Samstag, 30. November 2024

Broken Bob, Zwei Choreographien von Imre & Marne van Opstal und Xie Xin, Staatstheater Wiesbaden, Erstaufführung 29.11.2024


I am Bob, Tanzkompanie (Foto: Andreas Etter)

Zwei Choreographien – diametral unterschiedlich

Broken Bob ist eine Wortkombination aus zwei Choreographien dieses Tanzabends im großen Saal des Staatstheaters Wiesbaden und beinhaltet schlicht das erste und das letzte Wort beider Titel. So heißt die Performance der Chinesin Xie Xin Broken Sense of Beauty (zu deutsch: gebrochener Sinn der Schönheit) und diejenige des holländischen Geschwisterpaares Imre und Maren van Opstal I am Bob.

Beide Choreographien behandeln menschliche Urprobleme, wie Anpassung, Unterwerfung, Autonomie und Widerständigkeit, beide gehen tief ins Philosophische, nämlich der Frage nachgehend, wie der Mensch sich in außergewöhnlichen Situation verhält, verhalten sollte.

Hier finden beide Choreographien in gewisser Weise zusammen. Auch wenn der Blickwinkel des Geschwisterpaares Imre & Marne van Opstal und der von Xie Xin diametral unterschiedlich ist, was allerdings den Tanzabend zu einem höchst interessanten Ereignis machte.



I am Bob, Tanzkompanie (Foto: Andreas Etter)

Teil eines riesigen Räderwerks

Gehen wir ins Detail:

I am Bob (18.10.2024) eine Koproduktion mit Amos Ben Tal (Musik), Tom Visser (Bühne und Licht) sowie Lucas Herrmann (Dramaturgie) mit sechzehn Tänzerinnen und Tänzer, ist ein Ausbund an Energie und sportlicher Dynamik. Der Mensch, alias Bob, wird hier in seine Einzelteile zerlegt. Er ist Teil eines riesigen Räderwerks, dem er scheinbar nicht entringen kann. 

Modern Times mit Charly Chaplin lässt grüßen. Ein Problem also, das die Massengesellschaft, ihre bürokratischen Zwänge und die kapitalistische Mehrwertproduktion seit mehr als hundertfünfzig Jahren beschäftigt.


I am Bob, Tanzkompanie (Foto: Andreas Etter)

Wir sind Bob

„Bob“ sind wir alle und die Absicht der Choreographen ist es, dem Publikum diesen Zustand bewusst zu machen und es dazu zu bringen, über seine eigene Rolle in der Gesellschaft nachzudenken.

Ein hehres Anliegen, das erst einmal großen Eindruck macht. Denn die 16 Akteure auf der minimalistischen Bühne, sie besteht lediglich aus einer hoch stufigen Treppe, müssen im Gleichschritt und völlig synchron rückwärts, seitwärts, vorwärts, quasi im Stechschritt rauf und runter steigen, ein Kraftakt, den selbst Hochleistungssportler im Training selten absolvieren, weil extrem belastend. Und das bei treibender pochender E-Musik und bedrohlichen Maschinengeräuschen.


I am Bob, Tanzkompanie (Foto: Andreas Etter)

Viel Absicht – wenig Wirkung

Ein fast vierzig minütiges Spektakel, das mitunter an die Zeit des Aerobic, an das dynamische, nahezu militärische Fitnesstraining mit entsprechender motivierender Musik der 1980er Jahre, erinnerte. Die Kostüme mit starker Affinität zur Tarnuniform der Soldaten taten ihr Übriges.

Auch die zwischenzeitlichen „Ausbrüche“ einzelner Solisten und auch Gruppen, die den individuellen Ausbruch aus dieser Zwangsjacke kreieren sollten, waren eher akrobatische Einschübe, allerdings von bester Technik.


I am Bob, Tanzkompanie beim Schlussapplaus
Foto: H.boscaiolo

Düster, aber perfekt durchgestylt

Viele Halte- und Tragetechniken ließen nur staunen. Die „Fratzen-Szene“, wo alle sechzehn bei besten Lichteffekten ihre Gesichter extrem verstellt dem Publikum zeigten, erschreckte eher, als dass sie zum Lachen, wie beabsichtigt, animierte.

Überhaupt, Lachen, Schreien, Balzen und Weinen, lautes Rufen der Tänzer von schwer verständlichen Begriffen, wie unter anderem „Silence“, „Welfare“, „Fact“, „Work“ bis zu, „I am Bob“, wie auch der ständige rhythmische Wechsel zwischen 80 bis 120 lauten Beats und zwischendurch Drei-Ton Einschübe mit angedeuteten Gitarrenriffs, konnten nicht den düsteren Charakter dieser Performance übertünchen.

Ein insgesamt perfekt durchgestyltes Gesamtkunstwerk - großes Lob auch an die gelungenen Lichteffekte - mit sehr gut durchtrainierten Tänzern, aber irgendwie doch mit wenig Wirkung, zumindest für den Schreiber dieser Zeilen.


Broken Sense of Beauty: Tänzerinnen und Tänzer
(Foto: Andrea Etter)

Tragödie von außerordentlicher Intensität

Die Frage des Warum kann am besten Broken Sense of Beauty (18.10.2024) von Xie Xin beantworten. Sie ist nicht nur eine feinsinnige, sondern auch eine absolut philosophisch denkende Künstlerin. Mit ihrem genialen Team um Sylvian Wang (Musik), Hu Yanjun (Bühne), Li Kun (Kostüme) Gao Jie (Licht) und Lucas Herrmann (Dramaturgie) zauberte sie eine Tragödie von außerordentlicher Intensität auf die Bühne.

Sie beschreibt ihre eigene aktuelle Geschichte. Denn Anfang dieses Jahres ist ihr Studio in Shanghai gänzlich abgebrannt, hat scheinbar ihre gesamte Existenz zerstört, und vor allem ihr Herz gebrochen. Was aber macht sie daraus? Ganz im chinesischen Taoismus und Konfuzianismus verankert, spricht sie davon, dass man im Annehmen des Schicksals selbst an Größe gewinnen kann. 

Das Leben hinterlässt Narben von Geburt an bis zum Tode. Wir aber, so Xie Xin, können nur unsere Persönlichkeit entfalten, wenn wir die Schicksalsschläge annehmen und daraus neue Perspektiven entwickeln. Ihre Choreographie sei ein Weg in diesem Sinne.


Broken Sense of Beauty: Tänzerinnen und Tänzer
(Foto: Andrea Etter)

Gebrochene Schönheit

Hierin suche sie einen neuen Blick für Schönheit zu gewinnen, denn „wenn du über einen gebrochenen Sinn für Schönheit nachdenkst, lässt du alles zu und wirst selbst größer.“

Gut dreißig Minuten eine Expression an Emotionalität, Eleganz und mitunter auch gebrochener Schönheit. Drei Vorhänge dominierten das Bühnenbild mit ausgesprochen chinesisch anmutenden Gemälden. Sie changierten zwischen Reinheit, Narbenbildung und Asche bzw. Zerstörung. Ein Lebenslauf vor und nach dem Studiobrand.

Die Musik voller filmmusikalischer Effekte war feingliedrig auf den Tanz abgestimmt mit ostinaten Motiven vom Klavier, dem Cello und den Streichern. Elegant tanzten die drei Paare zunächst in wallenden weißen, aber auch rot und blau angestrahlten, antiken Gewändern. Man war zwischendurch an einen Tempeltanz zu Ehren der Götter erinnert.


Broken Sense of Beauty: Tänzerinnen und Tänzer
(Foto: Andrea Etter)

Gefahr benannt – Gefahr gebannt

Dann ein Wechsel der Stimmung. Der zweite Vorhang wird dominant, es fallen Sterne von der Decke der Bühne, die Pas de Deux´ werden hektischer, der Klang der Musik wird rauschhafter und das Licht gedämpfter.

Die sogenannte Entblätterungsszene folgt sukzessive: Die Tänzer entledigen sich der Gewänder und zurück bleiben schmutzige Unterkleider in graubrauner Asche, allerdings von großer Ästhetik. Der dritte Vorhang, jetzt im Vordergrund ist löchrig und in Asche-Farbe.

Der Tanz der Sechs wird höchst emotional, man tanzt absolut innig miteinander und bildet Skulptur-ähnliche-Posen. Wunderschön anzuschauen. Gefahr benannt, Gefahr gebannt, möchte man meinen, denn das Licht lässt die Tänzerinnen und Tänzer als Schattenfiguren erscheinen, wobei gleichzeitig der Vorhang fällt.


Broken Sense of Beauty:
Tänzerinnen und Tänzer beim Schlussapplaus
Foto: H.boscaiolo

Westliche und Östliche Philosophien

Quasi ein gedankliches und geistiges Gegenstück zu I am Bob von Imre & Marne van Opstal. Möchte man beide Werke mit den Philosophien des Westens und Ostens vergleichen, dann zeigt sich doch ein wesentlicher Unterschied. Erinnert man an die französischen Philosophen der Nachkriegszeit wie Michel Foucault, Jacques Derrida, Jean Baudrillard, oder auch Gilles Deleuze, so sind sie alle von großem pessimistischen Existentialismus befangen, ohne wirkliche Zukunftsvisionen anzubieten. Ganz im Gegensatz dazu der asiatische Buddhismus und die große Lehre des Konfuzius, die heute noch das Leben der meisten Asiaten bestimmen. 

Diese beiden Kontraste sind an diesem Abend überdeutlich auf die Bühne gebracht worden. Es lohnt sich, diesen Doppelabend, der noch im Dezember und Januar fortgesetzt wird zu besuchen.

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