baumeister (Eurydike), Lena Sutor-Wernich (Orpheus) (alle Fotos: Bettina Stöß) |
Etwas völlig Neues
Im Jahre 1762 erfuhr diese Oper ihre Uraufführung am Wiener Theater an der Hofburg. Und das mit mäßigem Erfolg. Der Grund dafür ist einfach zu nennen: Das konservative Wiener Publikum war die Opera seria und buffa gewöhnt. Willibald Gluck und sein kongenialer Librettist Raniero de Calzabigi (1714-1795) kreierten mit dieser Aufführung nämlich völlig Neues. Weg vom Manierierten, Realitätsfernen der italienischen Oper, wünschten sie sich Drama pur auf der Bühne, das heißt „echte Empfindungen“ statt unbedeutende Intrigen, „Einfachheit der Handlung“, statt Verwirrung durch Nebenfiguren, wahre Poesie und „Gesang als Ausdruck der Seele“ statt äußerlichem Virtuosentum (in diesem Sinne von ihm selbst formuliert).
Marie Smolka |
Orpheus über allem
Bekanntlich ging Willibald Gluck sehr bald nach Frankreich, überarbeitete mehrmals diese Oper (die Besetzungen des Orpheus wechselten zwischen Sopranen, Alt, Kastraten, Counter, Tenören und Baritonen), ergänzte sie durch Ballette, kürzte oder erweiterte einzelne Nummern, kurz: Die Oper eroberte sehr bald die Welt und dürfte damit die älteste Oper sein, die sich ohne Unterbrechung bis heute erhalten hat. Über 60 Orpheus Opern sind bekannt.
Mischfassungen – ein Verbrechen?
Die Berlioz´sche Rezeption von 1859, im Pariser Théâtre-Lyrique erstmals aufgeführt, orientiert sich im Wesentlichen an der italienischen Fassung von 1774, dennoch ergänzt durch einen Vierten Akt, trotz Streichung mehrerer Nummern, und der Änderung des Schlusschors. Statt der ursprünglichen gut zwei bis zweieinhalb Stunden Dauer ist sie in dieser Fassung nur noch 90 Minuten lang. Die Musik allerdings ist im Original erhalten.
Nicht von ungefähr beherrschen diese Oper unzählige Mischfassungen und Kritiker sprechen nicht zu Unrecht von einem „musikalischen und dramaturgischen Verbrechen an Gluck und Calzabigi“.
hinten; Marie Smolka, Jana Baumeister, vorne: Lena Sutor-Wernich, Marcos Abranches |
Viel Psychologie - allzu viel
Was aber hat das Regieteam des Staatstheaters Darmstadt aus dieser Fassung gemacht?
Orpheus, die dominante Figur der Operngeschichte, er, der nicht allein die Menschen, die Tierwelt und die Natur mit seinem Gesang betört, sondern auch die Götter der Unter- wie der Oberwelt, wird in der Lesart dieser Inszenierung zum "Problem". Zwar trifft er seine viel zu früh verstorbene Geliebte Eurydike im Hades, aber kann sie nur unter der Auflage, sie nicht anzublicken, bis sie beide das Oberreich erreicht hätten, wiedergewinnen. Orpheus kann diese Auflage bekanntlich nicht erfüllen.
Zwischen Verzweiflung und Selbstmordgedanken hin und hergerissen, verkörpert er in der neuen Lesart das Leiden der Künstler schlechthin. Dazu der Regisseur Søren Schuhmacher: „Mich interessieren die Kollateralschäden auf dem Weg zum Ruhm … Orpheus ist für mich eine Geschichte über das Kunstschaffen mit all seinen schönen Seiten und seinen Abgründen.“ (aus dem Programm)
Amor, der Liebesgott erhält dabei eine Schlüsselrolle. Er ist nicht nur Vermittler zwischen Diesseits und Jenseits, sondern er ist selbst befangen in der Liebe zu Orpheus und wird daran schlussendlich scheitern. Auch in ihm komme, so der Regisseur, „eine dunkle Seite zum Vorschein“.
Dann hat man sich für eine vierte Person entschieden, den Mort/Psyche. Eine Figur, die „das Dunkle in Orpheus, Ehrgeiz, Eitelkeit, Versagensängste, Ruhmsucht, Egomanie, Todessehnsucht“ verkörpern soll. Gespielt von einem an spastischer Lähmung leidenden Choreographen und Tänzer, Marcos Abranches.
v. l.: Jana Baumeister, Marie Smolka |
Schlicht – der Thematik angepasst
Die Bühne und die Kostüme (Norbert Bellen) sind schlicht und wohl dem Budget des Staatstheaters angepasst. So sieht man auf eine Rampe, die über eine Freitreppe auf die obere Bühne führt, dazu ein umgedrehtes Boot, sieben Stühle und ein riesiges Tor im Hintergrund mit weißem und rotem Rauch, je nach Szenenverlauf. Die Kostüme sind dem 18. Jahrhundert abgeschaut. Lediglich Amor wechselt zwischendurch auf offener Bühne sein Outfit ins Modernere, was wie eine Häutung erscheint. Alles schlicht, aber der Thematik weitestgehend angemessen.
Viel Fantasie erforderlich
Orpheus wird gesungen und gespielt von Lena Sutor-Wernich, eine Mezzosopranistin, die ihre Rolle engagiert ausfüllte, jedoch vor allem in der Tieflage wenig Volumen zeigte und irgendwie mit angezogener Handbremse zu singen schien. Auffallend schön, aber sehr leise, ihre Koloraturen, vor allem am Schluss des ersten Aktes und ordentlich ihre Klage-Arie am Ende des dritten Aktes: „Ach ich habe sie verloren!“
Trotz großem schauspielerischen Temperament wurde ihre von der Regie angedachte Widersprüchlichkeit nie wirklich erkennbar. Ihre Kämpfe mit Marcos Abranches waren eher zu deuten als Einlassrangelei in die Unterwelt mit Cerberus. Vieles blieb der Fantasie überlassen, ohne auf der Bühne sichtbar und, so Gluck, „echte Empfindung“ und gesanglicher „Ausdruck der Seele“ werden zu lassen.
Die Figur des Mort/Psyche entpuppte sich mehr und mehr als konstruiertes psychologisches Konstrukt einer verletzten Seele, die aber nie in einer wirklichen Verbindung zur Figur des Orpheus stand.
Ein menschlicher, allzu menschlicher Amor
Amor, gesungen von der Sopranistin Marie Smolka, gehörte zum eigentlichen Höhepunkt dieser Vorstellung. Nicht allein ihre glockenreine Stimme war es, sondern auch ihr schauspielerisches Talent. Ihre Rolle als Vermittlerin zwischen Schatten- und realer Welt, aber auch ihre Widersprüchlichkeit von Eigeninteresse und objektiver Aufgabe, das Liebespaar zusammenzuführen, endete in totalem Nervenzusammenbruch.
Als schwarzer Engel erschien sie im vierten Akt, rettete das Paar, das auf dem Nachen zusammenkam, kann aber ihren Wunsch, selbst geliebt zu werden nicht erfüllen. Verzweifelt kritzelt sie AMOR VINCIT OMNIA (die Liebe besiegt alle) auf die Rampe, enthäutet sich abermals, indem sie ihre Flügel und das Oberteil ihres clownesken Anzugs abwirft, verschwindet langsam im Schatten der Unterwelt, Hochzeitssträuße werden ihr zugeworfen, begleitet vom Mort/Psyche.
Jetzt ein Liebespaar der Verzweiflung? Man weiß es nicht. Allerdings, und das sei bemerkt: Ihre Mozartische Schlussarie: „Das Schicksal verdammt mich zu schweigen“ (aus: KV 418, Vorrei spiegarvi, o Dio - Gern würde ich euch erklären, oh Gott) war gesanglich das Beste dieser Aufführung.
Lena Sutor-Wernich (Orpheus) |
Diskrepanz von Wille und Vorstellung
Die Rolle der Eurydike, hier gesungen von der Sopranistin Jana Baumeister, erfuhr ihren Höhepunkt natürlich im dritten Akt. Die schier unlösbare Rückführungsaufgabe ihres Geliebten interpretiert sie als mangelnde Liebesbezeugung. Im Qual-Duett der beiden Protagonisten: Sie besingt die Grausamkeit ihres Schicksals, er die Grausamkeit seiner Prüfung, zeigt sie sich gesanglich auf der Höhe und glänzt durch Lyrik und warmen Timbre. Ihre Rolle allerdings bleibt insgesamt ebenfalls im Unklaren. Der Moment des Umdrehens wird hier nicht, wie erwartet, zum Epizentrum des Geschehens, sondern eher zu einem Moment unter Vielen.
Hier hapert die Absicht des Teams, das psychologische Innenleben der Protagonisten nach außen zu führen. Im Klartext: Eurydike geht ab und verschwindet hinter dem Gaze-Vorhang, Orpheus singt seine Klage-Arie. Eine Szene, die nicht gerade umwirft.
Wie gesagt, viel Fantasie ist bei dieser Aufführung angesagt, wenig davon auf der Bühne realisiert.
Jana Baumeister (Eurydike) |
Wenig Handlung, wenig Drama
Eigentlich besteht die Oper aus Chor, Ballett, Hirten, Furien, Bewohnern der Unterwelt wie denen des Elysiums. All das scheidet bei dieser Inszenierung aus. Das Geschehen konzentriert sich auf die vier genannten Darsteller und Sängerinnen. Die Dämonen und Schattenchöre kommen vermutlich vom Tonband (einstudiert von Alice Meregaglia, niemand erscheint beim Schlussapplaus auf der Bühne) und gerade hier liegt die Statik, die mangelnde Bewegung und die fehlende dramatische Zuspitzung quasi in der Natur der Sache. 90 Minuten geschieht eigentlich so gut wie nichts auf der Bühne, da kann die Choreographie des Marcos Abranches und die Lichtkunst des Bernd Purkrabek auch nichts retten.
Lena Sutor-Wernich, Marie Smolka |
Die Musik rettet alles
Großes Lob abschließend an die musikalische Leitung von Nicolas Kierdorf. Er und sein Orchester waren bestens vorbereitet, spielten die Intermezzi, die Nummern, die Rezitative Accompagnati und die Begleitungen der Gesangsoli mit ausgereifter Technik und angemessener Zurückhaltung, vor allem bei den doch eher kammermusikalischen Stimmen der Sängerinnen. Glucks Musik kann heute noch begeistern und gerade sie ist es glücklicherweise, die vollständig nach der Urfassung von 1762 gespielt wird.
Der Beifall war herzlich, wie immer in Darmstadt. Die Mängel dieser Inszenierung kann das aber nicht vertuschen.
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